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Ungeduldig blickte Maria immer wieder auf die Uhr. Sie durfte die Straße nicht überqueren, bevor Kristina ihr grünes Licht gab. Aber sie konnte nicht mehr still stehen.

Um ihr Herzklopfen zu beruhigen, atmete sie tief durch und beschloss, dass der Zeitpunkt gekommen war, egal was Kristina gesagt hatte. Sie wartete die nächste Lücke im Verkehr ab, dann ging sie eilig über die Straße, durchquerte die Unterführung unter der Spiköbron, blieb am anderen Ende im Schatten verborgen stehen und spähte zur Strömkarlsbron hinüber. Da standen sie, Robert und Kristina, einige Hundert Meter entfernt, aber Maria hätte sie auch noch aus einem Kilometer Abstand erkannt. Sie standen sich direkt gegenüber, fast reglos. Maria wünschte, sie hätte ein Fernglas und eins dieser Richtmikrofone, wie ihre Kollegen sie hin und wieder bei Observierungen einsetzten. Vielleicht hätte sie dann verstanden, was sie sah, denn auf dieses sonderbare Schauspiel zwischen ihren beiden ehemaligen Schulfreunden konnte sie sich keinen Reim machen.

Kristina streckte die Hand aus und schien Robert etwas zu geben. Dann küssten sie sich, woraufhin Kristina sich umdrehte und in Richtung Innenstadt davonging. Robert blieb allein auf der Brücke zurück. Maria begriff nicht, was da ablief, es war völlig absurd. Gerade noch hatte Kristina behauptet, Robert hätte Mira entführt und dass er gefährlich sei, und jetzt verhielt sie sich so, als wären die beiden ein Liebespaar.

Maria wich in die Fußgängerunterführung zurück. Sie zögerte. Sie hatte versprochen, sich nicht zu zeigen, Kristina nicht nachzuspionieren. Ihr Puls raste. Sie presste sich an die Betonwand und lehnte den Kopf zurück, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Was für ein Spiel spielten die beiden?

Maria zauderte eine gefühlte Ewigkeit, doch dann traf sie eine Entscheidung. Sie ging auf die Brücke und lehnte sich über das Geländer, um nachzusehen, wo Robert abgeblieben war, doch der schmale Pfad, der am Flussbett entlanglief, war verwaist. Robert war spurlos verschwunden.

Wo zum Teufel konnte er sein? Sie drehte sich langsam im Kreis. Die Antwort lag vor ihr. Das Tor des Sandsilos, da musste er verschwunden sein. Der Spalt unter dem Tor war breit genug, dass ein Erwachsener sich hindurchzwängen konnte. Andererseits war die Vorstellung, dass Robert in seinem eleganten Anzug und seinem feinen Mantel unter dem Tor hindurchkroch, absurd. Doch irgendwie musste er dort hineingelangt sein. Maria ging zum Silo und rüttelte an Tor und Durchgangstür. Beide waren verschlossen. Als sie einen Schritt zurücktrat, wurde ihr klar, was Kristina Robert gegeben hatte. Vor lauter Verblüffung blieb ihr der Mund offen stehen.

Kristina hatte Robert den Schlüssel zum Silo ausgehändigt.

Maria versuchte sich zu erinnern, ob es noch einen zweiten Ausgang gab. Soweit sie wusste, gab es nur diesen einen Weg. Was bedeutete, dass Robert an derselben Stelle herauskommen musste, an der er hineingelangt war. Sie musste nur warten, dann würde sie ihn zur Rede stellen.