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»Mira!«, rief Robert, als Mira auf die Wartungsbrücke kletterte. Er machte Anstalten, ihr zu folgen, doch als er das graugrüne Wasser sah, das unterhalb der halb geöffneten Dammschleuse toste, stockte er.

Der Regen steigerte sich zu einem Wolkenbruch. Marias Gesicht glänzte vor Nässe, und ihre Pagenfrisur klebte in tropfenden Strähnen an ihrem Kopf. »Ich wusste die ganze Zeit, dass du dahintersteckst«, sagte sie und deutete anklagend auf ihn. »Aber ich lasse nicht zu, dass du Mira noch mehr Schaden zufügst.«

Robert zögerte. Marias Reaktion passte nicht zu seinen Schlussfolgerungen. Sie schien im Gegenteil überzeugt zu sein, dass er Mira entführt hatte. Das ergab keinen Sinn, es sei denn … Er drehte sich zu Maria um, hob die Hände und hoffte, dass sie es als beschwichtigende Geste verstand. »Hör mir zu«, sagte er.

Mira verharrte auf der anderen Seite des Tors und starrte sie an wie ein paralysiertes Reh im Scheinwerferlicht.

In Marias Augen lag ein unbehagliches Funkeln, als sie ihn ansah, dasselbe Funkeln wie in dem Moment, als sie Eriks Kopf unter Wasser gedrückt hatte. Gerade schien keine unmittelbare Gefahr von ihr auszugehen, aber er wagte nicht, sie noch einmal zu unterschätzen.

»Ich weiß nicht, was Kristina dir erzählt hat, damit du glaubst, ich hätte Mira entführt«, fuhr er fort und schielte dabei aus dem Augenwinkel zu Mira, damit sie begriff, dass nicht er ihr Peiniger war.

»Ich habe euch gesehen!«, rief Maria. »Es ist genau wie früher. Ihr beiden habt schon immer unter einer Decke gesteckt, aber damit ist jetzt Schluss!«

»Ich habe keine Ahnung, was du gesehen zu haben glaubst«, erwiderte Robert. »Aber bis gerade eben habe ich geglaubt, du hättest Mira entführt. Jetzt weiß ich, dass sie dahintersteckt.«

»Halt den Mund!«, schrie Maria und trat einen Schritt auf ihn zu. »Du lügst. Ich habe gesehen, wie ihr euch geküsst habt. Da drüben!« Sie zeigte auf die Stelle der Brücke, wo Kristina ihm den Schlüssel gegeben hatte. »Erzähl mir nicht, dass es nicht so ist, wie es ausgesehen hat!«

Robert gab sich Mühe, die Ruhe zu bewahren. »Glaub mir, bis vor ein paar Minuten hatte ich keine Ahnung vom Silo. Du weißt, wie sie ist. Diese Situation ist vermutlich genau das, was sie erreichen wollte. Kapierst du nicht, dass sie uns gegeneinander ausgespielt hat?«

Maria lachte laut, die Wangen regenüberströmt. Die kalten Wassermassen durchnässten auch seine Kleidung, der Stoff klebte ihm kalt am Körper. Mira starrte sie beide unverwandt an. Ihre Finger, mit denen sie die Metallstreben des Tors umklammerte, waren weiß vor Kälte.

»Du musst mir nicht glauben.« Robert hob die Hände und deutete auf Mira. »Das Spiel ist vorbei. Die Details können wir später klären. Das Einzige, was wir jetzt tun müssen, ist, Mira in Sicherheit zu bringen.«

»Es ist nicht vorbei, Robert.« Maria schüttelte den Kopf. »Verstehst du das nicht? Es wird nie vorbei sein, solange wir leben.«

Plötzlich nahm Robert ein Licht im Augenwinkel wahr und wandte den Blick in Richtung Fußgängerunterführung. Ein Wagen rollte den Gehweg hinunter. Blaulicht flackerte durch den dichten Regen. Auch vom anderen Ende der Strömkarlsbron, aus Richtung Innenstadt, näherte sich Blaulicht. War Maria so dämlich gewesen, die Polizei zu rufen? Behutsam ging er auf Mira zu. Das Mädchen ließ das niedrige Tor los und wich weiter auf der Stahlnetzbrücke zurück. »Die Polizei ist auf dem Weg«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Streifenwagen.

