14
Verschlafen – verslapen
Dienstagmorgen
Am nächsten Morgen weckte mich ein Klopfen. Ich setzte mich auf. Es war hell, Miriams Bett war leer. Auf meinem Tablet entdeckte ich einen Zettel.
»Hab dich schlafen lassen. Bis später, Miri.«
Es klopfte erneut.
»Komme.« Ich gähnte und kletterte aus dem Bett. »Hast du den Schlüssel vergessen, Miri?«
»Nein, Doorn hier. Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
Ich starrte auf die Tür. Oh Mann.
»Einen Moment«, rief ich und zog mir schnell Kapuzenpullover und Jogginghose über, bevor ich öffnete.
»Entschuldigung, wenn ich Sie geweckt habe, aber wir haben noch ein paar Fragen. In einer halben Stunde im Büro von meneer Brand?«
Ich nickte. Auch wenn Stehl-den-Freund am Ende des Satzes die Stimme gehoben hatte, wusste ich, dass das keine Frage gewesen war.
Doorn ging. Ich schloss die Tür. Holländischer Hoofdinspecteur statt koffie verkeerd. Der Morgen begann so fürchterlich, wie der Abend aufgehört hatte.
Ich stellte mich unter die Dusche, drehte den Hahn auf kalt und hoffte, dass der Eiswasserstrahl die wirren Träume der Nacht wegspülen würde. Besonders ein Bild hatte sich festgesetzt. Arusha kniete auf der Matte und sprühte ein großes Herz darauf mit einem C und einem A darin, als eine Schlinge über ihren Kopf flog und sie fortriss. In einer nächsten Sequenz lachte Claude wild auf und wirbelte Aimée durch die Luft. In einer anderen schrubbte Prem wie besessen an dem A, das nicht verschwinden wollte, und rief ein ums andere Mal: »Cahaya ist meine Meisterin!« Dann war er weg, und Claude sang: »Bist du bang, dein Herz ich fang.«
Bibbernd seifte ich mich ein und drehte den Temperaturregler nach links. Das Wasser blieb kalt. Ich schnaufte, brauste den Schaum ab und sprang aus der Dusche. Anschließend rubbelte ich meine Haut, bis sie kribbelte und ich mich wach genug fühlte, mich der Polizei zu stellen. Ich zog mich an, packte Tablet, Smartphone und die wieder mit dem GPS-Tracker versehenen Schuhe in meinen Rucksack und verließ das Zimmer.
Nicht nur ich schien über Nacht eine Vorliebe für das Treppenhaus entwickelt zu haben. Schon beim Betreten hörte ich Stimmen und polternde Geräusche. Eine Treppe tiefer stieß ich auf eine kleine Karawane. Drei Frauen zogen mit ihren Trolleys nach unten. Die Rollkoffer knallten von Stufe zu Stufe. Die Frauen fluchten.
»Wenn die uns das Geld nicht zurückgeben, können die echt was erleben!«, ereiferte sich die Schlusslichtfrau.
»Mit dem Gepäck hätten sie auch helfen können.« Koffer-Frau-Gespann Numero zwo blieb stehen und schaute sich zu Schlusslicht um, entdeckte mich und beäugte mich kritisch. »Arbeitest du hier?«
»Um Himmels willen.«
»Kommt schon«, rief die Frontfrau. »Nicht dass unser Taxi noch ohne uns abfährt.«
»Haben sie den Aufzug gesperrt?«, fragte ich.
»Gesperrt?« Schlusslicht stöhnte. »Der Strom ist ausgefallen.«
»Hättet ihr auf mich gehört, wären wir schon längst wieder zu Hause!«, rief die Frontfrau und baute ihren Vorsprung aus. »Wir hätten gleich abreisen sollen, als sie die Tote gefunden haben. So wie die beiden Schweizerinnen.«
»Ohne Rückerstattung?« Die Zweite setzte sich wieder in Bewegung. »Jetzt müssen sie uns das Geld zurückzahlen. Ohne Strom können sie den Betrieb doch gar nicht aufrechterhalten. Wie wollen die denn kochen?«
»Rohkost.« Schlusslicht hievte ihren Koffer eine Stufe tiefer. »Dann isst man halt mal einen Tag kalt. Aber ohne Licht bleibe ich hier keine weitere Nacht. Ist schon schlimm genug, dass sie den Mörder immer noch nicht haben.« Sie blieb stehen und verschnaufte.
