19
Der Schlüssel – de sleutel
Mittwochmittag
Mit gesenktem Kopf kämpfte ich mich voran. Das Wasser schien von überall zu kommen, was im Grunde keinen Unterschied machte. Nass war ich sowieso. Wäre nur die Sicht ein wenig besser.
Ich hob kurz den Kopf, blinzelte – tauchte da ein Gebäude auf? Eine Windböe erfasste mich und steuerte das Rad fast in den Graben. Im letzten Moment kam ich zum Stehen und sah mich erneut um. Doch, da vorn, das musste der Reiterhof sein.
Ich stieg ab, schob das fiets bis an die Mauer und lehnte es dagegen. Dann stemmte ich mich gegen den Wind und stapfte an der Mauer entlang. Als ich am Tag zuvor am Hof vorbeigeradelt war, war mir dieser eher klein vorgekommen. Jetzt schien er gewachsen zu sein. Ein Schönwetterscheinkleinhof, der bei Unwetter ungeheure Ausmaße annahm.
Vor mir tauchten die Umrisse eines Autos auf. Die Einfahrt, endlich. Zu sehen war weiterhin nichts und niemand. Nur der Wagen ließ mich hoffen, dass jemand da war. Ich arbeitete mich zu einem Gebäude vor, einer Tür – dem Geruch nach zu urteilen, hatte ich den Stall gefunden.
»Hallo?« Ich trat ein. Der Regen prasselte auf das Dach.
Ein Pferd schnaubte. Zur Begrüßung?
»Ist hier jemand?« Ich ging an ein paar leeren Boxen vorbei, dann kamen welche, in denen tatsächlich Pferde standen. Die meisten nahmen keine Notiz von mir, nur eines musterte mich, hob und senkte den Kopf und versenkte ihn dann im Futtertrog.
Ein anderes Geräusch mischte sich unter das Trommeln der Regentropfen. Das Knattern einer Vespa, das lauter wurde und dann verstummte. Eine Tür fiel ins Schloss, und ich hörte zwei Männerstimmen, die näher kamen.
»Wat wil je hier?« Die Stimme schnitt so scharf durch den Regen, dass es mich wunderte, dass es immer noch auf Boden und Dach prasselte. »Ben je gek geworden?«
Ben je gek geworden? – Ich wiederholte den Satz stumm, dann verstand ich: Was willst du hier, bist du verrückt geworden?
Ein Mann kam in den Stall. Instinktiv wich ich zurück und verbarg mich in einer leer stehenden Box. Der Mann mit der Messerstimme klang nicht danach, als würde er sich über eine halb ertrunkene Yogini freuen, schon gar nicht, wenn sie ihn mit seinem unwillkommenen Besucher erwischte. Ich ballte die Hände und hoffte, dass wer auch immer dort aufgetaucht war schnell wieder verschwinden würde.
»Het is …«
Die Stimme kannte ich doch. Die Pause, die einen in den Wahnsinn treiben konnte. Das war doch …
»Prem is dood.«
Ich runzelte die Stirn und schob mich im Schutz der Seitenwand an den Anfang der Box. Vorsichtig steckte ich den Kopf durch die Tür und spähte zum Eingang.
Max! Ich hatte mich nicht verhört. Der Empfangsyogi nahm den Motorradhelm ab und fuchtelte mit dem anderen Arm nach draußen.
Ich biss mir auf die Unterlippe, dass es schmerzte. War ausgerechnet er der Verräter?
Ihm gegenüber stand ein hagerer Reiter, schwarze Stiefel, braune Hose, gelbes Poloshirt, die ersten grauen Haare – wenn mich nicht alles täuschte, war das der Reitersmann, mit dem Prem sich gestritten hatte.
»Hat dich jemand gesehen, als du hergekommen bist?« Messerstimme klang wütend, aber er sprach langsam, was gut war, denn so hatte ich kein Problem, sein Holländisch zu verstehen. »Du hast doch hoffentlich nicht im Hauptgebäude nach mir gefragt?«
Max schüttelte den Kopf und sprach so leise, dass ich die Wörter nicht verstehen konnte.
