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Kopfschmerzen – hoofdpijn

Samstagnacht

Ich starrte den Rücklichtern nach, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Jan im Wagen der niederländischen Polizei, als wäre er der Mörder. Ich kniff mir in den Arm. Das hier war wirklich. Keine Täuschung, kein Traum – und doch musste es eine Trübung der Wahrnehmung sein, ein Missverständnis.

Vertrau mir.

Ich liebe dich!

Die Nackenhaare stellten sich mir auf. Friss-oder-stirb-Sätze. Glaubenssätze. Und das mir. Ich, die nie etwas glaubte, die Fakten brauchte, um glauben zu können. Faktenbasiertes Glauben, das hieß Wissen. Vor ein paar Stunden noch beim Blick auf das Foto, das Jan mit Arusha zeigte, war ich überzeugt gewesen, dass er mich mit ihr betrogen hatte. Und jetzt? Mich fröstelte.

Sollte ich Jan glauben oder Lena? Aus welchem Grund sollte Lena lügen? Welches Wissen war das falsche? An welchem sollte ich festhalten, welches loslassen? Sollte ich meditieren und auf eine Eingebung hoffen?

Vertrau mir, ich liebe dich – änderten diese beiden Sätze etwas? Vielleicht alles?

Langsam drehte ich mich um. Vor mir erhob sich das Gebäude des Yogazentrums, eine trutzige dunkle Burg. Es gab keinen Lichtschalter zur Erleuchtung. Nein, ich würde noch einmal tief durchatmen und dann hineingehen und meinen Verstand benutzen. Das hätte ich von Anfang an tun sollen.

Ich klaubte Jans Autoschlüssel von der Bank und schrieb ihm eine Nachricht auf dem Smartphone, dass ich seinen Schlüssel hatte. Dann stopfte ich Schlüssel und Handy in meinen Rucksack und ging zum »ZeeOm«.

Das Yogazelt auf der Wiese lag verwaist da, und auch die Trink-Yogis im Innenhof waren verschwunden. Nur Max hielt die Stellung. Er saß an der Rezeption und stierte mich an, als würde ich gleich wieder eine Leiche aus dem Hut zaubern. Als er meinen Blick bemerkte, wurde er rot. Wie ein Schuljunge.

Sofort kam ich mir alt vor und müde, im Stich gelassen – nur von wem? Jan hatte die beiden Schwestern und das Kind hierhergefahren, aber hatte er auch bleiben wollen? Zumindest das ließ sich klären.

Ich trat an den Tresen. »Kannst du mal schauen, ob ein Jan Luhdo als Gast gemeldet ist?«

»Hm.« Der junge Yogi sah von rechts nach links, aber es war niemand da, der ihm die Entscheidung abnehmen konnte.

»Bitte. Ich kenne Jan und will nur wissen, auf welchem Zimmer er ist.« Meine kleine Notlüge konnte bei der immensen Menge an schlechtem Karma, das aufgrund des Mordes hier herrschen musste, schwerlich ins Gewicht fallen.

Max sah auf die Ablage vor sich und schien zu überlegen. Dann streckte er die Hand nach dem Ordner mit den Anmeldungen aus, verharrte aber in der Bewegung.

»Bitte, Max.«

Er nahm den Ordner und schlug ihn auf. Mit gerunzelter Stirn ließ er den Finger über das Register wandern, bis er bei L ankam. Er sah auf.

»Luhdo«, wiederholte ich und ballte die Hand. Wenn er nicht gleich die Seite aufschlug, würde ich ihm den Ordner entreißen müssen.

Er blätterte, las vor. »Ledacher, Lochmann, Lukner.« Sein Finger bewegte sich wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. »Kein Luhdo bei Cahaya-Yoga.«

»Und in einem der anderen Kurse?« Ich beherrschte mich nur mühsam. »Habt ihr keine Gesamtgästeliste? Ihr müsst doch wissen, wer welches Zimmer hat.«

»Nee, waarom? Das steht doch auf dem PC.« Gemächlich ließ Max die Schultern kreisen, bevor er in aller Gemütsruhe anfing, die Blätter im Ordner wieder zurückzuschlagen.

Sprachlos sah ich ihn an. Hatte die Erleuchtung sein Hirn weggebrannt? Der Typ verarschte mich doch. Jetzt klappte er den Ordner zu und stellte ihn wieder an seinen Platz.

»Kannst du dann bitte im PC nachsehen?« Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden.

Erstaunlicherweise nickte er, nahm die Maus und rief eine Suchmaske auf.