Ich nutzte die Chance und schlängelte mich erst an ihr und wenig später an den anderen beiden Frauen vorbei. Die kalte Dusche hatte also nicht nur mich, sondern alle Yogis getroffen. Sollte der Strom länger wegbleiben, würde Prem bestimmt noch mehr Gäste verlieren.
Im Flur im Erdgeschoss stoppte ich vor einem Schuhregal, prüfte, ob die Luft rein war, und stellte Jans Schuhe neben ein Paar Flipflops. Testweise startete ich die Tracking-App. Es dauerte einen Moment, dann erschien eine Karte auf dem Handydisplay und zeigte einen kleinen Punkt in der Nähe der Nordsee. Ich zoomte heran, der Punkt lag zwischen Domburg und Oostkapelle. Zufrieden aktivierte ich den Bewegungsmelder. Sollten die Schuhe ihre Position verändern, würde mein Handy Alarm schlagen. Die Falle war wieder scharf geschaltet.
Ein tiefes Surren ließ mich aufsehen. Das Geräusch wurde lauter. Von den Büros her rollte eine Frau auf einem Segway zum Empfang. Zierlich, blondes Haar, ein Schal um den Hals, dessen Enden wie Flügel an ihrem Rücken wehten. Ich kniff die Augen zusammen. Auch wenn es hier verdammt dunkel war, sah die Erscheinung aus wie Arusha.
Sie passierte den Elefantengott.
»Hallo!«, rief ich.
Die Phantom-Arusha fuhr zum Ausgang. Entweder hatte sie mich nicht gehört, oder sie wollte mich nicht hören.
»Warte!« Ich lief ihr nach. Hatte Arusha eine Zwillingsschwester? Aber das hätte Lena doch gesagt. Ich rannte durch den Empfang, stürzte durch die offen stehende Eingangstür auf die Brücke. Der Innenhof war leer. Hatte sie die Burg verlassen?
Ich sprintete über den Hof zur äußeren Brücke.
Nichts. Segway und Phantom-Arusha hatten sich in Luft aufgelöst. Ich spähte zum »Terra Maris«, das noch nicht offen zu haben schien, über die Wiese, wo ein Spaziergänger seinen Hund ausführte, zum verlassenen Zelt – die Yogis waren wohl am Strand, in den Wald – Baum, Baum, Baum. Als ich Schritte hinter mir hörte, fuhr ich herum.
»Frau Weihs?« Inspecteurin Zoe Vermeer lief auf mich zu. »Wo wil … wollen Sie hin?«
Dachte sie, ich wollte fliehen? Immerhin verzichtete sie darauf, ihre Pistole zu zücken. Vorsichtshalber hob ich meinen Arm betont langsam und deutete zur Wiese. »Ich dachte, ich hätte jemand gesehen, den ich kenne.« Womit ich nicht einmal log.
Vermeer zog die Augenbrauen in die Höhe und schaute sich demonstrativ um.
Bevor sie mir weitere Fragen stellte und mich womöglich zu einer kleinen Unwahrheit verleitete, zuckte ich möglichst nonchalant mit den Achseln und wandte mich zur Burg. »Wollen wir?«
Sie nickte knapp. »Hoofdinspecteur Doorn wartet schon.«
Betonung auf »Haupt« und »wartet«.
Ich streckte mein Kinn vor. Wenn sie mich damit einschüchtern wollte, hatte sie sich geschnitten.
Mit einer Handbewegung wies Miss Effizient Richtung Gebäude. Ich tat ihr den Gefallen und ging voran. Den kurzen Weg legten wir schweigend zurück.
Sowohl die Tür zum Vorraum als auch die zum eigentlichen Büro stand offen. Ich klopfte und trat ein.
Doorn sah von einer Akte auf. Er nickte zu meinem Stammplatz hin. »Bitte.«
Rasch nahm ich Platz. Unangenehme Dinge hatte ich lieber hinter als vor mir.