»Hauptsache, wir sind ihn los. Du fährst am besten sofort zurück.«
Max rührte sich nicht vom Fleck. »Nein. Ich will erst mal untertauchen.«
»Wieso?«
»Wegen der Spuren.«
Ich hielt die Luft an.
Messerstimme ließ seine zischend heraus.
»Es sollte doch aussehen wie auf den Sprüchen«, murmelte Max.
Fast verfiel ich in Schnappatmung. Max, der langsame, tiefenentspannte Max, war der Drohspruchschreiber, der den Sprüchen Taten hatte folgen lassen. Sei ein Fisch, töte dich. Max war der Mörder. Das würde mir niemand glauben.
Mit verschwitzter Hand friemelte ich den Reißverschluss an meiner Hosentasche auf, zog das Smartphone heraus, holte es aus der Hülle und richtete es auf die beiden Männer. Messerstimme machte einen Schritt auf Max zu. Ich drückte auf Videoaufnahme und presste mich an die Seitenwand der Box.
»Ich dachte –«
»Du musst zurück ins ›ZeeOm‹«, fuhr Messerstimme dazwischen. »Wenn dich jemand fragt, sagst du, dass du ihn gefunden hast. Egal, was passiert, du nimmst auf keinen Fall Kontakt mit mir auf. Ist das klar?«
»Und was soll ich mit den ganzen Schlappen machen?«
Messerstimme atmete tief ein und wieder aus, beinahe so, als wollte er zum Yogi avancieren. »Du solltest doch nur Verwirrung stiften, die Gäste zur Abreise bringen, aber doch nichts klauen und dann für dich behalten. Du bist so ein Idiot! Wo sind die Schlappen?«
Ich trat mir fast auf die eigenen Zehen. Max hatte meine Schuhe gestohlen. Der erste Abend spielte sich vor meinem inneren Auge ab. Max war mir entgegengekommen, als Prem mich verfolgte. Gemeinsam mit dem Jesusjünger war ich zu dem Seminarraum zurückgegangen, er hatte sich überzeugt, dass Arusha tot war, dann waren wir vor die Burg gegangen und hatten auf die Polizei gewartet. Max hatte zwar nicht alle Zeit der Welt gehabt, die Schuhe zu klauen, aber mehr als genug. Ihn hatte ich überhaupt nicht auf dem Radar gehabt. Weder als Mörder noch als Schuhdieb.
Ich spähte aus der Box. Jetzt sagte er was und legte zwei Schlüssel auf eine Kiste. Ich runzelte die Stirn. Hatte er die Schuhe im »ZeeOm« versteckt?
»Dem in Dishoek?« Messerstimme scheuchte Max zum Stall hinaus. »Du fährst zur Burg und kommst nicht zurück. Hast du verstanden?«
Max umfasste den Helm mit beiden Händen, zögerte aber, ihn aufzusetzen. »Soll ich nicht doch die Schuhe holen und zur Mülldeponie bringen?« Sein Blick ging an Messerstimme vorbei, irrte durch den Stall.
Sofort zog ich meine Handyhand ein und machte einen Schritt zurück in die Box. Ich traute mich kaum mehr, Luft zu holen. Hatte er mich – oder das Smartphone – gesehen? Angestrengt lauschte ich auf Schritte, hörte aber nur den Regen – und das Blut, das in meinen Ohren rauschte.
»Halt dich bloß vom Bunker fern. Ich kümmere mich um die Schuhe. Du verschwindest von hier. Jezus, wie kann man nur so blöd sein!«
Ja, wie kann man nur. Bildete ich mir das ein, oder war die Messerstimme tatsächlich lauter geworden? Ich presste mich gegen die Seitenwand und wünschte mir, wenn ich schon nicht klein und zierlich war, dann wenigstens zum sprichwörtlichen Strich in der Pferdebox zu werden.
»Warte!« Die Messerstimme zerschnitt die Luft. »Von Arushas Vorstellungstermin hier bei uns hast du aber keinem erzählt, oder?«
Eine Fanfare ertönte. Neben mir bollerte es gegen die Holzwand. Die Fanfare verstummte abrupt. Ein Pferd wieherte.
