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Miras gleichmäßige Atemzüge drangen an Kristinas Ohr und legten sich wie Watte um ihr Herz. Sie ordnete die frisch gewaschenen Locken ihrer Tochter, stand von der Bettkante auf und sah sich in Miras Zimmer um.

Die ersten Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und wärmten den weichen Teppich. Trollhättan erstreckte sich auf der anderen Flussseite, als wäre in der vergangenen Woche rein gar nichts geschehen. Sonnenlicht glitzerte im Hafenbecken, Fußgänger flanierten die Uferpromenade entlang.

Lächelnd atmete sie die stickige Zimmerluft ein. Sie hatte so oft hier gestanden, hatte so viel vom Duft ihrer Tochter eingeatmet wie nur möglich, während Mira in dem Schutzraum eingesperrt gewesen war, und gehofft, dass ihr Plan schnell aufgehen würde. Das hatte er getan, wenn auch nicht ganz so schnell wie erhofft. Mira war fast genau sieben Tage nicht zu Hause gewesen. Sieben Tage voller Schuld und Angst für Kristina. Wobei es Mira kaum besser ergangen war. Doch trotz der Qualen, die sie beide ausgestanden hatten, war es die Sache wert gewesen.

Die Polizei war genau zum richtigen Zeitpunkt am Sandsilo eingetroffen. Robert hatte Mira befreit, und auch Maria hatte ihre Rolle erfüllt, unerwartet, aber passend. Eigentlich hatte ihr Ausgang der Geschichte vorgesehen, dass Robert seine Hände mit Blut besudelte und sie selbst Mira befreite, aber dass es anders gekommen war, fiel nicht weiter ins Gewicht.

Die Polizei hatte Roberts und Marias zerfetzte Körper aus dem Wasser geborgen. Die Strömung hatte sie halbwegs bis Lilla Edet getrieben. Seit dem dramatischen Ende von Miras Entführung hatten die Medien Kristina in Ruhe gelassen. Fernsehleute und Paparazzi waren längst auf der Jagd nach neuen Sensationsmeldungen. Vielleicht würden sie nicht lange warten müssen. Sobald Anna Fridhemssons sterbliche Überreste identifiziert waren und ihr Vermisstenfall neu aufgerollt wurde, würde die Presse womöglich auch wieder vor ihrer Tür stehen, doch über dieses Problem könnte sie sich immer noch Gedanken machen, wenn es so weit war. Niemand errichtete bessere Lügengebäude als Kristina Stare, und die anderen drei Pechvögel konnten ihr nicht mehr gefährlich werden.

Sie war endlich frei.

»Liebling?«, erklang Johans zögernde Stimme in der Tür. Kristina antwortete nicht, blickte weiter schweigend aus dem Fenster, während Johan an sie herantrat und von hinten die Arme um ihre Taille schlang. Mit dem Daumen streichelte sie seinen Handrücken. Johan vergrub die Nase in ihrem Nacken und flüsterte: »Schläft sie noch immer?«

»Ja«, sagte Kristina.

»Ich bin so froh, dass sie heil und gesund wieder zu Hause ist.«

Kristina nickte.

»Wie konnten sie das tun?«, fragte Johan. »Wie kann man ein kleines Mädchen einsperren und gefangen halten?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin nur heilfroh, dass sie ihr nichts angetan haben. Mira wird darüber hinwegkommen. Es wird dauern, aber sie wird es verarbeiten«, antwortete Kristina, während Johans Worte in ihr widerhallten. Wie kann man ein kleines Mädchen einsperren und gefangen halten? Wie hatte sie ihr eigenes Kind einsperren und gefangen halten können? Weil es notwendig gewesen war.

Damit ihre Vergangenheit ihr keine Fallstricke mehr legen konnte. Damit sie, die True-Crime-Königin von Schweden, daraus den Stoff für ein neues Buch machen konnte, ein Buch über vier Freunde, eine Entführung und ein schreckliches Geheimnis, das ihr Leben seit fünfundzwanzig Jahren überschattete.

Behutsam wand Kristina sich aus Johans Umarmung und blickte zu Mira, die sich im Schlaf umdrehte. Sie nahm Johans Hand und führte ihn aus dem Zimmer.

Auf dem Flur schluckte sie den Kloß in ihrem Hals herunter, gab Johan einen Kuss und ging in ihr Arbeitszimmer, wo sie sich an den Computer setzte, das Romanmanuskript öffnete und den Text betrachtete, den sie geschrieben hatte. Er kam ihr uninspiriert und klischeebeladen vor. Sie brauchte eine bessere Einleitung, etwas, das die Leserschaft von der ersten Zeile an in den Bann zog. Kristina sprang mit dem Cursor an den Anfang des Dokuments, und ehe sie wusste, wie es zuging, hatte sie zwei Worte getippt, mit denen ihres Wissens noch nie ein Buch begonnen hatte.

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