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Love, love, love – liefde, liefde, liefde
Montagmittag
»Erzähl.« Ich hockte mich auf die schmale Bank in dem Schutzhäuschen, in das ich mich verzogen hatte, um Miriam bei dem Wind besser verstehen zu können.
Der Jesusjünger und die Tanzelfe waren ein Paar, und nicht nur irgendeines, sondern das German Yoga-Dreamteam. Plötzlich dann ein abruptes Liebes-Aus. Die totale Trennung. Bis Arusha am Freitag quasi vom Yogahimmel auf die Matte fiel. Kaum aufgetaucht, war sie auch schon tot. Warum nur hatte ich meinem Bauchgefühl nicht vertraut? Meinen eigenen Augen? Ich hatte doch gesehen, dass da etwas nicht gestimmt hatte.
Ein Schauder lief mir über den Rücken. So wie es aussah, konnte ich von Glück reden, dass ich noch lebte.
Wenn es denn stimmte und Prem der Mörder war.
Ich ließ das Smartphone sinken und starrte auf das Bild eines paarse strandlopers – eines Meerstrandläufers –, das an der Innenwand des Schutzhauses inmitten einer ganzen Vogelbildserie hing.
»Freddie? Huhu, hallo, bist du noch dran?« Leise drang Miriams Stimme an mein Ohr. »Wenn du nicht bei drei etwas sagst, gehe ich zu deinem Lieblingsbullen. Eins, zwei …«
Ich kehrte dem Vogel den Rücken zu und nahm das Handy wieder hoch. »Das reicht nicht, Miriam. Wir brauchen mehr Informationen. Warum ist Arusha gekommen? Wollte sie was von Prem? Hat jemand gehört, dass sie sich gestritten haben? Hat er ihr gedroht?«
»Hallo? Darf ich dich daran erinnern, was du beim Tanzen beobachtet hast?«
»Das kann etwas heißen, muss aber nicht. Außerdem habe ich Doorn nichts davon gesagt. Wenn ich ihm jetzt damit ankomme, glaubt er mir kein Wort. Wer hat dir denn erzählt, dass die beiden das ultimative Liebespaar waren?«
»Ein paar von den Cahaya-Urgesteinen haben sich ziemlich gewundert, dass Arusha hier aufgetaucht ist.«
»Hoffentlich haben sie auch bei der Polizei gestaunt und nicht nur bei dir«, grummelte ich. »Wie lange ist denn die Traumpaarzeit her?«
»Du meinst, ob Prem Aimées Vater sein könnte?«
»Wir brauchen ein Motiv.« Ich schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder. »Kein ausgedachtes, sondern das tatsächliche.«
Wir einigten uns, dass Miriam sich weiter unter den Yogis umhören würde, während ich die Angestellten des »ZeeOm« aushorchen wollte, sobald ich zurück war. Ich steckte mein Smartphone ein und schwang mich aufs Rad. Obwohl es auf dem Deich die schönere Sicht gab, entschied ich mich für den fietspad neben der Straße.
Nach einer schnellen Abfahrt ging es am Golfplatz vorbei nach Domburg. Durch den Ort mit seinem Gewusel an Fußgängern, fietsern und dem ein oder anderen wahnwitzigen Autofahrer brauchte ich etwas länger, aber dafür war das letzte Stück bis zum »ZeeOm« freie Fahrt – weder Gegenwind noch Gegenverkehr. Sofort wirbelten die Gedanken wieder wild durch meinen Kopf. Rotbäckchen vom Yogashop war sicherlich die bessere Quelle für Informationen über Prem als der Empfangsyogi, zumal der wahrscheinlich eh noch seinen Kaffee im Teegarten genoss. Hoffentlich kannte Rotbäckchen Prem schon lange. Noch besser wäre, wenn sie auch mit seiner Frau befreundet wäre. Vielleicht hatte Prem ein Zusammentreffen seiner Frau mit seiner Ex um jeden Preis verhindern wollen. Aber warum? Es musste ihm doch klar gewesen sein, dass seine Frau gerade im Fall eines Mords erfahren würde, dass Arusha im »ZeeOm« gewesen war. Oder sagte ihr der Name auch nichts? Kannte sie – wie ich – nur Selma?