Marias Blick flackerte. Sie stand da wie ein lebendiges Fragezeichen. Also hatte nicht sie die Polizei alarmiert. Verstand auch sie langsam, was hier gespielt wurde? Aber wenn nicht Maria die Polizei gerufen hatte, wer dann? Kristina? So musste es sein.

»Bleib ganz ruhig«, sagte Robert. »Ich spreche mit der Polizei, wenn du dich um Mira kümmerst.«

»Nie im Leben«, entgegnete Maria. »Du willst ihnen nur weismachen, ich hätte Mira entführt.« Sie sah sich um. »Aber das Spiel kann ich auch spielen.«

Der erste Streifenwagen hielt an, und die Türen gingen auf. Robert hatte keine Zeit für Diskussionen, er musste Mira in Sicherheit bringen. Er ließ Maria stehen und schwang sich rasch über das Tor der Stahlnetzbrücke, doch in dem Moment, als er die Füße aufsetzte, packte Maria ihn am Handgelenk. Robert verlor den Halt und schlug der Länge nach hin. Maria sprang über das Tor und war über ihm, bevor er wieder aufstehen konnte. Sie setzte sich rittlings auf seinen Brustkorb, packte ihn bei den Mantelaufschlägen und blickte ihm fest in die Augen. Mira drehte sich um und rannte über die Brücke auf die beiden Polizeibeamten zu, die aus Richtung Innenstadt kamen. Ihre schnellen Schritte brachten das Metall zum Klingen.

»Ich habe ihn!«, rief Maria triumphierend, dann zog sie sein Gesicht zu sich heran. Sie war stärker, als er erwartet hatte. »Ihr werdet für etliche Jahre hinter Gitter wandern, du und deine verlogene Geliebte.«

Roberts Herz hämmerte gegen seine Rippen. Er hörte, wie Mira um Hilfe rief. Er wandte den Blick von Marias wütend funkelnden Augen ab und sah, dass Mira über das Tor am anderen Ende der Wartungsbrücke kletterte und auf die Strömkarlsbron sprang. Sie wäre bald in Sicherheit.

»Es tut mir leid, dass es so enden muss«, sagte er. Dann holte er tief Luft und rief, so laut er konnte, um Hilfe.

»Polizei!«, erklang eine Stimme. »Lassen Sie den Mann los!«

»Was soll das?« Maria packte ihn wieder bei den Mantelaufschlägen.

»Du hast Erik ermordet«, keuchte er. »Ich sorge dafür, dass du dafür in den Knast wanderst.« Die Polizeibeamten kamen näher, ihre eiligen Schritte ließen die Stahlnetzkonstruktion erzittern.

»Ich reiß dich mit in den Abgrund«, zischte Maria. »Ich erzähle alles. Alles, hörst du?«

»Sie werden dir nicht glauben«, erwiderte Robert. »Denn ich weiß etwas, was du nicht weißt.«

»Lassen Sie den Mann los!«, wiederholte einer der Polizeibeamten, die jetzt im Regen auftauchten. Zwei schemenhafte Gestalten mit gezückten Dienstwaffen. Die auf die einzige Person zielten, die eine Gefahr darstellte.

»Ich kann Mira nicht entführt haben.« Robert hob den Oberkörper und raunte Maria die letzten Worte ins Ohr. »Denn Mira weiß, dass sie von einer Frau entführt wurde.« Dann sank er zurück, um Maria in die Augen zu sehen, wenn ihr aufging, dass die Polizei wegen ihr gekommen war. Sie presste die Kiefer aufeinander, nickte, ließ ihn los und stand mit erhobenen Händen auf. Robert drehte sich um und kam auf die Beine. Er atmete aus, es war vorbei.

Der erste Polizeibeamte schob seine Waffe zurück ins Holster und schickte sich an, Maria festzunehmen, als diese sich unvermittelt nach vorn warf, Robert um den Hals packte und ihn mit sich zu Boden riss. Vor den Füßen der Polizisten rollten sie über das Stahlnetz. Robert bekam keine Luft, und in seinem Nacken knackte etwas, als er mit dem Hinterkopf auf das Metall schlug. Maria verstärkte den Klammergriff um seinen Hals, rollte sich zur Seite weg, unter dem Geländer der Brücke hindurch und riss ihn mit sich in den Abgrund.

»Für Anna«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Ihre Worte verschwanden nahezu im Tosen des Wasserfalls. Aber Robert hörte sie. Und verstand.