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Der Schlüssel passte. Die Scharniere quietschten, als Robert die Tür aufzog. In dem in den Berg gehauenen Silo war es stockfinster. Robert tastete an der Wand entlang nach einem Lichtschalter. Auf der linken Seite wurde er fündig. An der Decke flackerte eine Neonröhre auf und erhellte einen kurzen Tunnel. Dieser mündete in einen gigantischen Stollen, der groß genug für den Wendekreis eines Lkw war und in dessen Mitte sich ein meterhoher Berg aus feinkörnigem Straßensand türmte. In den Wintermonaten bediente sich hier der städtische Streudienst. Doch jetzt, im Herbst, kam niemand her.

Feine Sandkörner knirschten unter Roberts Ledersohlen, als er tiefer in das Silo hineinging. Was wollte Kristina ihn hier sehen lassen? Einen kurzen Moment erwog er, umzudrehen und ihr nachzulaufen. Aber dafür war es zu spät, er hatte keine Ahnung, wohin sie gegangen war. An der Stelle, wo der Tunnel sich weitete, blieb er stehen und starrte auf den gigantischen Sandberg. Es roch nach feuchter Erde. Von den Lampen hingen Spinnweben herab. Im Wendekreis der Lkws war der Sand von unzähligen Reifenspuren durchzogen. Unter der Stollendecke baumelte eine Schaufel von einem Brückenkran. Alles war auf den bevorstehenden Winter eingestellt.

Doch der Sandberg war wohl kaum der Grund, warum Kristina ihn hierhergeschickt hatte. Robert blickte sich um, bis er in der linken Wand eine Tür entdeckte. Dahinter verlief ein schmaler Gang mit einem kleinen Büro und einer Reihe massiver Eisentüren, die verrieten, dass das Silo im Zweiten Weltkrieg, als Schweden sich in permanenter Kriegsbereitschaft befunden hatte, als Schutzraum gedient hatte.

Langsam ging er an den Türen entlang, fragte sich, was er hier tat, wonach er suchte. Dann hörte er etwas. Eine Stimme.

»Hallo?!«, rief die Stimme.

Roberts Puls schnellte in die Höhe. Es war eine Mädchenstimme. Es konnte nur Mira sein.

»Hallo?!«, antwortete er. »Ist hier jemand?«

Er zog eine der Metalltüren auf und betrat einen winzigen Raum, der einer Gefängniszelle glich. An einer Längsseite stand ein Etagenbett, dem Anschein nach aus alten Militärbeständen, an der Stirnseite befanden sich eine schlichte Toilette und ein Waschbecken. Auf dem Fußboden, neben etlichen leeren Wasserflaschen, stapelten sich Schachteln mit Essensresten. Es roch muffig und unsauber. Auf dem unteren Etagenbett lag eine fleckige Matratze mit einer zusammengeknüllten Decke und einem geblümten Kopfkissen.

Auf der Matratze kauerte ein blondes Mädchen. Als sie ihn sah, richtete sie sich auf und starrte ihn hasserfüllt an. Ihr Anblick verschlug Robert die Sprache. Die Sprungfedern der Matratze quietschten, als sie sich bewegte. Sein Herz quoll über. Dies war seine Tochter, schmutzig und verängstigt, aber heil und gesund. Sie starrte ihn unter verfilzten Stirnfransen hervor an und hob abwehrend die Hände. »Fassen Sie mich nicht an!«, schrie sie.

»Mira?«, stieß er hervor. Sein Herz schnürte sich zusammen. Er hatte sie gefunden. Das zu Tode verängstigte und verwirrte Mädchen auf dem Bett musste Mira sein. Seine Tochter, sofern Kristina die Wahrheit gesagt hatte. Robert machte einen Schritt in den Raum hinein und hob beschwichtigend die Hände.

»Kommen Sie nicht näher!«, rief Mira. Sie hatte Angst, das war nicht zu übersehen. »Wer sind Sie?«

»Ich … Mein Name ist Robert«, sagte er und wich einen Schritt zurück, um Mira keine Angst zu machen. »Ich tue dir nichts, ich möchte dir nur helfen.« Als Zeichen, dass er nicht gefährlich war, hob er abermals die Hände. »Geht es dir gut?«, fragte er.

»Hat sie Sie geschickt?«, fragte Mira.

»Sie?«

»Die Frau, die mich hier eingesperrt hat.«

»Nein. Weißt du, wer diese Frau ist?« Roberts Gedanken überschlugen sich. Kristina? Hielt sie ihre eigene Tochter gefangen? Das klang absolut absurd, aber es war die einzige logische Erklärung. Vor allem, seit sie ihm den Schlüssel gegeben hatte.

Mira schüttelte den Kopf. »Sie bringt mir Essen und zwingt mich, Videos aufzunehmen. Sie flüstert, um ihre Stimme zu verstellen.«

Robert schüttelte den Kopf. »Hat sie dir etwas getan?«

»Nein, noch nicht.«

»Das ist gut. Aber du musst keine Angst vor mir haben, Mira. Ich bin dein Vater.« Der letzte Satz sprudelte unbedacht aus seinem Mund. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, die Worte zurückgenommen, ehe sie Miras Ohren erreichten, doch es war zu spät. Mira hatte keine Ahnung, dass Johan nicht ihr Vater war – wenn es überhaupt stimmte. Es musste stimmen.

Mira hob den Kopf, griff nach seiner Hand und ließ sich von ihm aufhelfen.