Schon erreichte ich den Kreisverkehr. Dabei hatte ich doch den Abzweig, der vor dem Kreisel zum »Terra Maris« führte und damit den kürzeren Weg zum »ZeeOm« darstellte, nehmen wollen. Bereits zum zweiten Mal hatte ich nicht auf den Weg geachtet. Wenn ich bei der Mördersuche ähnlich aufmerksam war …
Ich riss mich zusammen, drehte meine Fast-Ehrenrunde durch den Kreisverkehr und radelte über den Parkplatz zum Fußweg, der zur Burg führte. Nur weil ich einen Umweg fuhr, hieß das ja nicht, dass ich nicht am Ziel ankommen würde. Anstatt mir ins Hemd zu machen, sollte ich mir lieber überlegen, wie ich Rotbäckchen ausfragen wollte.
Das Zuknallen einer Autotür ließ mich zusammenzucken. In dem toten Wegteil rechts von mir blitzte etwas auf. Ich kniff die Augen zusammen. Hatte da jemand seinen Wagen geparkt?
Ich hielt an und sah, dass es sich um einen alten VW-Bus handelte. Die Radkappen waren größtenteils mit Moos überzogen, der ehemals sonnengelbe Anstrich hatte durch die Witterung eine Art Patina bekommen, die ihm von Weitem vielleicht etwas Künstlerisches verlieh, aber nicht, wenn man davorstand.
Moment, lag da ein Turnschuh neben dem Gefährt? Hatte ich meinen Schuhdieb gefunden?
Hastig stellte ich das Rad ab und eilte, so gut es in den U-Booten an meinen Füßen ging, zum Bus.
»Reläks«, prangte in pinken Lettern auf dem Rückfenster. Ja, ja, schon gut. Etwas achtsamer trat ich näher.
Der Schuh sah mir zwar nach meiner Schuhgröße aus, war allerdings nicht mehr ganz taufrisch. Vorsichtig ging ich zur Fahrertür. Leider versagte mir das verdreckte Fenster den Blick ins Innere. Ich klopfte, versuchte, die Tür zu öffnen – vergeblich. Also ging ich einmal um den Bus herum und betrachtete schließlich das Kunstwerk auf der Vorderfront: ein quietschgrüner Frosch im Lotussitz, der mich breit angrinste und verdammt danach aussah, als hätte er nicht mehr alle im Tee, was ihn mir irgendwie sympathisch machte. Ich nickte ihm zu und kehrte zu meinem Rad zurück.
Hinter mir rumpelte es. Mit einem Aufschrei wandte ich mich um, strauchelte und landete auf dem Hintern.
Jemand sprang aus dem Bus.
Ich rappelte mich hoch und erkannte Claude, der sich mit den Fingern durch sein ziemlich verwuscheltes Haar fuhr.
Der Rocker zwinkerte mir zu. »Na, wieder auf der Flucht?«
»Was heißt hier wieder? Und wieso überhaupt auf der Flucht?« Ich runzelte die Stirn. Pfiffen es jetzt doch die Yoga-Spatzen von den Baumwipfeln, dass die Polizei mich verdächtigte, Arusha umgebracht zu haben?
»Na, wie beim Yoga. Sobald du mich hörst, stehst du auf und gehst.«
»Aber das war doch nicht wegen dir.« Verdammt, sorgte der Typ schon wieder dafür, dass mein Gesicht mit der Sonne um die Wette leuchtete? »Ich habe mich geerdet, und danach bin ich eben wieder aufgestanden.«
Er lachte. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Wolltest du was von mir?«
Ich hob die Schultern und schnappte mir mein Rad. Gerade wollte ich aufsteigen, als mir auffiel, was für eine Idiotin ich war. Claude lebte mit Cahaya in Indien. In dem Ashram, in dem auch Arusha untergekommen war. Er kannte sie. Und er kannte Prem. Ich blieb stehen und atmete tief ein und aus.
»Was ist?« Claude kam auf mich zu. »Hast du Angst? Vor mir?«
»Nein.« Langsam schob ich mein Rad voran und warf einen Blick über meine Schulter. »Schläfst du da drin?«
»In dem Bus?« Claude schloss zu mir auf.
Ich lächelte ihn an, nickte und stolperte über eine Wurzel.
Er fing mich auf.
»Augen auf.«
Ich sah in seine. Sie waren braun, ein tiefer dunkler Mokkaton, und obwohl nichts Rotes darin lag, musste ich an meine Lieblingsschokoladensorte denken: feinherb mit Chili.
Hastig trat ich einen Schritt zur Seite. »Stammt die Busmalerei«, ich nickte zu dem Schriftzug, »von dir?«
Claudes Augenwinkel kräuselten sich. Ein kehliges Lachen brach aus ihm heraus.
