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Ingwertee und Linsendal – gemberthee en linzendal
Sonntagmittag
Beinahe rannte ich durch den Flur. Nun sollte also ich Arusha umgebracht haben, weil ich theoretisch ein Motiv hätte haben können? Ich knirschte mit den Zähnen. Das war absurd und verrückt und lächerlich. Einfach nur grotesk. Armselig. Als Nächstes würden sie mir erzählen, dass Jan nicht mich mit Arusha, sondern Arusha mit mir betrogen hätte. Die hatten sie doch nicht mehr alle.
Ich kam an der Rezeption vorbei, hörte das Klappern von Geschirr und eilte weiter Richtung Speisesaal. Hoffentlich saß Miriam noch dort. Ich brauchte dringend moralische Unterstützung. Allerdings war es schon reichlich spät, erkannte ich, als ich das geplünderte Büfett erblickte.
Eine Küchenhilfs-Yogini kippte gerade den letzten Rest Linsendal aus einem der riesigen Töpfe in eine Schale. »Hier, nimm.« Sie drückte mir die Schüssel in die Hand und widmete sich dem nächsten Topf.
Ich war zwar in bester Porzellan-an-die-Wand-werf-Stimmung, wusste aber auch, dass Nahrung Körper und Geist zusammenhielt und ich Halt jedweder Art brauchen konnte. Außerdem knurrte mein Magen. Genauso knurrig wie mein Magen füllte ich mir noch einen Becher mit Tee und balancierte beides auf die Terrasse.
Ein paar Yogis genossen die Mittagssonne, von Miriam jedoch keine Spur. Stattdessen entdeckte ich Lena. Gemeinsam mit Björn saß sie an einem kleinen Tisch an der Mauer vor dem Wassergraben, neben ihnen der Buggy, in dem Aimée schlummerte.
»Hallo.« Lena versuchte sich an einem Lächeln. Der Schlaf schien ihr gutgetan zu haben. Sie sah nicht mehr ganz so bleich aus wie am Vortag. »Hast du schon gehört? Sie haben ihn. Gestern Nacht haben sie ihn geschnappt.«
»Wenn du Jan meinst, er war es nicht.« Ich stellte Schale und Becher auf dem Tisch ab und blies mir die Finger, um sie abzukühlen. »Jan hat ein Alibi.«
»Was?« Lena schlug die Hand vor den Mund. Sofort legte Björn seinen Arm um sie und zog sie zu sich heran, aber Lena schüttelte ihn ab. »Das glaub ich jetzt nicht. Er war es. Er hat sie umgebracht. Er war schon auf der Hinfahrt komisch.«
»Inwiefern?« Meine Stimme klang eigenartig dünn. Kein Wunder, steckte doch mein Herz im Hals und klopfte wie blöde.
»Setz dich.« Lena zog einen freien Stuhl heran. Ich hockte mich auf die Kante, und sie fuhr fort. »Er hat meiner Schwester immer wieder Blicke zugeworfen, wenn sie nicht zu ihm hinsah. Irgendwas stimmte da nicht. Ich hatte gedacht, die beiden hätten sich wegen mir gestritten. Weil ich auch mitgefahren bin.«
»Du hättest dich von mir bringen lassen sollen, so wie ich es vorgeschlagen habe«, brummte Björn. »Ich wäre eine Nacht geblieben und –«
»Dann hätte er sie vielleicht schon auf der Fahrt umgebracht.« Lena schluchzte auf. »Warum habe ich nur nicht nach ihr gesucht, als sie nicht hochkam?«
»Nicht doch.« Erneut versuchte Björn, sie zu sich heranzuziehen, aber sie wehrte ab. Er strich ihr über die Wange. »Einer musste sich doch um das Kind kümmern.«
Ich griff nach der Teetasse und spielte an dem Henkel herum. »Was ist eigentlich mit dem Vater der Kleinen?« Vielleicht war an Miriams versponnenen Theorien doch etwas dran. Oder es hing mit dem Streit zusammen, von dem Haar-in-Flammen erzählt hatte. Auch wenn es darum gegangen war, dass der Unbekannte nicht Manns genug war, um Vater zu sein, wer wusste schon, wie das gemeint war? Und einen Vater musste das Kind ja haben. Fragend sah ich von Björn zu Lena.
»Wieso?« Sie setzte sich auf und sah nach Aimée, die nach wie vor friedlich im Buggy lag und schlief.
»Weiß er Bescheid, dass Arusha tot ist?«
»Keine Ahnung.« Lena wich meinem Blick aus.