»Luhdo«, wiederholte ich sicherheitshalber, »mit h. Ludwig, Ulrich, Heinrich, Dieter, Otto.«

Er gab den Namen ein. »Kammer A01. Das ist eine von den familiekamers im ersten Stock.«

»Familienzimmer?« In mir zog sich etwas zusammen. »Ganz sicher? Kein Einzelzimmer?«

»Nein, die familiekamers haben extra zwei Räume.« Er schaute auf den Bildschirm. »Hey, das ist doch die Kammer von der Toten!«

»Verdammt«, flüsterte ich.

Max sah mich an. Seine Augen wurden rund. »Das ist der Mörder, stimmt’s? Der Typ, den die Polizei gerade geholt hat.«

»Nein«, fauchte ich. »Sie haben den Falschen.«

»Echt jetzt?«, stammelte Max und sah sich um, als würde gleich der wahre Täter auftauchen. »Hast du den Mörder gestern Nacht gesehen?«

»Nein. Ach, vergiss es.« Ich presste die Fingernägel in die Handballen, bis es wehtat. So kam ich nicht weiter. Ich riss mich zusammen. »Tut mir leid, ich bin gerade ziemlich durch den Wind. Danke für deine Hilfe.«

Langsam ging ich Richtung Gästetrakt. Jan im Yogazentrum – es wollte mir nicht in den Kopf. Mountainbiken, Brandungskajaken, Kitesurfen, je abenteuerlicher, desto besser. Judo, Karate, vermutlich würde er sich auch zu Kickboxen überreden lassen, aber ruhig im Schneidersitz auf der Matte sitzen und atmen, nein, das passte hinten und vorn nicht.

Ich kam am Aufzug vorbei, entschied mich aber fürs Treppenhaus. Als ich den ersten Stock erreichte, zögerte ich. Hier lagen die Familienzimmer, hatte Max gesagt.

Kurz entschlossen zog ich die Tür zum Flur auf. Zimmer A01 war gleich das erste. Ich starrte auf die Tür. Hatte Jan tatsächlich vorgehabt zu bleiben, es sich dann aber anders überlegt, als er hörte, dass ich mit Miriam herkam? Oder hatte Arusha ihn mit dem Zimmer überraschen wollen und es war, wie er sagte? Er hatte die drei nur hergefahren, eine Gefälligkeit.

Ich seufzte. Klammerte ich mich jetzt schon an den letzten, noch so kläglichen Strohhalm?

Hinter der Tür hörte ich die Wasserspülung. War Lena noch auf?

Ich trat näher. »Lena?«

Die Klinke bewegte sich, und mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür. Lenas Mann steckte den Kopf aus dem Zimmer. »Pst.« Er legte den Zeigefinger vor den Mund und kam heraus. Dann nahm er mich am Arm und zog mich zum Turm am anderen Ende des Gangs. Hier waren wir weit genug vom Zimmer entfernt, um nicht zu stören.

»Entschuldige, ich –«

»Sie haben ihn«, unterbrach mich Björn. »Dieser Jan hatte doch wahrhaftig den Nerv, hierher zurückzukommen.«

»Ich weiß«, sagte ich leise und sah aus dem schmalen Fenster, das etwas von einem Schießschacht hatte, blickte auf den Wassergraben und den Weg, wo ich kurz zuvor Jan voller Hoffnung begrüßt hatte. Ich wandte mich wieder Björn zu. »Ich glaube, da liegt ein riesiges Missverständnis vor. Jan wohnt zwar bei Arusha, aber ihr Freund ist er nicht.«

»Na ja, wenn ein Mann und eine Frau sich eine Wohnung teilen …« Björn hob die Hände.

»Deswegen müssen sie doch kein Paar sein. Außerdem wollte Arusha aufs Land ziehen, habe ich gehört. Das würde Jan nie machen.«

»Was?«, rief Björn. Erschrocken sah er zur Zimmertür, aber es blieb still, sein lauter Ruf unbemerkt. »Sie ist gerade erst nach Essen gezogen«, stotterte er.

»Kanntet ihr euch gut?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber du bist dir sicher, dass Jan und sie zusammen waren?« An seinem Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass ich nervte, doch es war mir egal. »Kann ich vielleicht kurz mit Lena sprechen?«

»Sie schläft, Gott sei Dank. Ich habe sie überreden können, ein Beruhigungsmittel zu nehmen. Wenn sie hört, dass die Polizei den Mörder hat, geht es ihr bestimmt bald besser.« Björn sah sich um. »Und wir können endlich hier weg. Sie wollte nicht fahren, solange sie den Täter nicht haben.«

»Aber sie haben den Falschen.«

»Nicht so laut«, zischte Björn. »Natürlich war er es. Auf der Flucht haben sie ihn geschnappt. Das sagt doch alles. Warum sollte er abhauen, wenn er es nicht war?«

»Jan wollte nicht fliehen. Ganz im Gegenteil.«

Björn hob die Schultern. »Das haben sie hier auf dem Flur aber so erzählt.«

»Trotzdem stimmt es nicht. Er ist freiwillig mitgegangen. Ich war doch dabei.« Müde rieb ich mir übers Gesicht. »Sag mal, weißt du, ob Jan hier übernachten wollte?«

»Ich … ähm … keine Ahnung.«

Das hatte ich mir schon fast gedacht. Egal, dann würde ich morgen Lena danach fragen.