In meinem Rücken schloss Vermeer die Tür, zog sich einen Stuhl neben den Schreibtisch und setzte sich ebenfalls.
Doorn ließ sich jedoch Zeit. Schließlich klappte er die Akte zu und sah mich an. »Wo waren Sie gestern Abend?«
Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Alles andere wäre Wahnsinn, und außerdem gab es keinen Grund zu lügen. Ich verstand selbst nicht, warum ich darüber überhaupt nachdachte. So lange brauchte, um zu antworten. »Bei meinem Freund in Middelburg. Jan hat dort ein Zimmer.«
»Von wann bis wann waren Sie bei ihm?«
Ich erklärte, dass ich gleich nach dem Nachmittagsunterricht aufgebrochen und erst bei Dunkelheit wieder zurückgekommen war. Dass ich Max getroffen hatte, den Yogi am Empfang, der gerade dabei gewesen war, die Burg für die Nacht zu verriegeln. Ich atmete durch. Dieses Mal hatte ich Zeugen ohne Ende.
»Das heißt, Sie sind gegen zweiundzwanzig Uhr ins ›ZeeOm‹ zurückgekehrt?«
Ich nickte, merkte, dass meine Finger mit dem Gurt des Rucksacks spielten, und hielt inne. Ich sollte sagen, was ich gesehen hatte. Entschlossen holte ich das Handy aus dem Rucksack, suchte die Bilder heraus und hielt Doorn das Smartphone hin. »Ich weiß nicht, ob Sie das hier schon kennen.«
Er warf einen Blick auf das Display. »Meneer Brand hat uns informiert. Allerdings hat er uns gesagt, dass jemand anders die Schmiererei entdeckt hat.« Stahlgraue Augen musterten mich.
»Darf ich?« Vermeer streckte die Hand aus.
Ich zögerte, gab ihr dann aber das Gerät. Hätte ich den Spruch doch gleich erwähnt. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät, und ich konnte das Kind noch aus dem Brunnen retten.
»Wow.« Vermeer wischte über das Display. »Du hast ja gleich eine ganze Serie geschossen.«
Zwei Augenpaare richteten ihren Blick auf mich. Das Brunnenkind konnte ich vergessen. Ich hob die Schultern. »Ich wollte mit Miriam überlegen, was zu tun ist. Die Fotos habe ich quasi zum Beweis gemacht.«
»Zum Beweis.« Wieder war es Vermeer, die sprach. »Was willst du denn damit beweisen? Dass du in die Burg gewesen bist?«
Ich schaute auf den kleinen Bildschirm meines Smartphones und schüttelte den Kopf.
»Etwa wie hübsch es hier in die Yogaburg ist?« Ihre Stimme klang sarkastisch. Sie gab mir mein Handy zurück. »Die Bilder kursieren seit gestern Nacht im Netz. Worum geht es dich?«
»Das war ich nicht. Verfolgen Sie doch die IP-Adresse zurück.«
Ich nahm mein Handy und wollte es gerade in den Rucksack stopfen, als Doorn einen Flyer in einer Klarsichthülle vor mich auf den Schreibtisch legte. Neben den ersten schob er einen zweiten, und ich blickte auf die Zeichnungen der Yogahaltungen, die zum Tod führten, wenn man den zugehörigen Sprüchen Glauben schenkte. Das letzte bisschen meiner eh schon so gut wie nicht mehr existenten Glaubwürdigkeit killten sie jedenfalls sofort. Meine Gesichtshaut glühte, während ich in meinem Rucksack nach den Exemplaren der Drohspruchblätter wühlte.
»Verdammt, wo sind sie denn? Genau solche Flyer habe ich in dem kaffeelosen Café hier gefunden.«
»Gefunden oder ausgelegt?« Doorn lehnte sich zurück. »Ja, ich weiß, Sie haben gefunden gesagt, aber ist es nicht verwunderlich, dass die Blätter nirgends sonst aufgetaucht sind? Das hier sind keine Kopien, das sind Originale.«
Ich hielt inne und schaute erneut auf die Blätter. »Mag sein. Aber ich habe die Dinger ganz bestimmt nicht entworfen.«
»Ob Sie die Originale in Händen hatten, wird die Überprüfung auf Fingerabdrücke zeigen.«
Ich sah auf, sah in Doorns Augen. Wintergrau. Mit einem mehr als unguten Gefühl im Bauch nickte ich. Was blieb mir auch anderes übrig. Meine Fingerabdrücke hatten sie noch in der Tatnacht genommen. Da hatte ich noch gedacht, dass ich so zur Aufklärung des Verbrechens beitragen konnte. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher.