Ich grinste. Dann musste ich auch lachen. »Schon klar. Das ist das Werk einer Frau. Aber zu Cahaya passt es nicht.«
»Ah, also doch ein Funken Menschenkenntnis.« Erneut zwinkerte er mir zu. Dann wurde er ernst, und ich wusste, wer die Künstlerin gewesen war. Arusha natürlich.
Still bogen wir auf den Weg zum »ZeeOm« ein. Ich deutete auf eine windgeschützte Bank im Schatten der Bäume, stellte mein fiets ab und setzte mich. Von hier hatte man freie Sicht auf Yogaburg, das im Sonnenlicht wie ein Märchenschloss aussah. »Hat Arusha hier gearbeitet, bevor sie zu euch nach Indien gezogen ist?«
»Nein, so lange gibt es das ›ZeeOm‹ noch nicht.« Claude zog ein Päckchen Tabak aus seiner Hosentasche und nahm neben mir Platz.
»Und der Bus?«
»Der gehört Prem.« Claude lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Arusha und er sind damit von Festival zu Festival gezogen. Those were the days, you know.«
»Sex and drugs and rock ’n’ roll. Waren das nicht die Achtundsechziger?«
»Ah, oui.« Claude musterte mich unter seinen halb geschlossenen Augenlidern. »Yogis meditieren. Die brauchen keine Drogen.«
Fast hätte ich nachgefragt, wie es mit dem Sex aussah, aber ich konnte die Frage auf der Zungenspitze zurückhalten. Die Hitze stieg dennoch in mein Gesicht. Ich kramte meine Sonnenbrille aus dem Rucksack, setzte sie auf, schob sie sogleich ins Haar, schließlich saßen wir im Schatten. Ich nickte zum Gebäude hin. »Wieso kommt Cahaya eigentlich hierher? Es gibt doch sicherlich zentraler gelegene Orte.«
»Freundschaft.« Claude sprach das Wort aus, als wollte er eigentlich »L’amour« sagen. »Prem war der Erste, der bei Cahaya gelernt hat. Damals noch bei ihr zu Hause.«
»Wo ist sie denn her?«
Claude musterte mich, als wäre ich ein seltenes Exemplar vom Planeten Spießbürger. »Spielt das eine Rolle?«
Nein, tat es nicht. Genauso wenig wie ihr Alter. Dennoch interessierte mich beides. Aber natürlich fragte ich nicht weiter, sondern schüttelte den Kopf.
»Cahaya ist Licht und Liebe.« Claude machte eine ausschweifende Bewegung mit dem Arm. »Licht und Liebe gibt es überall. Licht und Liebe braucht man überall.«
Ich faltete meine Finger zusammen und wieder auseinander. Licht und Liebe – und das vom obercoolen Altrocker. »Hat Arusha auch bei Cahaya zu Hause gelernt?«
»Nein, sie kam auf Cahayas Europatour dazu. Prem brachte sie mit, wie so viele. Sie war ganz jung und frisch.« Claude sah aus wie eine Katze, die gerade einen Leckerbissen vernascht hatte.
Begleitete er Cahaya deswegen so gern? Freier Sex. Die Worte von Wiesjes Oma klangen mir im Ohr. Ich nahm meine Sonnenbrille aus dem Haar und spielte mit den Bügeln. »War Arusha da schon mit Prem zusammen? Zwei Yogalehrer, die gemeinsam unterrichteten?«
»Zusammen waren sie, ja, aber sie war eine blutige Anfängerin. Genau wie du. Doch sie hat sich reingekniet, hat geübt mit Freude und Leichtigkeit, wollte lernen und verstehen. Mit dem ganzen Herzen war sie dabei. Sie floss durch die Bewegungen, als würde sie einer inneren Melodie folgen. Bezaubernd. Sie gehörte schnell zu unserer Crew dazu.«
»Und wie kam es, dass nur sie nach Indien gegangen ist? Wollte Prem nicht?«
»Mais oui, aber dann kam das hier.« Claude legte den Kopf zurück und schaute zu den Turmspitzen. »Eine einmalige Chance.«
»Und Arusha?«
»Arusha wollte ihre Ausbildung bei Cahaya vertiefen und sie auf ihren Yogareisen begleiten.«
»Sind sie deswegen auseinandergegangen?«
»Love comes, love goes.« Er zuckte mit den Achseln.
»War eine andere Frau im Spiel?«
Er fixierte mich mit seinen braunen Augen, sagte aber nichts.