»Danke und gute Nacht«, sagte ich leise und schlich zurück über den Gang ins Treppenhaus. Ich schleppte mich die Stufen nach oben, wurde mit jeder langsamer, bis ich endlich die Tür zu unserer Etage erreichte. Auf Augenhöhe klebte ein Blatt:

»Ik zie iets wat jij niet ziet, en dat is waar. Jij ziet alleen wat je wilt zien, en dat is fout. – Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist wahr. Du siehst nur, was du sehen willst, und das ist falsch. Ene mene meck, so bleibt die Wahrheit weg.«

Wer hängte nur so etwas auf? Und was sollte das nun wieder heißen? Das war doch ausgemachter Schwachsinn. Dennoch wirbelten in meinem Kopf die Gedanken los. Sah ich etwas in Jan, das er nicht war? Sah ich nicht, wie er war, weil ich es nicht sehen wollte?

Hinter mir flackerte das Licht. Verdammt, was stand ich hier rum und fischte im Trüben? Diese Sprüche waren bescheuert, sie verschleimten mein Hirn. Warum las ich sie überhaupt?

Ich zerrte die Tür zum Flur auf und ging zu unserem Zimmer. Sachte klopfte ich und probierte die Klinke. Abgeschlossen.

Ich klopfte erneut. »Miri?«

»Moment!« Ich hörte sie rumoren, dann klackte es im Schloss, und die Tür ging auf. »Hey, ich habe schon überlegt, ob ich einen Suchtrupp losschicken sollte, aber ich … was ist passiert?«

Ich sah sie nur an.

»Du hast mit Jan gesprochen.«

Jetzt nickte ich.

»Scheiße, hatte er was mit ihr, habt ihr Schluss gemacht?« Mitfühlend zog sie mich ins Zimmer.

In meiner Brust wurde es eng. Verflucht, jetzt kamen mir auch noch die Tränen. Mitgefühl habe ich noch nie vertragen. Ich schniefte und floh ins Bad. Miriam ließ mir gerade genügend Zeit für eine Ladung kalten Wassers. Dann holte sie mich aus dem Bad heraus. Wortlos schob sie mich zu ihrem Bett, stopfte mir ein Kissen in den Rücken und hockte sich neben mich. Licht aus und reden.

»Die Polizei hat Jan mitgenommen.«

»Und was sagt er?«

»Dass er zwar mal was mit ihr hatte, aber jetzt nicht mehr«, flüsterte ich.

»Was? Jan hat Arusha gekannt? Woher denn?«

»Arusha ist Selma, die Freundin von früher, bei der er in Essen untergekommen ist.«

Miriam drückte mich still.

»Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Jan sah so fertig aus vorhin. Wenn er nichts mit ihr hatte, dann würde ihn ihr Tod doch nicht so mitnehmen, oder?« Mein Herz klopfte, als wollte es aus mir herausspringen. »Meinst du, er hat … ich meine, vielleicht sagt er nicht, wo er war, weil er …«

»Süße.« Miriam hielt mich fest. »Du glaubst doch nicht etwa, dass Jan sie umgebracht hat?«

Ich zuckte zusammen. »Nein, natürlich nicht«, sagte ich leise. »Ich frage mich nur, wie sicher man sich sein kann.«

Für eine Weile saßen wir nebeneinander auf dem Bett, so wie früher, wenn einer von uns etwas Schlimmes widerfahren war, und hielten uns einfach nur in den Armen. Dann richtete ich mich auf.

»Vielleicht hat er mich mit ihr betrogen – oder mit einer anderen, vielleicht ist sie verheiratet, und er will es deswegen nicht sagen. Aber umgebracht hat er Arusha nicht. Wenn es ein Unfall gewesen sein könnte. Sie stolpert, fällt blöd … aber wie soll man so fallen, dass man seinen Hals zufällig in einem Gurt verheddert? Nein, mit dem Mord hat er nichts zu tun.«

Oder doch?, flüsterte es leise in meinem Hinterkopf. So sicher ich mich auch gab, die zweifelnde Stimme in mir brachte ich nicht zum Schweigen.