»Hoi.« Der Reitersmann klang ganz anders. Freundlich wäre zu viel gesagt, aber es schien Leute zu geben, die er nicht gleich stimmlich erdolchte.
Vorsichtig pirschte ich mich wieder ein Stück vor und lugte aus der Box. Messerstimme ging mit dem Handy am Ohr zum Ausgang und trieb Max auf seine Vespa. Knatternd entfernte sich der Empfangsyogi. Messerstimme sah ihm nach und verschwand dann, immer noch telefonierend, aus dem Stall.
Ich zögerte nicht, stopfte mein Handy in die Hosentasche, hastete aus der Box und holte mir die beiden Schlüssel, die auf der Kiste lagen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm ich eine Bewegung wahr und duckte mich. Im Schutz des Vordaches spazierte Messerstimme vor dem Eingang auf und ab und sah dabei aus, als herrschte eitel Sonnenschein. Wenn ich die Grimasse auf seinem Gesicht richtig deutete, lächelte er sogar. Verliebter Gockel. Und ich saß in der Falle. Verzweifelt sah ich mich um.
Vor der Längswand gegenüber den Boxen standen Kisten, Regale, Schränke. Da würde ich keinen heimlichen Weg nach draußen finden. Meine einzige Chance waren die Außenfenster in den Pferdeboxen. Ich wartete, bis Messerstimme außer Sicht war, dann schlich ich mich zu meiner Box zurück. Dieses Mal ging ich richtig hinein und sah sogleich, dass ich völlig umsonst in Panik verfallen war. Die Box hatte kein Fenster nach hinten, sondern eine zweigeteilte Tür. Ich brauchte bloß den Riegel wegzuschieben, dann konnte ich auf der anderen Seite aus dem Stall marschieren.
Begriffen, getan. Schon stand ich wieder im Regen, der nicht mehr ganz so stürmisch war, und im Matsch des Pferdeauslaufs. Um beide Hände für die Kletterpartie über den Zaun am Ende des Auslaufs frei zu haben, schob ich die Schlüssel unter die Schnürung des Schuhs und band sie mit dem Schnürsenkel fest. Ein letzter Blick Richtung Stall. Nicht mal die Pferde interessierte, was ich hier trieb. Dennoch lief ich geduckt zum Zaun. Falls Messerstimme in den Stall zurückkehrte, würde er mich bei einem flüchtigen Blick nach draußen nicht sehen können.
Der Zaun selbst bot Griffe und Tritte in Hülle und Fülle. Den nahm ich im Nu. Allerdings trennte mich immer noch die Mauer von der Straße. In der Hoffnung darauf, dass ich am Ende wieder auf einen Zaun und nicht auf eine zu hohe Mauer stoßen würde, stapfte ich über die Wiese – oder den Acker –, Pfützen ohne Ende. Jans Laufschuhe waren jetzt schon heillos versaut.
Dicht an der Mauer war der Boden etwas besser und die Chance geringer, dass mich Messerstimme entdeckte. Während ich dort langschlich, überlegte ich, ob ich mir nicht besser eines der Pferde hätte schnappen sollen, um darauf nach Dishoek zu galoppieren. Wer wusste, wie viel Zeit mir blieb, das Beweisschuhdiebesgut zu sichern.
Zugegeben: Ich konnte nicht reiten, selbst auf dem Kinderkarussell hatte ich immer Fortbewegungsmittel mit Rädern gewählt. So ein Pferd und ich, das würde weder gut gehen noch traben.
Ich stolperte und verlor fast den Schlüsselschuh. Instinktiv suchte ich Halt an der Mauer – und griff in einen Holzstapel. Wo hatte ich meinen Kopf? Anstatt über das Pferd als Fluchttier nachzusinnen, sollte ich besser die Augen aufhalten und die Möglichkeiten nutzen, die vor mir lagen – beziehungsweise neben mir aufgestapelt waren.