Cherchez la femme, dachte ich. Das gilt doch immer. Frau oder Geld. In diesem Fall vielleicht beides. Ganz schön hart für Arusha. »War bestimmt nicht einfach für die beiden, sich auf den Festivals dann wiederzusehen.«
»Entspann dich.« Er deutete auf meine Hände, die meine Sonnenbrille malträtierten. »Arusha ist nicht zu den Workshops gereist.«
Sogleich lief ein Film in meinem Kopf ab. Die junge Arusha flieht aus Liebeskummer nach Indien und vergräbt sich in Cahayas Ashram. Ich setzte mir die Sonnenbrille wieder ins Haar. »Hätte es sie so fertiggemacht, ihn zu sehen?«
»Ach was, sie war schwanger. Prem war kein Thema mehr.« Claude nahm seine Tabakpackung und fing an, sich eine Zigarette zu drehen.
»War das der Grund für die Trennung? Sie bekommt ein Kind, er will keins?«
»Du hast Prem wohl noch nie mit Kindern gesehen.« Claude lachte auf. »Er liebt sie, und sie lieben ihn.«
»Aber selbst hat er keine, ich meine, zumindest nicht mit seiner Frau, oder?« In meinem Kopfkino startete der nächste Film. Prem und seine Frau sehnen sich nach einem Kind, können aber keins bekommen. Dann taucht Arusha auf. Mit einem Kind, das seines ist – seines sein könnte. »Wusste er von Aimée? Oder hat Arusha ihm das Kind verschwiegen? Wollte sie es für sich, er war nur der Samenspender? Aufgabe erfüllt, fertig?«
»Unsinn.« Claudes Augenbrauen zogen sich zusammen. Von Liebe und Licht keine Spur mehr. »Sie hatte Angst davor, Mutter zu werden, sie fürchtete, dass sie das Kind nicht lieben könnte. Weil es ihr das Yoga nahm. Cahaya hat viel mit ihr meditiert, bis sie wieder mit sich im Reinen war. Sie war traurig damals. Wie eine Blüte im Regen.«
»Und Prem hat sich nicht um sie bemüht?«
»Warum sollte er?«
»Na ja, als der Vater …«
»Wenn er es denn ist.« Claude begutachtete seine fertig gedrehte Zigarette, zupfte den überstehenden Tabak ab und schob ihn zurück in die Packung. Er sah auf. »Väter. Wichtig ist doch nur love, love, love. Love is all you need. Wir haben uns sehr auf das Kind gefreut. Aimée, Kind der Liebe, geliebtes Kind.«
»Vaterloses Kind ohne Mutter.« Gott, klang ich zynisch. »Wurzeln sind doch wichtig«, fügte ich leise hinzu.
»Bien sûr. Aber man sollte sie nicht mit der Erde verwechseln, in der sie stecken.«
»Trotzdem hilft es, wenn man sie kennt.« In diesem Fall ganz besonders mir. Ich ballte die Hände. »Und von euch weiß keiner, wer der Vater ist? Hat Arusha nichts gesagt? War da jemand in Indien?«
Claude rollte seine Tabakpackung zusammen. »Love, love, love.«
»Schon gut. Verstanden. Es ist nicht wichtig, wer der Vater ist.« Obwohl es das war. Zumindest für mich. Auch wenn ich es nicht wollte.
»Was ist deine Leidenschaft?«
»Wie bitte?«
»Wofür brennst du? Was lässt deine Augen leuchten?«
»Ich … ich bewege mich gern. Draußen. Laufen am Meer. Rad fahren, den Wind auf der Haut spüren und das Surren der Räder hören.« Ich hörte selbst, dass ich in etwa so leidenschaftlich klang wie eine Schlaftablette, die schwere Beruhigungsmittel genommen hatte.
Claude hatte offenbar mit so etwas gerechnet, etwas, das aus seiner Sicht nicht zählte, denn er sagte lediglich: »Yoga hilft dir, es herauszufinden. Gib dich hin. Dann findest du es.«
»So wie sich Arusha … hingegeben hat?« Ich biss mir auf die Unterlippe. In letzter Sekunde hatte ich wenigstens das »ihrem Mörder« noch heruntergeschluckt. Auch so klang der Satz falsch, doch Claude hatte den schrägen Unterton wohl nicht bemerkt. Er zog ein Feuerzeug aus der Hosentasche, zündete sich seine Zigarette an und blies den perfekten Rauchring.
Das sah man selten heutzutage. Und dann noch vor einem Yogazentrum. Er nahm einen weiteren Zug und schickte dem ersten einen zweiten Ring hinterher. Ein Windstoß zerstörte das Kunstwerk und wehte den Qualm in mein Gesicht. Sein Tabak roch süßlich, irgendwie kam mir der Geruch bekannt vor.