Björns Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Wir wissen nicht, wer der Vater ist«, schob Lena schnell nach, bevor er etwas sagen konnte. »Das erfahren wir noch früh genug, hat sie immer gesagt. Aus ihrem Testament.« Wieder schluchzte sie auf.
Björn nahm ihre Hand zwischen seine Hände. Dann sah er mich eindringlich an. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Jan es nicht gewesen sein kann. Ist sein Alibi absolut sicher? Hat die niederländische Polizei ihn gehen lassen?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Er war in Belgien. Es gibt Zeugen. Ich habe selbst mit ihnen – ihr – gesprochen.«
»Du? Warum denn du?« Lena runzelte die Stirn.
Ich schaute auf meinen Linsendal und wusste, dass ich nichts davon würde essen können. Mit einem schalen Geschmack im Mund hob ich den Kopf und sah Lena in die Augen. »Jan ist mein Freund.«
»Aber er ist doch gerade erst bei Selma, ich meine, bei Arusha eingezogen. Sie hatte sich so gefreut, ihn wiedergefunden zu haben. Die beiden hatten sich aus den Augen verloren. Genau wie Arusha und ich. Ich habe mich ja nicht mal an ihren neuen Namen gewöhnt.« Lena sank in sich zusammen. So langsam schien sie zu begreifen. »So ein Arschloch«, flüsterte sie. »So ein gottverdammtes Arschloch.«
»Aber umgebracht hat er sie nicht«, sagte ich leise.
Lena blickte auf. In ihren verweinten Augen glänzten neue Tränen. Sie tat mir leid, aber ich musste sie fragen. »Bist du dir ganz sicher, dass Jan mit Arusha zusammen war, ich meine, so richtig?«
Lena nickte. Sie schluckte, dann hob sie die Hand, zeigte auf mich: »Warum hast du das zugelassen? Du musst doch gewusst haben, dass Jan mit meiner Schwester zusammen war, dass er bei ihr wohnt.« Sie sah mich an, als wäre ich das dreiköpfige Gurtmonster.
»Jein. Ich wusste nicht, dass Arusha Selma war.«
»Ach ja?« Lena zerrte den Buggy ganz dicht zu sich ran, als befürchtete sie, dass ich auch noch das Giraffenkind um die Ecke bringen wollte.
»Ja«, knurrte ich. »Wenn ich jemand umbringen würde, dann doch wohl Jan. Immer vorausgesetzt, er hat mich tatsächlich mit deiner Schwester betrogen. Allerdings wäre ich nicht so blöd, es an einem Ort zu tun, wo viele Menschen rumrennen. Da könnte ich ihn gleich an den Kölner Hauptbahnhof bestellen und ihn dann vor den Zug stoßen. Nicht sonderlich einfallsreich, aber es wäre ja auch mein erster Mord.«
Lena und ich sahen uns an. In ihren Augen flackerte etwas auf. Hielt sie mich ernsthaft für die Mörderin?
Björn räusperte sich. Ein Schatten fiel über den Tisch. Ich fuhr herum.
»Hallo.« Jans Stimme klang rau.
Genauso rau wie ich mich fühlte.
Er schaute Lena an. »Ich kann es nicht glauben. Es tut mir leid. Kann ich irgendwas für dich oder Aimée tun?«
»Warum?« Lena nickte zu mir rüber.
Abrupt stand Björn auf. »Lass uns gehen«, sagte er und schob sich vor Lena. Wollte er sie vor Jan und mir schützen oder uns vor ihr?
»Mama?« Aimée bewegte sich, und Lena beugte sich zu ihr hinunter. Die Kleine wimmerte, war dann aber wieder still. Björn legte einen Arm um Lena und zog mit dem anderen an dem Buggy.
»Lass.« Lena nahm den Buggy und schob ihn zum Gebäude. Ihre Schultern bebten. Hilflos trottete Björn hinterher.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Dann sah ich zu Jan und verschränkte die Arme vor der Brust, damit mein Herz nicht abhauen konnte, nachdem es sich durch die Brust gehämmert hatte. »Sie dachten, du warst es. Du hättest Arusha umgebracht. Und sie sind sich sicher, dass du ihr Freund warst.«
»Verdammt.« Jan rieb sich mit den Händen übers Gesicht und sah mich dann an. »Ich war es nicht.«
»Ich weiß, dass du sie nicht umgebracht hast – nicht umgebracht haben kannst. Deinetwegen bin ich extra nach Knokke gefahren und habe mit deinen Surffreunden gesprochen. Surffreundinnen, sollte ich wohl sagen. Die liebe Corrie, die immer ein offenes Ohr für ihren alten Freund hat.«
Er hockte sich auf einen Stuhl und musterte mich. »Geht das Ganze jetzt mit Corrie los?«
Ich hob die Schultern, ließ sie wieder sinken. »Ich habe mir Sorgen gemacht, Jan. Warum hast du mich nicht angerufen, nachdem die Polizei dich hat gehen lassen?«
»Du machst dir immer Sorgen, Freddie.« Jan schüttelte den Kopf. »Ich war müde und fertig. Ich konnte nicht mehr klar denken und bin einfach in das nächstbeste Bed and Breakfast.«
Ich griff nach dem Becher, ich brauchte jetzt einen Schluck. Und wenn es Ingwertee war.