Zuvorkommenderweise waren die Holzscheite nur etwa hüfthoch aufgeschichtet. Mit Mühe hangelte ich mich hoch. Der Rest der Mauerüberquerung war ein Klacks. Auf der anderen Seite kam ich besser vorwärts und fand wenig später sogar mein fiets wieder.
Dank Rückenwind erreichte ich die Hauptstraße schnell und fuhr in den Kreisverkehr. Domburg, Westkapelle, Zoutelande, Dishoek. Auf gute fünfzehn Kilometer schätzte ich die Strecke. Eigentlich kein Problem. Wenn nur Messerstimme noch nicht gemerkt hatte, dass die Schlüssel verschwunden waren, und auf die Idee kam, sie auf der Straße zu suchen.
Ich trat in die Pedale. Scheinwerferlicht erfasste mich. Vom Parkplatz des »ZeeOm« fuhr ein Wagen direkt in den Kreisel. Sah der Fahrer mich nicht? Ich bremste, das Auto stoppte und kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen.
»Spinnst du? Hast du sie noch alle?« Mit weichen Knien brüllte ich die verschwommene Gestalt hinter der Windschutzscheibe an. Die Scheibenwischer setzten aus. Die Hupe ertönte, und die Wischer setzten sich wieder in Bewegung. Ein deutsches Nummernschild, E … – Jetzt erkannte ich den Wagen. Das war doch der Kombi von Björn. Ich schob mich mit dem Rad zwischen den Beinen zur Fahrertür.
»Bitte, du musst mich mitnehmen.« Ich rief schon, obwohl die Tür noch nicht offen war. »Bitte.«
Björn ließ die Scheibe ein wenig herunter. Ich wiederholte meine Bitte, redete schneller, als die Regentropfen fielen, sagte, wo ich hinmusste und warum.
Mit gerunzelter Stirn winkte Björn, dass ich beiseitegehen sollte, aber ich ließ ihm keine Wahl. Wenn es sein musste, würde ich mich vor das Auto werfen, den Türgriff nicht mehr loslassen, er musste mich zu dem Bunker fahren. Das dauerte doch nicht lange.
»Ich lege auch was unter, damit der Sitz nicht nass wird.«
Der Satz weckte Björn aus seiner Sprachlosigkeit. Er drehte sich zur Rückbank und kramte nach etwas, das sein Auto schützen würde.
»Danke, danke, danke.« Ich schob das Rad auf die Verkehrsinsel, lief vor dem Auto zur Beifahrerseite, nicht dass Björn es sich noch anders überlegte, und öffnete die Tür.
»Hier.« Er reichte mir ein paar Müllsäcke heraus. »Zieh die über deine Schuhe und mach in einen ein Loch rein und streif ihn über.«
Einen weiteren hatte er bereits über die Lehne gezogen und stopfte gerade noch einen über dem Sitz fest. Das sollte doch eigentlich reichen, aber weil er es unbedingt wollte, bohrte ich ein Loch für den Kopf, zwei für die Arme, stülpte mir den Sack über und verpackte die Matschschuhe in zwei weiteren Säcken, deren Enden ich um die Beine verknotete. Erst dann ließ ich mich auf den Sitz fallen.
»Fahr los«, drängte ich. »Ich lotse dich. Im Kreisverkehr gleich wieder raus, nach Domburg. Bitte, nun fahr doch endlich.«
Björn rieb sich über den Kopf.
Begriff er nicht? Ich hatte ihm doch gerade alles erklärt.
»Du glaubst doch nicht etwa immer noch, dass ich die Mörderin bin? Warum sollte ich dann nach Dishoek in einen Bunker wollen?«
»Ich muss zur Apotheke.« Langsam steuerte er den Wagen in den Kreisverkehr und gleich darauf wieder hinaus. »Danach kann ich dich zu dem Bunker fahren, aber ich habe nicht verstanden, was das mit den Morden zu tun haben soll.«
Ich holte tief Luft. Max als Mörder. Es ging mir nicht in den Kopf, dass er kaltblütig genug dazu war, aber ich hatte mich schon einmal getäuscht. Ich sollte meinen Bauch und mein Herz vergessen. Fakten waren das Einzige, das zählte. Und die versuchte ich jetzt Björn darzulegen. Jemandem etwas zu erklären, ist das beste Mittel, um festzustellen, ob man selbst alles verstanden hat.