Ich musste husten.
»Sorry.« Claude stand auf und schlenderte auf das Gebäude zu.
Ich wedelte den Qualm weg. Jetzt roch es nicht mehr so intensiv, und plötzlich fiel mir ein, woher ich den Geruch kannte. So hatte es im Flur des Kutschenhauses gerochen, kurz bevor ich Arusha gefunden hatte. Ich starrte Claude nach. Viele Raucher gab es hier bestimmt nicht.
»Da!« Von der Brücke her kamen Lena und Aimée auf uns zuspaziert. Die Kleine beschleunigte. »Dadadada!« Zielstrebig steuerte sie Claude an.
Der nahm noch einen Zug, trat dann seine Zigarette aus, ging in die Hocke und umarmte das Kind. »Hallo, ma chérie.«
»Dadada«, jauchzte sie, löste sich, lief zurück zu Lena und zeigte auf Claude. »Dada!« Dann stürzte sie sich wieder in seine Arme. Dieses Mal hob er sie hoch, drehte sich um sich selbst und ließ sie fliegen.
Vor mir verschwammen die Bilder, als würde auch ich durch die Luft gewirbelt.
»Nicht so wild.« Lenas Ruf holte mich wieder zurück. Mit erhobenen Händen eilte sie auf Claude zu. Der lachte, und die Kleine quietschte vor Freude.
So sah kein Mörder aus. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Konnte ich mir sicher sein, dass ich den Geruch richtig identifiziert hatte? Bei den vielen Räucherstäbchen, die in den Seminarräumen abgebrannt wurden, hatte sich dort garantiert eine ganz eigene Geruchsmelange entwickelt. Ich müsste Claudes Tabakqualm dort riechen. Und andere Marken zum Vergleich. Doch selbst dann …
Es hupte.
Erschrocken fuhr ich hoch. Im Schritttempo rollte ein Auto heran. Vor der kleinen Gruppe stoppte der Kombi. Björn.
»Hast du alles bekommen?« Lena trat an die Fahrerseite und öffnete die hintere Tür. Dann wandte sie sich um. »Kommst du, Aimée? Wir fahren ein Stück mit dem Auto und zeigen Björn, wo der Parkplatz ist.«
Claude setzte das Kind auf den Boden, aber die Kleine ließ nicht von ihm ab.
»Tommeln«, rief sie und umklammerte sein Bein.
»Willst du lieber Musik machen, meine Süße?« Lena warf Claude einen fragenden Blick zu.
Der nickte und hielt Aimée eine Hand hin. »Let’s go. Music is our first love, n’est-ce pas?«
»Tommeln.« Aimée nahm Claudes Hand und streckte die andere nach Lena aus. »Alle tommeln.«
Ich sah, wie Lena sich wegdrehte und auf ihre Fingerknöchel biss. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, sie richtete sich auf und warf die Autotür zu. Björn musste wohl etwas zu ihr gesagt haben, denn sie beugte sich noch mal zum Seitenfenster, antwortete ihm kurz und ging dann zu Claude und Aimée.
Claude und Aimée. Wie er hatte das Kind einen französischen Namen. Überhaupt wirkte er sehr vertraut mit der Kleinen. Aber es ergab keinen Sinn. Warum sollte er Arusha umbringen? Zischend atmete ich aus.
Claude schaute auf und warf mir einen eigenartigen Blick zu. Dabei konnte er doch nicht wissen, was ich gerade dachte. Niemand konnte Gedanken lesen. Auch kein noch so cooler Rocker, der vielleicht der Mörder der Mutter seiner Vielleicht-Tochter war.
Ich stand auf. Es war Zeit, dass ich in die Sonne kam. Ich hatte ganz entschieden einen Schattenstich.
Ein leises Hupen ließ mich zusammenfahren. Durch das geöffnete Seitenfenster hielt Björn mir eine Tüte entgegen. »Deine Sneakers. Ich hoffe, Lila ist okay.«
»Oh, danke.« Ich ging zum Wagen, nahm die Tüte und rang mir ein Lächeln ab. Lila war lediglich ein etwas dunkleres Rosa und damit nur um Nuancen besser, aber das konnte er ja nicht wissen. Zudem war die Farbe meiner Schuhe wirklich meine kleinste Sorge. »Was bekommst du?«
»Neunzehn neunzig.«
Ich kramte einen Zwanzig-Euro-Schein aus meinem Portemonnaie und reichte ihn in den Wagen. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, wie Aimée zwischen Claude und Lena auf die Brücke hüpfte. Wenn man nicht wusste, dass Lena gerade ihre Schwester und Aimée ihre Mutter verloren hatte, konnte man die drei für eine glückliche Familie halten.