Die Fragen gingen weiter. Wo ich in den zwei Wochen vor dem Seminar gewesen war. Natürlich konnte ich kein lückenloses Alibi nachweisen, wie auch? Tagsüber war ich auf der Arbeit gewesen. Das würden meine Kollegen bestätigen können. Die Nächte jedoch ließen genügend Zeit, um von Bonn nach Walcheren gefahren zu sein und Sprüche, von denen ich bis vor Kurzem nichts gewusst hatte, in Yogaburg verteilt zu haben. Der einsame Nachtschlaf war ein schlechtes Alibi.
»Sie sind Informatikerin, haben Sie gesagt.« Doorn beugte sich vor. »Der Stromkreislauf ist Ihnen daher sicher nicht fremd. Wie haben Sie den Strom kurzgeschlossen?«
Für eine Sekunde war ich versucht, einen Vortrag über theoretische Informatik zu halten, Compilerbau und Datenbanken – damit kannte ich mich aus. Mein Physikpraktikum hingegen hätte beinahe mein Studium-Aus bedeutet. Nachdem ich damals in einer Versuchsanordnung alles auf Masse gelegt hatte, tat es einen Schlag, und der Strom war weg.
Ich biss mir auf die Lippen. Diese Anekdote sollte ich besser nicht erzählen. Einatmen, ausatmen, die Ruhe bewahren. »Tut mir leid, um so etwas kümmern sich unsere Techniker. Davon habe ich keine Ahnung.«
Vermeer schnaubte und warf Doorn einen Blick zu, der deutlich machte, dass sie mir nicht glaubte.
»Denken Sie allen Ernstes, ich stecke hinter alledem?« Ich schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich das machen? Was würde es mir bringen, dem ›ZeeOm‹ zu schaden?«
»Das fragen wir uns auch.« Vermeer verschränkte die Arme vor der Brust. »Du verdienst gut, hast keine Schulden.«
Ich schnappte nach Luft.
Doorn lehnte sich zurück, ja, er lächelte mich sogar freundlich an. Was sollte denn das? Spielten die hier guter Cop, böser Cop mit mir?
»Haben Sie ein Prepaidhandy?«, fragte er.
»Wie bitte?« Ich umklammerte mein Smartphone und hob es hoch. »Nein, das ist ein Vertragshandy. Die Verbindungsdaten müssen Ihnen doch inzwischen vorliegen.«
Er nickte.
Ich ließ die Hand sinken. Sie hatten nichts Auffälliges gefunden, dämmerte mir, und nahmen wohl an, dass ich ein anderes Handy nutzte, um mich mit wem auch immer in Verbindung zu setzen. Bei einer ausländischen Prepaidkarte hatten sie keine Chance, an den Besitzer heranzukommen.
»Würden Sie uns Ihre Fotos aus dem Aufzug zur Verfügung stellen?« Er deutete auf mein Smartphone.
»Wenn Sie einen Rechner hier haben, kann ich die Bilder schnell rüberkopieren.« Ich öffnete das vordere Fach meines Rucksacks und holte ein USB-Kabel heraus. »Oder ich schicke Sie Ihnen einfach auf Ihr Handy.«
Bevor ich nach seiner Visitenkarte suchen konnte, zückte Doorn eine und reichte sie mir. »Sie kennen sich doch aus«, sagte er. »Was muss ich tun, wenn ich nicht will, dass jemand herausfindet, dass Sie mir die Bilder geschickt haben?«
»Ich dachte, Sie brauchen die Fotos?« Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, den er erwiderte. Ob Röntgens Augen auch grau gewesen waren? Auf meiner Haut kribbelte es. »Warum verschwenden Sie Ihre Zeit mit mir? Ich habe nichts mit den Geschehnissen hier zu tun.«
»Genau das werden wir herausfinden. Bitte beantworte die Frage.« Vermeer lächelte so zuckersüß, dass mir fast schlecht wurde.