»Max? Wer ist Max?«
»Der Empfangsyogi.« Ich schüttelte den Kopf. »Hätte ich ihn nicht mit eigenen Augen mit dem Typ reden sehen, der hinter der Sache steckt, wäre ich nie auf ihn gekommen. Ich hoffe, man versteht die Aufnahme, die ich gemacht habe.« Ich tastete nach meinem Handy, kam aber vor lauter Müllsack nicht an meine Hosentasche.
»Aber warum?« Björn warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.
Wir erreichten Domburg. Ich ließ Björn geradeaus durch den Ort fahren. Bei dem Wetter war das kein Problem. Über den Deich ging es weiter nach Westkapelle.
Björn räusperte sich. »Was ist denn nun mit diesem Max? Ist das der, der gestern mit Prem am Empfang stand, als ich gekommen bin?«
»Ja, er hat getötet und Schuhe geklaut. Das hört sich jetzt albern an, ich weiß, aber den Schuhklau kann ich beweisen. Deswegen muss ich so schnell es geht nach Dishoek, um die Schuhe sicherzustellen.« Ich lockerte den Knoten des Müllsacks, in dem der Schlüsselschuh steckte, so weit, dass ich an den Schuh kam, und fingerte an der Schlüsselverschnürung herum.
»Ist da auch das Testament?«
Verwirrt hielt ich inne. »Welches Testament?«
»Gestern, als der Strom weg war, ähm, als er dann wieder da war, hat Prem darüber gesprochen. Du warst doch auch am Empfang und hast es gehört.« Björn beschleunigte. »Warum sonst hat Max ihn denn umgebracht?«
»Weil … pass auf, hier ist dreißig, und da kommt gleich eine Kurve.«
Wir fuhren viel zu schnell nach Westkapelle hinein, ich krallte mich am Türgriff fest, schon nahmen wir mit quietschenden Reifen die Kurve.
»’tschuldigung.« Björn umklammerte das Lenkrad. Er fuhr immer noch zu schnell, aber die Straße führte nun gerade durch den Ort. Zumindest bis zum Leuchtturm. »Aber ich versteh das einfach nicht.«
»Auftragsmord.« Erst als wir aus Westkapelle hinausfuhren, ließ ich den Türgriff wieder los und beugte mich erneut vor.
»Was machst du da?«
»Die Bunkerschlüssel ab.«
»Du trägst die Schlüssel im Schuh?«
Ich richtete mich auf, deutete auf meinen Müllsackponcho und musste kichern. »Hab meine Clutch nicht dabei.«
Björn runzelte die Stirn.
»Hey, das war ein Witz.«
Humor ist, wenn man auch als Hauptverdächtige in einem Mordfall noch lacht. Er lachte nicht, aber er wurde ja auch nicht verdächtigt.
»Bleib auf der Hauptstraße«, wies ich nun an, als er den Blinker setzte, um an den Dünen entlang durch Zoutelande zu fahren. »Den Schildern nach. Irgendwann muss ein Abzweig nach Dishoek kommen.«
Ich tauchte wieder ab. Meine Finger waren kalt, die Schnürsenkel nass und matschig, die Schlüssel glitschig, und der Knoten hatte sich natürlich zugezogen. Je ungeduldiger ich wurde, desto fester zog er sich. Ich wollte Björn schon nach einem Taschenmesser fragen, als sich der Knoten endlich löste. Vorsichtig ließ ich die Schlüssel vom Schnürsenkel gleiten, hielt sie dann fest umschlossen und band den Sack wieder zu.
»Und jetzt?«
Ruckartig sah ich auf. Wir waren in Dishoek. Ich hieß Björn, der Vorfahrtstraße zu folgen. Das klang deutlich souveräner, als zuzugeben, dass ich keine Ahnung hatte, wo hier ein Bunker sein sollte. In Zoutelande gab es ein Bunkermuseum, das hatte ich schon besichtigt, aber das half mir hier und jetzt auch nicht weiter.