»Du bist sauer«, stellte er fest.
»Eine kurze Nachricht hätte gereicht, Jan. Einfach nur ein Ich-bin-im-Soundso-und-melde-mich-morgen. Ich schicke dir extra sofort eine Nachricht, dass ich deinen Schlüssel habe, damit du dir keine Sorgen machst, und du …«
»Ich bin im ›’t Poorthuys‹, und jetzt bin ich hier. Tut mir leid, dass ich erst so spät wach geworden bin.«
»Im ›’t Poorthuys‹? Du übernachtest in unserem Bed and Breakfast, und da denkst du nicht an mich?« Ich knallte den Becher auf den Tisch. »Liegt dir doch mehr an Arusha, als du zugeben willst? Oder liegt es an der Sache in Gent, über die keiner reden will?«
Müde sah er mich an. »Ich wollte dich nicht unnötig verrückt machen und dir erst dann etwas sagen, wenn ich selbst Sicherheit habe.«
»Bist du krank?« Mein Herz schlug hart gegen die Rippen.
»Nein, nein.« Er holte tief Luft. »Es könnte sein, dass ich Aimées Vater bin.«
Ich starrte ihn an.
»Arusha wollte nicht mit der Sprache rausrücken. Immer wenn ich sie gefragt habe, hat sie das Thema gewechselt. Irgendwann hat sie dann behauptet, dass ich nicht der Vater sei. Dabei hat sie mir ganz fest in die Augen gesehen, weißt du, so wie man es macht, wenn man zeigen will, dass man die Wahrheit sagt. Wer es ist, wollte sie nicht verraten. Sie war richtig wütend zum Schluss, wollte mich schon vor die Tür setzen, aber sie brauchte die Miete.«
»Du bist Aimées Vater.« In meinem Kopf drehte sich alles.
»Vielleicht.« Jan sah mich bittend an. »Ich wollte Gewissheit haben. Corries Bruder kennt einen, der einen kennt, der am CMG arbeitet. Das ist so eine Art medizinisches Institut an der Uni in Gent, wo sie auch DNA-Analysen machen. Mit dem habe ich mich am Samstag getroffen und ihn gebeten, ob er nicht inoffiziell mal schauen kann.«
»Soll ich jetzt auch noch Mitleid mit dir haben?«
»Nein, ich wollte dir nur erklären, warum ich es dir erst mal nicht sagen wollte. Vor allem, wenn es doch nicht stimmt.«
»Na klasse. Wenn sich zeigt, dass du nicht der Vater bist, stellt sich vermutlich genauso heraus, dass du es auch gar nicht gewesen sein kannst, weil du dann nie mit ihr geschlafen hast. Ergebnisorientierte Vergangenheitsanpassung, oder was?« Ich sprang auf. Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert.
»Siehst du?« Jan hob die Hände. »Genau das wollte ich vermeiden.«
Wir funkelten einander an. Ich senkte zuerst den Kopf.