Ich zuckte mit den Achseln und verkniff mir, ihr zu sagen, dass sie sich besser an die polizeieigenen Experten wenden sollten. Demonstrativ wandte ich mich an Doorn. »Löschen reicht vermutlich nicht. Heutzutage lässt sich so gut wie alles rekonstruieren. Sie könnten die SIM-Karte vernichten oder das Handy in der Nordsee verschwinden lassen.« In einem grauen Meer, auf dem sich das Sonnenlicht spiegelte. So wie in seinen Augen. Rasch senkte ich den Blick und konzentrierte mich auf das Versenden der Bilder.
Dann durfte ich gehen.
Auf dem Weg nach draußen fragte ich mich, ob die Polizei überhaupt noch nach dem wirklichen Mörder suchte. Nein, ich fragte mich nicht. Ich war mir sicher, dass sie es nicht taten. Das hier war zur Hexenjagd mutiert – und ich war die Hexe. Die Faust, die meinen Magen zerquetschte, fand das auch.
In mir stieg Wut auf. Jeder, der wütend ist, ist in Wahrheit ängstlich. Ja, ich hatte Angst. Ich wollte nicht als unschuldige Mörderin nach zehn Jahren verbittert aus dem Knast entlassen werden, nur weil meine Fingerabdrücke auf irgendwelchen Blättern waren und ich ein paar Fotos von einem Spruch in einem Aufzug gemacht hatte. Beides Dinge, die nicht zu dem Mord passten. Ich stapfte durch den Empfang und über den Hof zur Wiese.
Die Yogis waren vom Strand zurück. In der Frontreihe bewegte sich Prem von einer Position in die nächste. Nur die Tatsache, dass er nicht allein war, bewahrte ihn vor einer Kopfkürzung. Garantiert hatte er die Flyer in meinem Rucksack entdeckt, als er meine Sonnenbrille hineingelegt hatte, und sie sogleich zur Polizei getragen. Das hieße, dass meine Fingerabdrücke auf den Blättern sein würden. Aber seine auch.
Mein Hirn machte sich schon daran, eine Argumentationskette auszuarbeiten. Prem hatte die Flyer erstellt, um mich verdächtig zu machen. Deswegen fanden sich auch nirgends sonst Exemplare. Er hatte sie mir untergeschoben, dann wieder entwendet und der Polizei gebracht. Schnüffler und Petzen waren mir seit jeher ein Gräuel. Löchrige Argumentationsketten allerdings auch.
Ich knirschte mit den Zähnen, während Cahaya die Yogis aufforderte, sich in eine bequeme Haltung für die Schlussentspannung zu begeben.
Claude, mein zweiter Verdächtiger, setzte sich neben die Yogameisterin und stimmte ein erstes OM an. Das würde er nun eine ganze Weile wiederholen. Repeat forever. Bis zum Ende der Stunde. Genügend Zeit, um dem Froschbus einen kleinen Besuch abzustatten und herauszufinden, was der Altrocker dort trieb. Wenn es einen Zusammenhang mit den Geschehnissen auf der Burg gab, würde ich ihn entdecken, schwor ich mir.
Bevor jemand auf mich aufmerksam wurde, schlich ich am Wassergraben entlang und bog Richtung Parkplatz ab. Der Weg wirkte selbst am helllichten Tag bedrohlich. Ein dunkles Reich, das wenig Licht hineinließ. Ich merkte, wie meine Schritte langsamer wurden. Fehlte nur noch, dass mich ein eisiger Lufthauch traf.
Ich kicherte nervös, sah mich verlegen um. Niemand zu sehen. Die dezimierte Yogischar hatte Besseres zu tun, als mir nachzulaufen. Das Karma aufzubessern zum Beispiel und die Burg energetisch aufzuladen, damit der Strom wieder fließen konnte. GAM GAM GANAPATI, was dachte ich für einen Blödsinn?