Wir rollten an Hotels und Ferienhäusern vorbei auf einen Platz, hinter dem steil ein Strandaufgang in die Dünen startete. Angestrengt spähte ich in den Nieselregen und scannte die Schilder auf ein Zeichen.
»Da! Halt, nach rechts.« Im letzten Moment hatte ich das Schild gesehen, das auf einen Weg zwischen Dünen und Ferienhaussiedlung zeigte.
Mit quietschenden Reifen bog der Wagen in die schmale Straße ab. Auch hier war keine Menschenseele zu sehen. Nicht einmal in den Ferienhäusern brannte Licht.
Dann waren wir schon wieder aus dem Ort heraus. Links von uns die Dünen, rechts ein Wald. Ein Schild tauchte auf und wies nach links. Schwungvoll fuhr Björn in die Kurve, eine steile Auffahrt lag vor uns. Björn gab Gas, ich wurde gegen die Rückenlehne gepresst, gleich hoben wir ab. Da tauchte ein Gittertor auf. Ich schrie, Björn bremste, der Gurt schnitt mir in die Brust, im Fußraum purzelten irgendwelche Dinge durcheinander. Millimeter vor dem Tor kamen wir zum Stehen. Ich löste den Gurt, riss die Tür auf und stolperte aus dem Wagen. Das war gerade noch einmal gut gegangen.
Ich atmete durch, dann sah ich zum Tor. Hinter dem Gitter lag ein asphaltierter Platz, dahinter erhoben sich die Dünen. Kein Bunker in Sicht.
Ein kurzes Hupen ließ mich zum Wagen sehen. Björn wedelte mit der Hand zum Tor. »Willst du nicht aufschließen?«
»Doch, ja.« Ich beugte mich zu meinen Schuhsäcken und wollte mich gerade aus ihnen befreien, als ein Farbtupfer auf dem Boden meine Aufmerksamkeit erregte. Direkt neben meinen Müllsackschuhen lag eine violette Holzblüte. So eine hatte ich doch schon einmal gesehen. Mein Herz hämmerte mir fast das Hirn aus dem Kopf. Die Blütenflipflops. Wahrscheinlich hatte Max nicht bemerkt, dass er eine Blüte verloren hatte. Jetzt hatte ich ihn!
»Was ist denn?« Björn klang ungeduldig, aber das war mir egal. Ich riss ein Stück von meinem Müllsackponcho ab und hob damit die Blüte auf. Sollten Fingerabdrücke darauf zu finden sein, würden es nicht meine sein.
Wieder hupte es.
»Sieh mal, was ich hier habe!« Mit einem dicken Grinsen im Gesicht wandte ich mich zum Auto und hielt die Blüte hoch, sodass Björn sie sehen konnte. »Die ist von Arushas Flipflops. Max muss sie hier verloren haben. Jetzt –«
»Gib her.« Björn lag halb über dem Beifahrersitz und streckte den Arm aus.
Erstaunt sah ich ihn an.
»Lena«, presste er hervor. »Sie … wenn die Blüte tatsächlich von ihrer Schwester ist, dann wird sie sie haben wollen. Eine Erinnerung, verstehst du? Auch für das Kind.«
»Aber erst müssen wir sie der Polizei geben. Nach Abschluss des Falls händigen sie euch bestimmt Arushas Sachen aus.«
»Jetzt gib schon her.« Björn hielt die Hand auf.
Vorsichtig schlug ich den Müllbeutelfetzen um die Blüte und legte das kleine Paket in Björns Hand. Dann eilte ich zum Tor, öffnete das Vorhängeschloss mit Schlüssel eins, löste die Kette und drückte das Tor auf. Auf der anderen Seite des Platzes stand ein Müllcontainer, rechts davon führte eine Treppe in die Dünen. Dort musste der Bunker sein.
Ich schaute mich zum Auto um. »Wartest du noch?«
Björn nickte.