»Ich betrüge dich nicht, Freddie«, versicherte er. »Wie oft soll ich dir das noch sagen?«
»Bis es stimmt«, flüsterte ich und drehte schnell den Kopf weg. Ich wollte nicht so werden wie meine Mutter, wollte keine Beziehung führen, die auf Weggucken beruhte. »Wie soll ich dir denn glauben, wenn du mich anlügst und mir nur die Hälfte erzählst? Offensichtlich lag dir was an ihr, sonst hättest du nicht nach ihr gesucht, wärst nicht bei ihr eingezogen. Das Projekt in Essen war auch kein Zufall. Geschickt hast du alles eingefädelt: die Projektleiterstelle dort, die du nicht ausschlagen konntest, die günstige Wohngelegenheit, sodass du nicht im Hotel wohnen musstest. Warum hast du mir nicht sofort gesagt, dass ihr mal was miteinander hattet?«
»Weil dann genau das hier passiert wäre. Hey.« Er nahm meine Hand. »Es war wirklich Zufall, dass ich sie wiedergetroffen habe. Ich habe sie nicht gesucht. Es war genau so, wie ich es dir erzählt habe.«
»Du warst beim CrossFit am Baldeneysee, und sie hat gerade ihren SUP-Yogakurs beendet. Sie hat dich angesprochen, weil du deinen Pullover hast liegen lassen.« Ich löste meine Hand aus seiner. »Oder war es so: Du wusstest, dass sie in Essen wohnt, googelst sie, erfährst von den Kursen, die sie am See gibt. Ihr erkennt euch wieder, geht zusammen weg, erinnert euch an die guten alten Zeiten, eines kommt zum anderen. Ihr landet im Bett, und sie bietet dir an, dass du gern länger bleiben kannst. Hat sie überhaupt ein Zimmer, das sie vermieten kann? Wolltest du deswegen nicht, dass ich dich besuchen komme?«
»Herrgott noch mal. Als wir uns wiedergesehen haben, sind uns vielleicht die Sicherungen durchgebrannt, aber es war wirklich nur das eine Mal. Jetzt mach doch nicht so ein Theater. Du würdest auch mit einem alten Freund, den du zufällig triffst, weggehen. Man trinkt was, und dann passiert es, aber das heißt doch nichts.«
»Das heißt nichts? Und weil es nichts zu bedeuten hat, ziehst du auch gleich bei ihr ein, lässt einen Vaterschaftstest machen, obwohl sie sagt, dass das Kind nicht von dir ist?« Ich schnaubte. »Wie war das mit dem Ich-will-keine-Kinder? Sorry, aber das ergibt absolut keinen Sinn.«
Jan seufzte. »Seit ich weiß, dass ich Aimées Vater sein könnte, habe ich viel nachgedacht. Auch über uns. Vielleicht sind Kinder nicht das Schlechteste.«
»Ist das eine frühe Midlife-Krise?« Mein Herz klopfte, als wäre es auf der Flucht. »Wegen dir mache ich mich zum Affen. Die verdächtigen mich sogar schon.«
»Wer? Die holländische Polizei denkt, du hast Arusha umgebracht?« Jan hob den Kopf und sah mich mit rot geäderten Augen an. »Wieso denn das?«
»Eifersucht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Und ich war hier, im Unterschied zu dir.«
Seine Augen wurden schmal. »Das sieht schon komisch aus, dass ihr ausgerechnet auf dem Yogaseminar seid, das auch Arusha besucht hat.«
»Ach ja? Woher hätte ich denn wissen sollen, dass sie hierhinfährt? Von dir jedenfalls nicht! Mensch, Jan, jetzt sag nur noch, dass du mir einen Mord zutraust. Warum hast du mir bloß nicht gesagt, dass sie auch herwollte?«
»Warum wohl?« Jan rieb sich die Augen.
Wollte er jetzt wieder mir alles in die Flipflops schieben? So ganz verkehrt lag ich mit meiner Eifersucht ja wohl nicht.
Jan stand auf.
»Warte. Ich habe die Frage ernst gemeint, Jan. Du musst doch gewusst haben, dass wir beide hierherwollten. Moment.« Ich starrte ihn an. »Du hattest mit ihr fahren wollen. Deswegen stehst du auch auf der Gästeliste. Aber als ich dann –«
»Von was für einer Gästeliste sprichst du, Freddie?« Jan runzelte die Stirn und sah zum Gebäude. »Zu diesem Yogaseminar hier habe ich mich ganz sicher nicht angemeldet. Du weißt doch, dass ich kein Yoga mache. Genauso wenig wie du – bis vor ein paar Tagen.«
»Eben. Deshalb hättest du auch problemlos mit ihr mitfahren können. Hätte ich nicht rausgefunden, dass dein Vermieterkumpel eine Kumpeline ist, hätte Miriam mich nie im Leben zu dem Seminar überreden können. Habt ihr wirklich nur das eine Mal …« Ich brachte das Wort nicht über meine Lippen.
»Hey, ja.« Jan sah mich an. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann sagen, was ich will, oder?«
Ich hob die Schultern.
»Ich liebe dich. Okay? Denk darüber nach. Ich muss mir jetzt erst mal den Kopf durchpusten lassen.« Er fuhr sich durch die Haare. »Eine Runde Meer. Danach rede ich noch mal mit Lena. Wer hat ihr eigentlich diesen Floh ins Ohr gesetzt, dass ich Arusha umgebracht haben könnte?«
Wieder hob ich nur die Schultern.