Neben mir sprang der Motor an. Mit quietschenden Reifen setzte Björn zurück bis zum »Terra Maris«, wo er schwungvoll einparkte. Irgendwie steckte in den meisten Männern doch ein kleiner Rennfahrer. Und in mir steckten so viele neue Informationen, dass ich mich schon fast wieder leer fühlte. Die ganze Zeit hatte ich nichts herausfinden können, und nun kam ich gar nicht mehr hinterher. Bevor ich Rotbäckchen irgendeine sinnvolle Frage stellen konnte, musste ich das Gehörte – und Gerochene – erst einmal sondieren.
Ich brachte das fiets weg und ließ mich auf der Bank im Innenhof nieder. Das Plastikband, das den Zutritt zum Seminarhaus verwehrte, sah so mitgenommen aus, wie ich mich fühlte. Um es nicht permanent vor Augen haben zu müssen, setzte ich mich so, dass ich auf das gegenüberliegende Wellnesskutschenhaus blickte. Jenseits des Wassergrabens sonnten sich ein paar Yogis auf der Wiese, es war ruhig und friedlich. Ein Sommermittag, wie er nicht schöner sein konnte – stünde ich nicht unter Mordverdacht.
Ich zog mein Tablet heraus und öffnete das Fischgrätendiagramm. Vor ein paar Stunden hatte ich die Gräten für Claude und Prem eigentlich wieder löschen wollen. Jetzt schien es so, als würden sie sich gegenseitig ausstechen.
Mit Claude fing ich an. Der Zigarettenrauch konnte ein Indiz dafür sein, dass er am Freitagabend zumindest in der Nähe des Tatorts gewesen war. Aber würde der Mörder vor oder nach dem Mord erst einmal gemütlich eine rauchen? Nicht sehr wahrscheinlich, doch was wusste ich schon über die wahrscheinlichen oder nicht ganz so wahrscheinlichen Handlungen von Mördern.
Ich fügte eine kleine Gräte für den Qualm ein und notierte mir in einer separaten To-do-Liste, dass ich Claudes Alibi herausfinden musste. Dann würde ich erneut mit ihm reden. Bislang hatte er auf alles und jedes megacool reagiert. Nur die Frage, wer Aimées Vater war, hatte ihn aufgeregt. Weil er der Vater war? Aimée liebte Musik. Wie ihre Mutter. Wie Claude. Wie jedes Kleinkind, das ich kannte.
Der Gedanke, dass Claude der Vater der Kleinen sein könnte, schien mir an den Musikhaaren herbeigezogen. Obwohl ich es mir irgendwie auch wieder vorstellen konnte. So wie er von Arusha erzählt hatte, da schwang etwas mit, das ich nicht einordnen konnte. Gemocht hatte er sie auf jeden Fall. So sehr, dass er mit ihr schlafen wollte, aber als es dann darum ging, sich für sie und gegen Cahaya zu entscheiden, blieb er bei der Meisterin und verschmähte die Elevin? War Arusha nach Deutschland zurückgekommen, weil sie es nicht aushielt, ihn mit Cahaya zu sehen? Hatte Claude ihr nahegelegt zu gehen? Als sie sich dann hier trafen, hatte sie gedroht, Cahaya alles zu verraten. Es kam zum Streit …
Stopp! Ich phantasierte schon wieder. Dennoch fügte ich eine weitere Verästelung an die Claude-Gräte an für ein mögliches Vaterschaftsmotiv. Die ich gleich kopierte und auch Prem anhängte.
Ich rückte das Diagramm in die Mitte des Bildschirms. Jan, Prem, Claude – wenn ich so weitermachte, musste ich bald die gesamte männliche Gästeliste des Yogazentrums einzeichnen, und aus meinem kleinen Fischlein würde ein riesiger Killerhecht.
Entnervt schloss ich das Grätendiagramm. Vielleicht versteifte ich mich zu sehr auf das Vaterschaftsmotiv, und der wahre Beweggrund lag ganz woanders – es ging um die Burg. Die Lage war genial, das Ambiente wie gemacht für einen Reiterhof, auch wenn Wiesjes Oma da anderer Meinung war. Dabei waren Reiterferien auf der Burg bestimmt eine kleine Goldgrube für den, der sie anbot.
