Kristina ließ Johan allein und ging in ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich an den Computer und öffnete das Word-Programm. Das Manuskript ihres neusten Romanprojekts Pechvögel leuchtete ihr entgegen. Ihre Hand wanderte zum Griff der Schreibtischschublade, und einen Augenblick später standen ein verschmiertes Glas und eine halb leere Flasche Wodka neben der Tastatur.
Kristina goss das Glas voll und trank ein paar große Schlucke. Der Wodka brannte in ihrer Kehle, und sie spülte das Brennen mit einem weiteren Schluck hinunter. Der Schein des Monitors brach sich in der Flüssigkeit, die ihr verführerisch zuzwinkerte. Hustend streckte sie die Hand nach der Flasche aus. Doch dieses Mal gelang es ihr, die Finger zur Faust zu ballen und ihre Hand zurückzuziehen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Diesmal durfte der Alkohol nicht gewinnen. Dann würde alles den Bach runtergehen.
Die Flasche und sie lebten in einem toxischen Verhältnis. Hin und wieder schaffte sie es, das Verhältnis lange genug zu beenden, um etwas zu Papier zu bringen. Doch die Flasche war ein hartnäckiger Liebhaber, und es dauerte nicht lange, bis sie wieder miteinander im Bett landeten. Nach außen hin gelang es ihr meist, den Anschein zu erwecken, Johan sei ihre einzige Liebe. Die Flasche wusste es besser.
Kristina legte die Finger auf die Tastatur und begann zu tippen. Es war nicht ihr bestes Werk, aber das spielte keine Rolle. Sie musste jetzt schreiben, mehr denn je. Sie musste ihren Körper verlassen, der unerträglichen Realität entfliehen und sich im Text unsichtbar machen. Wenn sie im Schreibfluss war, konnte sie in den Lücken zwischen den Worten Zuflucht suchen. Verlor sie den Halt, war es die Flasche, die sie zu neuen Abenteuern verführte, Drama forderte und Aufmerksamkeit.
Sie lebte mit einem Fuß in der realen und mit dem anderen in einer völlig anderen Welt. Ihr Quäntchen Glück bestand darin, dass fremde Menschen dafür zahlten, an ihren Fantasien teilzuhaben und sie in Form von Büchern, Hörbüchern und Verfilmungen konsumierten.
Die Worte nahmen auf der weißen Seite Gestalt an und bildeten den Anfang einer vollkommen abwegigen Geschichte. Abwegiger als die unvorstellbarsten wahren Verbrechen, die sie zu Fiktion wandelte, aber was machte das schon? Diesmal hatte sie ihre üblichen Recherchen durch etwas ersetzt, das ihr am Herzen lag. Tränen stiegen ihr in die Augen. Schon auf der ersten Seite hatte sie klargestellt, dass das Opfer ein kleines wehrloses Mädchen war. Dass die Person, die es in der Gewalt hatte, ein kranker Perversling sein musste. Abgedroschener ging es kaum. Trotzdem lächelte sie. Sie würde das ausgelutschte Klischee als Ausgangspunkt verwenden, um die Neugier ihrer Leser mit etwas weitaus Finstererem zu konfrontieren.
Kristina griff nach ihrer Kladde und notierte einige lose Ideen. Der Schlüssel, den sie als Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt hatte, fiel klirrend zu Boden. Sie hob ihn auf, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und ließ ihn gedankenverloren vor dem Gesicht baumeln. Als sie vor einigen Jahren einmal für ein Buch spezielle Recherchen hatte anstellen müssen, hatte die Gemeinde ihr den Schlüssel ausgehändigt, ihn aber nie zurückgefordert. Seufzend beugte sie sich zum Bildschirm und las, was sie geschrieben hatte. Der Text starrte zurück wie ein Spiegelbild. Sie verabscheute sich wegen ihrer makabren Gedanken, und einen Moment lang wünschte sie, sie besäße nicht die Fähigkeit, sie in Worte zu kleiden.
Menschen wie sie verdienten es nicht zu leben. Kristina schluckte krampfhaft. Ihr Blick verharrte abermals auf der Flasche. Die destruktiven Gedanken kehrten stets zurück, weder Schreiben noch Alkohol vertrieben sie. Ihr Herzschlag pumpte den Alkohol in ihre Blutbahn und erfüllte sie mit Scham, Schuld und Angst. Sie war da gewesen, als es passierte. Die Lüge war ihre Idee gewesen. Kristina schlug die Hände vors Gesicht und ließ ihren Tränen freien Lauf. Es musste aufhören.
Das Wort sterben leuchtete ihr vom Bildschirm entgegen, brannte sich auf ihrer Netzhaut ein und kitzelte ihr Reptilienhirn. Die Schuldigen würden sterben. Dafür würde sie sorgen. Doch zuerst mussten sämtliche Charaktere auf die Bühne.