Hastig zerrte ich die Müllsäcke von den Beinen, lief zum Container und schob den Deckel auf – keine Schuhe. Das wäre auch zu einfach gewesen. Also die Treppe hoch. Beim Versuch, zwei Stufen auf einmal zu nehmen, stolperte ich. Ich sollte wirklich langsam wissen, dass ich in Jans Tretern nur vorankam, wenn ich achtsam einen Fuß vor den anderen setzte. Betonung auf vor!
Atemlos kam ich schließlich oben an und erblickte den Bunker, der in die Dünen hineingebaut war. Auf einer Metalltür, die aussah, als stammte auch sie noch aus dem Zweiten Weltkrieg, war ein Informationsschild angebracht, und auf dem Beton prangte ein großes lilafarbenes Peace-Zeichen. Im Regen schimmerte die Farbe dunkler, beinahe violett – wie die Blüte.
Ich blinzelte. Das Holz hatte den Farbton nicht verändert. Die Flipflopblüte hatte sich auch nicht nass angefühlt, hatte nicht so ausgesehen, als hätte sie schon länger draußen gelegen. Das ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Max hatte Messerstimme nicht gehorcht, war trotz Verbots und ohne Schlüssel hergefahren und hatte beim Entsorgen den Blütenkopf verloren. Oder aber die Blüte war in Björns Auto gewesen und herausgefallen, als ich ausgestiegen war.
Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich riss mich zusammen. Björns erstes Wort beim Anblick der Blüte war Lena gewesen. Die Erklärungen im Anschluss hatte er nachgeschoben. Ich schluckte. Die Polizei hatte einen einzelnen Flipflop auf dem Parkplatz gefunden. Ohne Blüte. In Lila, Violett.
Mein Herz hämmerte, wollte nicht, dass mein Kopf den einzig logischen Schluss zog. Kain hatte es vorgemacht. Die meisten Morde wurden durch Menschen aus dem näheren Umfeld begangen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Konnte es sein, dass Lena den ersten Mord und Max im Auftrag von Messerstimme den zweiten vollzogen hatte?
Hinter mir keuchte Björn die Stufen herauf. »Und?«
Ich rieb mir die Arme und starrte auf das Friedenszeichen. Wusste Björn, dass Lena ihre Schwester umgebracht hatte?
»Fahr ruhig, wenn du es eilig hast. Aimée soll nicht auf ihre Medizin warten. Ich komme schon klar.« Meine Finger umklammerten die Schlüssel. Unauffällig schaute ich zur Treppe.
»Hast du keine Angst, dass dieser Max herkommt?« Björn blieb stehen und sah zu mir hoch. »Ist ziemlich einsam hier. Ich hätte ein schlechtes Gefühl, dich hier allein zu lassen.«
Ein schlechtes Gefühl hatte ich auch. Wenn jetzt auch noch Messerstimme jemand schickte oder selbst vorbeikam …
»Warte und behalte die Zufahrt im Auge!«, rief ich Björn zu. »Ich sehe rasch nach, okay?«
Er nickte.
Ich traute ihm nicht, aber inzwischen traute ich niemandem mehr. Schnelligkeit war das Gebot der Stunde. Ich steckte Schlüssel zwei in das Schloss der Bunkertür und öffnete sie. Ein Schwall kalte und zugleich miefige Luft schlug mir entgegen. Der Raum selbst war stockdunkel. Ich schob eine Hand in die Kälte und tastete vergeblich nach einem Lichtschalter.
»Hast du eine Taschen…« Ich wandte mich um und schrie auf. Björn stand nicht an der Treppe, von wo aus er die Zufahrt hätte sehen können, sondern direkt hinter mir. »Hast du mich erschreckt.«
»Tut mir leid.« Er zückte sein Handy, aktivierte die Taschenlampenfunktion und leuchtete in das Innere des Bunkers. Grauer Betonboden, eine graue Wand. Björn bewegte den Strahl zur Seite. Dunkle Müllsäcke, mindestens drei Stück, allesamt zugebunden. Hastig trat ich näher und zerrte an dem Band, mit dem der erste verschnürt war, musste aber feststellen, dass Max ganze Arbeit geleistet hatte. Ungeduldig bohrte ich mit meinem Zeigefinger ein Loch. Dann sah ich die ersten Flipflops. Triumphierend zog ich einen heraus und drehte mich damit zur Tür. »Die Schuhe. Garantiert mit Max’ Fingerabdrücken darauf. Lass uns die Polizei anrufen.«
Weitere Flipflops fielen aus dem Sack. Ein roter, viele dunkle, das würde dauern, die zu Paaren zu sortieren. Max hatte reichlich Beute gemacht, aber warum hatte Lena Arushas Flipflops mitgenommen? Und warum hatte sie sie ausgerechnet im Auto ihres eigenen Mannes versteckt? Wie viel wusste Björn?