Am Abzweig zum Parkplatz zögerte ich. Mit verschwitzten Fingern holte ich mein Handy aus dem Rucksack und schaltete die Taschenlampenfunktion an. Natürlich brachte das nichts. Nicht einmal, dass ich mich besser fühlte. Ganz im Gegenteil. Es machte mir nur bewusst, wie lächerlich ich mich verhielt.
Ich wunderte mich über mich selbst. Nachts am Rhein langzulaufen machte mir nichts, aber hier entwickelte ich mich langsam, aber sicher zu Agathe Ängstlich.
Entschlossen stopfte ich das Handy zurück in den Rucksack und ging weiter. Von wegen, es geschah am helllichten Tag. Man konnte sich auch selbst verrückt machen. Ich hätte nie gedacht, dass auch ich dazu in der Lage war.
Am Bus angekommen, spähte ich durch die Fensterscheiben. Kein Claude, kein Mann mit langen Haaren. Auch keiner mit kurzen. Ich kramte nach einer Büroklammer, bog sie zurecht, nahm eine zweite hinzu und bewies, dass ich mein Sicherheitszertifikat verdient hatte. Als Gag hatte der Security-Beauftragte uns gezeigt, wie man ein Schloss knackt. Im Unterschied zu meinen Kollegen hatte ich den Bogen sofort raus. So auch jetzt. Es klackte, das Schloss sprang auf.
Ich öffnete die Tür, kletterte in den Bus und schloss sie wieder. Mein Herz hämmerte, als wollte es mir mit seinem Stakkato einen Triumphmarsch darbieten.
Ich schaute mich um. Auch das Innere des Busses hatte bessere Zeiten gesehen. Von den Schränken blätterte die Farbe ab. Shiva und Ganesha waren alt und blass geworden. Dennoch reichte es, um mir das junge Yogapaar hier vorzustellen. Ein Hippieleben. Eine glückliche Fahrt von Yogafestival zu Yogafestival in die Erleuchtung, die dann doch im Dunklen endete. Oder durfte ich das nicht so sehen? Bestand die Erkenntnis darin, festzustellen, dass man nicht füreinander bestimmt war?
Ich dachte an Jan. Kurz war ich versucht, ihn anzurufen, mahnte mich jedoch zur Vernunft. Ich war gerade eingebrochen und überlegte allen Ernstes, erst einmal mit meinem Freund zu telefonieren. Hatte ich sie noch alle?
Über mich selbst den Kopf schüttelnd setzte ich den Rucksack auf der Sitzbank ab und machte mich auf die Suche. Im zweiten Hängeschrank wurde ich fündig. Neben einer leeren Schnapsflasche stand eine Gebäckdose. Ich öffnete sie vorsichtig. Sofort schlug mir ein süßlicher Geruch entgegen. Dass das kein normaler Tabak war, erkannte selbst ich. Klischee hin oder her. Allerdings machte der Besitz von Marihuana einen noch lange nicht zum Mörder, ja nicht einmal zum yogasnuiver. Ich schloss die Dose, stellte sie zurück in den Schrank und zog den ausgebleichten Vorhang vor dem Wandregal daneben zurück.
Alte Technik, ich pfiff leise. Ein Fernseher aus der Steinzeit mit einer Spielekonsole, daneben ein Kassettenrekorder, wie ihn mein Vater besessen hatte. In einer Schublade fand ich tatsächlich ein paar Kassetten. Und das war es. Keine Schränke voller gestohlener Flipflops, keine Blätter mit Drohsprüchen, keine Spraydosen. Alles, was es hier gab, war ein bisschen Gras und eine Heimkonsole, die in die Jahre gekommen war. Ich nahm meinen Rucksack und verließ den Bus.
Im Wald war es nicht heller geworden, aber das musste ja nicht heißen, dass hier finstere Dinge passierten. Dennoch war ich froh, als ich die Bäume hinter mir ließ und wieder ins Sonnenlicht trat. Nach der Yogastunde würde ich Claude ansprechen. Vielleicht hatte er gestern Abend jemand am Aufzug gesehen. Statt ihn zu verdächtigen, hätte ich gleich mit ihm reden sollen. Manchmal stand ich mir wirklich selbst im Weg.