»Alles wird gut«, sagte Robert. »Jetzt verlassen wir diesen Ort, und alles wird wieder gut.« Er musterte Mira. Er kam sich vor wie ein Idiot. Für Mira spielte es keine Rolle, ob er ihr Vater war. In ihren Augen war er nur ein fremder Mann, der behauptete, ihr helfen zu wollen. Jemand, vor dem er selbst sie unter anderen Umständen eindringlich gewarnt hätte.

»Sie lügen!«, rief Mira, als sie draußen auf dem Korridor standen. Sie ließ seine Hand los und rannte an ihm vorbei in den Stollen mit dem Sandberg und in Richtung Freiheit.

Roberts Muskeln erstarrten. Die eine Hälfte von ihm wollte Mira nachlaufen, ihr erklären, dass er wirklich nur Gutes im Sinn hatte. Die andere Hälfte von ihm, die, die überzeugt war, dass Mira seine Tochter war, wusste, dass er zuallererst ihr Vertrauen gewinnen musste. Und das würde ihm nicht gelingen, indem er sie jagte. Stattdessen rief er ihren Namen und ging ihr mit langsamen, ruhigen Schritten nach.

Miras Zopf flatterte hinter ihr her, als sie durch den Tunnel zum Tor rannte. Sie rüttelte an der Durchgangstür, bekam sie jedoch nicht auf. Sie musste zu schwer für sie sein. Als er sich ihr näherte, starrte sie ihn voller Angst an. Ihre Augen suchten nach einem Fluchtweg, bis ihr Blick an dem breiten Spalt unter dem Tor haften blieb.

»Keine Angst, ich tue dir nichts«, sagte Robert. Er hörte selbst, wie falsch er klang. Wie ein Axtmörder, der sein Opfer bat, still stehen zu bleiben, während er zum Schlag ausholte. Hast du wirklich nicht mehr auf dem Kasten, Robert? Er ging vor Mira in die Hocke und fasste sie sanft an den Schultern, aber sie begann sich zu wehren und auf ihn einzuschlagen, sodass er ihre Handgelenke packte, damit sie sich beruhigte.

»Lassen Sie mich los!«, schrie sie und trat ihn gegen das Schienbein. Robert schrie auf und fiel auf den Rücken. Mira nutzte die Gelegenheit und kroch unter dem Tor hindurch ins Freie. Robert fluchte innerlich. Das hatte ja wunderbar geklappt. Doch andererseits, solange Mira frei und in Sicherheit war, spielte es keine Rolle, dass sie ihn für gefährlich hielt. Sie konnten die Dinge später klarstellen, wenn Mira zu Hause und zur Ruhe gekommen war.

Er trat hinaus und wurde von einem kalten Regen empfangen. Mira stand einige Schritte von ihm entfernt und kehrte ihm den Rücken zu. Sie starrte Maria an, die an der Wartungsbrücke stand und ebenso beschwichtigend die Hände hob wie er gerade eben. Ihr Lächeln verriet, dass sie versuchte, Mira zu sich zu locken.

Maria! Was tat sie hier? Einen Moment lang konnte er sich ihr unvermitteltes Auftauchen nicht erklären, doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz, und er wunderte sich, dass er es nicht längst durchschaut hatte: Die beiden hatten ihn reingelegt! Ihm hätte klar sein müssen, dass Kristina und Maria gemeinsame Sache machten, als sie Annas Grab geöffnet hatten. Kristina hatte ihn manipuliert, und Maria hatte bewiesen, dass sie zu Dingen imstande war, die er niemals für möglich gehalten hätte. Außerdem hatte Mira gesagt, eine Frau hätte sie entführt, aber nicht ihre eigene Mutter erkannt. Also musste Maria Mira in ihrem Gefängnis versorgt haben. Das erklärte, warum sie hier war, nachdem Kristina ihm den Schlüssel für das Silo gegeben hatte. Sie hatten ihn in eine Falle gelockt.

So musste es sein.

Dennoch nagte ein leiser Zweifel in seinem Hinterkopf.

Er konnte dem nicht weiter nachspüren, denn in diesem Moment ging Maria in die Hocke und breitete die Arme aus. »Komm her zu mir, Mira«, lockte sie.

»Nein!«, schrie Robert. »Sie ist gefährlich!«

Für den Bruchteil einer Sekunde wanderte Marias Blick von Mira zu ihm. Die Abscheu, die sie für ihn empfand, war nicht zu übersehen. »Hör nicht auf ihn«, sagte sie. »Bei mir bist du in Sicherheit.«

Mira blieb zwischen ihnen stehen und sah Robert an. Ihre hellen Augen durchbohrten ihn wie Speerspitzen. Er stand mit offenem Mund da, unfähig, etwas zu sagen, er schüttelte nur stumm den Kopf, in der Hoffnung, die Verzweiflung in seinem Blick würde Mira zu verstehen geben, dass Maria log, dass von ihr die Gefahr ausging, nicht von ihm. Er trat einen Schritt vor und streckte ihr bittend die Hand entgegen.

Er und Maria glichen zwei Hundebesitzern, die denselben Welpen anlockten. Miras Blick flackerte. Sie schien weder ihm noch Maria zu trauen. Unvermittelt löste sich ihre Erstarrung. Sie machte einige schnelle Schritte zur Seite und schwang sich über das niedrige Tor zur Wartungsbrücke oberhalb des Wasserfalls.