Mein Herz trommelte. Stakkato-Style. Mit schweißnassen Fingern fuhr ich unter meinen Müllsackponcho und tastete nach meinem Handy. Atmete. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Meine Hand schob sich in die Hosentasche. Leer! Ich presste die Lippen zusammen. Atmete durch die Nase ein. Durch den Mund wieder aus.
»Wie wäre es mit einem Geständnis?«
Ich fuhr herum.
Herausfordernd hielt Björn sein Smartphone in meine Richtung. Nahm er das etwa auf?
»Max war es. Dass Lena –«
»Bleib, wo du bist.« Er wich zurück. »Sag, dass es dir leidtut, und alles wird gut.«
Ich blinzelte. Im Gegenlicht wirkte seine Gestalt bedrohlich. Breitbeinig stand er in der Tür und ließ keinen Zweifel daran, dass er mich nicht vorbeilassen wollte.
Ich holte tief Luft. »Es tut mir leid. Es tut mir leid.« Mit einem Schrei schleuderte ich Björn den Flipflop ins Gesicht und sprang, wollte den Fuß in Richtung Genitalien kicken, blieb aber mit der Spitze an einer Unebenheit im Boden hängen. Björn erwischte meinen Fuß und riss ihn hoch. Ich fiel nach hinten, knallte mit dem Steiß auf den Boden und landete auf dem Rücken. Schnell rollte ich mich zur Seite weg, rappelte mich hoch, aber Björn versperrte mir den Weg nach draußen.
»Wir können die Blüte zu den Flipflops tun.« Atemlos deutete ich auf die Müllsäcke. »Sie werden denken, dass Max beide Morde begangen hat.«
»Warum sollten sie?« Björns Stimme klang höhnisch. Er richtete den Strahl seiner Handytaschenlampe auf mich.
»Ich …« Schützend hob ich die Hand.
»Ja, genau, du. Du warst es.«
Ich senkte den Kopf und rammte ihn Björn in den Bauch. Der stolperte nach hinten, versetzte mir noch einen Stoß und schlug die Tür von außen zu. Augenblicklich war es schwarz um mich herum, völlige Dunkelheit.
»Lass mich raus! Das hat doch keinen Sinn. Früher oder später kommen sie drauf, dass Lena es war.«
»Lena hat nichts getan«, klang es dumpf von draußen. Dann knackte es im Schloss.
»Nein!« Mit aller Kraft warf ich mich gegen die Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. »Miriam weiß Bescheid«, schrie ich. »Ich habe ihr alles gesagt. Sie weiß, wo ich bin, und wenn ich mich nicht bei ihr melde, informiert sie die Polizei.«
»Tut sie nicht«, kam es zurück. »Sie hat extra deinen Weiberhelden Jan angerufen und ihn zum Reiterhof geschickt. Allerdings war ich schneller.«
»Wenn Jan mich sucht, wird er mich auch finden.«
»Sei still! Du hast doch keine Ahnung. Genauso wenig wie Arusha. Ich bin mehr Mann, als ihr denkt. Und Lena wird das auch wieder begreifen.«
»Was soll Lena begreifen?«
Auf der anderen Seite blieb es ruhig.
»Björn?«
Nichts.
Ich presste mein Ohr gegen die Eisentür, hörte aber nur mein eigenes Blut rauschen.
»Verdammt, mach auf! Das ist nicht lustig.«
Das fand mein Herz auch. Es raste, als wollte es notfalls ohne mich von hier verschwinden. Ich ging in die Knie.