Ich öffnete den Browser und gab »Reiterhöfe auf Walcheren« in die Suchmaske ein. Das Ergebnis zeigte mir, dass meine Goldgrube schon ausgehoben war. Hier gleich in der Nähe war einer, bei Westkapelle der nächste, beinahe jeder Ort hatte einen Stall oder einen Ponyhof. Das konnte ich vergessen. Es sei denn, einer von den Höfen suchte etwas Neues, oder der hier in der Nähe wollte expandieren.
Neugierig ging ich auf die zugehörige Webseite. Bilder von glücklichen Pferden und noch glücklicheren Reiterinnen begrüßten mich. Das Angebot ging von Ferien auf dem Ponyhof für die Kleinen bis zum freien Ausreiten für die Großen. Kutschfahrten, Training für das Ringstechen, das hier Tradition war, die Liste war endlos. Da würde eine Burg als Unterkunft sich sicher gut machen. Aber würde man deswegen einfach die erstbeste Yogini ermorden?
Ich schüttelte den Kopf, legte das Tablet zur Seite und wechselte in die Supermarktsneakers, damit ich Jans Laufschuhe in einem der Regale vor den Seminarräumen deponieren konnte. Wenigstens in Sachen Schuhdieb müsste es doch möglich sein, eine Fußlänge weiterzukommen.
Laut Kursübersicht, die in der Empfangshalle hing, gab es Lachyoga in Raum Shiva, Yin-Yoga in Raum Vishnu, einen Anfängerkurs sowie eine geschlossene Gruppe in weiteren Yogagötter-Räumen. Da es bereits kurz vor vierzehn Uhr war, schloss ich mich zwei Kicher-Yoginis an, die offensichtlich zum Lachyoga wollten. Vor Vishnu zogen sie ihre Flipflops aus und stellten sie ins Regal. Von wegen Lachyoga. Nicht mal damit lag ich richtig. Am liebsten wäre ich zum Weinyoga gegangen. Stattdessen packte ich Jans Laufschuhe neben die Flipflops und machte dann kehrt. Vielleicht erwischte ich Rotbäckchen noch am Shop, bevor sie den Laden zumachte.
Schnelle Schritte hinter mir. Das konnte kein Yogi sein. Ich sah mich um. Miss Effizient eilte auf mich zu. Auch heute trug sie die Haare zu einem Zopf gebunden, der von links nach rechts schwang, als wollte er mir den Weg verstellen. Sie stoppte vor mir.
»Wir möchten noch einmal mit dich sprechen. Wil je … würden Sie bitte mitkommen?«
Ich stöhnte. »Können wir das nicht nach der Yogastunde machen? Ich würde wirklich gern an dem Seminar teilnehmen, für das ich bezahlt habe.«
»So wie heute Morgen?« Vermeer lächelte süffisant.
Bevor mir Widerstand gegen die Staatsgewalt angelastet werden konnte, gab ich nach. Gemeinsam gingen wir durch den Flur zu Prems Büro.
Vermeer öffnete die Tür und stürmte durch das Vorzimmer in den hinteren Raum. »Ik heb mevrouw Weihs gevonden.«
»Guten Tag.« Stehl-den-Freund erhob sich und deutete auf meinen Stammplatz. »Wir haben noch ein paar Fragen.«
Gehorsam ließ ich mich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Auch Doorn und Vermeer setzten sich.
»Am 18. Juni dieses Jahres haben Sie mit Arusha telefoniert.« Doorn schaute von dem Blatt auf, das vor ihm lag, und fixierte mich. »Aus den Verbindungsdaten der Toten geht hervor, dass Sie sie angerufen haben. Worum ging es in dem Gespräch?«
»Was auch immer am 18. Juni war, ich habe ganz bestimmt nicht mit Arusha gesprochen. Ich kenne … ich kannte die Frau nicht.«
Doorn hielt mir das Blatt hin. »Die markierte Nummer ist doch Ihre, oder?«
Ich schaute auf die Daten. Meine Telefonnummer, eindeutig. Die angerufene Nummer sagte mir nichts – außer dass es sich um die Vorwahl von Essen handelte. Ich runzelte die Stirn, holte mein Smartphone aus dem Rucksack und prüfte den Eintrag für Selma. Wortlos reichte ich Doorn das Handy.
Er nickte. »Das ist die Nummer.«
»Die ich unter Selma gespeichert habe.«
»Was nichts heißt.« Vermeer musste natürlich auch ihren Senf dazugeben.
»Sie brauchen doch bloß die Verbindungsdaten von meinem Anschluss zu prüfen. Dann werden Sie sehen, dass ich es zuvor auf Jans Handy versucht habe.«
»Erteilen Sie uns die Erlaubnis?« Doorn kramte einen Stift hervor. »Festnetz und Mobil?«
»Kein Problem. Ich habe nichts zu verbergen. Sonst noch was?«
»Wie viele Judogürtels hast du?« Mit gefurchter Stirn blickte Vermeer auf meine Körpermitte.
»Einen.« Ich musste mich zusammenreißen, um nicht loszulachen.
»Und dein Freund?«
»Ebenfalls einen«, sagte ich und war stolz darauf, dass ich keine Miene verzog. Und auch gar nicht von oben herab klang. Siegen durch Nachgeben. Dafür stand Judo schließlich. »Sobald man eine Prüfung besteht, trägt man den entsprechenden Gürtel.«
»Und die abgelegten? Die befinden sich doch bestimmt noch irgendwo in euer Haus.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, wo Jan seine alten Gürtel hat.«
»Und deiner? Wo ist er? Welche Farbe hat er?«
»Weiß. Die Farbe der Unschuld.«
»Das wird sich zeigen.« Vermeer lächelte sirupsüß.
Scheinheilige Kuh. Aber selbst schuld. Warum musste ich ihr auch eine Steilvorlage liefern?
»Bevor wir den Tatort freigeben, möchten wir gern mit Ihnen das Geschehen noch einmal durchgehen.« Doorn erhob sich.
Im Yogakutschenhaus quälten sie mich erneut durch die Erlebnisse vom Freitagabend. Gab es nicht wissenschaftliche Studien, die belegten, dass Erinnerungen sich veränderten, wenn man sie zu oft durchging? Sogar nachspielen sollte ich, was ich getan hatte. Als wäre das Ganze eine billige Theater-AG. Noch nicht einmal Statisten waren dabei. Wie sollte das meine Erinnerung ankurbeln? Das Gegenteil war der Fall. Mit jedem Durchgehen wurde der Abend unwirklicher, meine Erinnerung blasser. Völlig absurd wurde es, als Vermeer sich auf Arushas Matte legte und ich sie finden sollte. Widerstrebend stellte ich mich in den Eingang, sah mich um und ging dann langsam zu der Matte, auf der sie lag.
Doorn folgte mir. »Sie sind seitlich an die Matte getreten, richtig?«
Ich nickte.
»Sie standen also direkt vor der Tasche«, stellte er fest.
Die Tasche vor meinen Füßen passte zu Arusha. Gelb, orange, rot, sie leuchtete in den Farben, die sie an dem Abend getragen hatte. »Keine Ahnung. Kann sein. Ich habe nur auf die Frau geachtet.«
»Du musst hineingeblickt haben. Das Foto von Arusha und dein Freund lag oben.« Vermeer setzte sich auf. »Du siehst es und rastest aus.«
»Wie bitte?«
Vermeer zeigte auf die Korbtasche. »Die hast du nicht gesehen?«
Ich rieb mir die Schläfen. Hatte die Tasche wirklich dort gestanden? Alles, woran ich mich erinnerte, war die Zunge. Die Zunge, das Gesicht, der Gurt und das Tuch. Keine Tasche. Und ganz bestimmt kein Foto. Eines, auf dem Jan ein Tête-à-Tête mit einer anderen Frau hatte. Wenn, dann hatte es mit der Rückseite nach oben gelegen. Wenn. Ich verstand nicht, wie ich die Tasche hatte übersehen können. Und: Wenn ich sie nicht bemerkt hatte, wer weiß, was ich noch übersehen hatte.
Ich schluckte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Schwarz – die Tasche hatte dort gestanden, weiß – sie hatte nicht dort gestanden. Schwarz hieß, dass ich als Zeugin eine komplette Niete war. Weiß hingegen bedeutete, dass jemand die Tasche mit dem Bild dort deponiert hatte, nachdem ich Arusha gefunden hatte. Konnte es Prem gewesen sein, nachdem er mich durch die Yogaburg gejagt hatte? Aber woher hätte er wissen sollen, dass Jan mein Freund ist?
Ich spürte Doorns Augen auf mir und hob den Kopf. »Nein, da war keine Tasche.« Schwarz oder weiß. Hielt er mich für eine Lügnerin, eine Mörderin?
Seine grauen Augen verrieten nichts. Er nickte mir zu. »Vielen Dank. Das war es vorerst.«
Schwarz oder weiß.
Das Schwarzweißchen war entlassen.