21
Zweisamkeit – saamhorigheid
Mittwochabend
Es wurde hell und heller, aber das Licht am Ende des Lebens war keineswegs so angenehm, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich kniff die Augen zusammen. Warum sagte einem niemand, dass man zum Sterben besser eine Sonnenbrille aufsetzte? Und dass Gott, oder wer auch immer da sprach, diesen süßen holländischen Akzent hatte?
Unwillkürlich musste ich lächeln. Dann begriff ich, dass vor mir nicht der Erlöser, sondern mein Retter stand, der gerade in die Knie ging und drauf und dran war, mich in die Arme zu nehmen und mir neues Leben einzuhauchen. Vielleicht war es an der Zeit, ein Lebenszeichen von mir zu geben.
»Björn«, krächzte ich.
»Björn?« Stehl-den-Freund berührte meinen Arm. »Nein, ich bin Julian, Julian Doorn. Tut was weh? Sind Sie verletzt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sicher?«
Die Worte wollten nicht. Also nickte ich. Ein herber, leicht erdiger Geruch stieg mir in die Nase. Mann, roch das himmlisch – himmlisch irdisch. Ich fürchtete, dass ich dümmlich grinste, als Doorn die Arme um mich schlang und mir half, mich aufzusetzen.
»Björn ist der Mörder. Er hat Arusha umgebracht.«
»Hat er Ihnen das gesagt?«
»Er hatte eine Blüte von Arushas Flipflops im Auto, aber ich habe das zu spät begriffen. Da hatte er mich schon eingesperrt.« Ich sah zur Tür. Ich Idiot. Vor meinen Augen verschwamm alles.
»Hey, alles goed.«
Die holländische Aussprache rettete mich erneut. Ich schniefte und blinzelte die Tränen weg. »Wie haben Sie mich gefunden?«
Doorn lächelte und deutete auf meine Füße. »Der GPS-Tracker in Ihren Schuhen. Ihre Freundin und Luhdo haben uns die Daten geliefert.«
Fassungslos starrte ich auf Jans Laufschuhe. Ein Sanitäter schob sich neben Doorn und wollte wissen, wie es mir ging. Ein zweiter kam hinzu. Doorn überließ mich den beiden und verschwand nach draußen. Mit Hilfe der Sanitäter schaffte auch ich es aus dem Bunker. Frische Luft. Blauer Himmel unter weißen Wolkenfetzen, die der Wind über die Dünen jagte. Sein Tosen in meinen Ohren. Meine Helfer wickelten mich in eine Rettungsdecke, als wäre ich eine Backkartoffel.
Doorn stand in den Dünen und telefonierte. Er sah mich an und lächelte. Mein Blick wanderte zurück. Der Bunker duckte sich in die Dünen, als wollte er sich darin verstecken.
»Let’s go.« Die Sanitäter trugen mich mehr die Treppe hinunter, als dass ich ging, aber es half mir, mich wieder ansatzweise wie ein Mensch zu fühlen.
Im Hof standen Polizeiwagen, Rettungswagen, sogar das Blaulicht war noch an. Wenn mir nicht noch ein bisschen schummrig gewesen wäre, hätte spätestens das kreisende Licht mich wieder dahin gebracht. Die Sanitäter lotsten mich zum Rettungswagen.
»Ich bin okay. Wirklich.« Mir war nur kalt und etwas schwindelig, mein Hals tat weh, und ich wollte hier weg, aber keinesfalls in ein Krankenhaus. Etwas Warmes zum Anziehen und etwas Heißes zu trinken, danach würde es mir wieder gut gehen. Aber die Sanitäter ließen sich nicht davon abhalten, mich durchzuchecken. Ein ordentlicher blauer Fleck am Hintern würde mir noch einige Freude bereiten, und aus den Halsschmerzen könnte vielleicht eine Erkältung werden. Ich nickte und trank gierig aus der Wasserflasche, die sie mir reichten.
Am Tor wurden Stimmen laut. Doorn beendete sein Telefonat und sorgte dafür, dass Miriam und Jan zu mir durften.
»Hey, Süße, was machst du für Sachen?« Miriam umarmte mich und drückte mich so fest, dass mir fast die Luft wegblieb. Dann gab sie mich für Jan frei.
Doorn räusperte sich. »Wir haben ihn. Meine Kollegin hat Tenge vorläufig festgenommen. Soll ich Sie alle wieder mit zum ›ZeeOm‹ nehmen?«
»Ja.« Ich warf einen Blick zum Bunker. Hier wollte ich ganz bestimmt nicht bleiben.
Miriam wickelte mir eines ihrer Tücher um den Hals. »Passt super zu der Glitzerdecke. Jetzt bist du der hübscheste Eiswürfel, den ich je gesehen habe.« Dann schob sie sich auf den Beifahrersitz.
Jan und ich nahmen auf der Rückbank Platz. Doorn startete den Wagen und drehte die Heizung hoch. Wahrscheinlich würden die anderen gleich Saunagefühle bekommen, aber mir konnte es nicht warm genug sein.
Am »ZeeOm« angekommen, fuhr Doorn direkt bis zur Burg vor. So eine Fahrt mit der Polizei hatte durchaus ihre Vorzüge. Wir stiegen aus, und sofort legte Jan wieder den Arm um mich, während Miriam an meine andere Seite trat.
»Ab unter die Dusche mit dir, und dann essen wir was.« Miriam sah zu Doorn. »Wir dürfen das ›ZeeOm‹ doch verlassen, oder?«
»Oh ja, bitte«, bettelte ich. »Ich will ans Meer. Bloß keine Mauern um mich rum. Oder brauchen Sie mich für eine Gegenüberstellung?« Unsicher warf ich Stehl-den-Freund einen Blick zu.
»Nein, wir werden jetzt erst mal Tenge vernehmen. Alles andere hat Zeit.« Doorn ging voran ins Gebäude. In der Empfangshalle wandte er sich noch mal um. »Zumindest solange Sie keine weiteren Alleingänge planen.«
»Ich lasse sie nicht aus den Augen.« Jan zog mich an sich.
Bevor ich protestieren konnte, kam Miss Effizient auf uns zu, das heißt, auf Stehl-den-Freund, den sie gleich auf den neuesten Stand brachte. Björn wartete wohl in einem der Büroräume auf die Vernehmung. Sein Auto wurde gerade von einem forensischen Team untersucht.
»Was ist mit Max?« Ich sah zum Tresen, hinter dem einer der Aushilfsyogis saß. Verdammt, wie hatte ich das vergessen können? »Max war es, der Prem umgebracht hat. Im Auftrag von einem Typen von dem Reiterhof in der Nähe, ich nehme an, dem Eigentümer, diesem Rietveld.«
Vermeer warf mir einen beinahe schon mitleidigen Blick zu, sagte aber nichts, sondern überließ mich ihrem Chef. Der runzelte die Stirn und fragte sie, wo Max sei.
Zufrieden nickte ich. Nahm er endlich ernst, was ich sagte. Nur Miriam schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Jeder andere, aber nicht –«
»Bitte.« Doorn hob die Hand. »Wir kümmern uns darum.«
»Untersuchen Sie die Schuhe im Bunker. Da sind garantiert seine Fingerabdrücke drauf. Von ihm stammen bestimmt auch die Flyer. Erst die Sabotage, dann der Mord.«
»Die Kollegen sind dabei.« Doorn sah mich ernst an. »Aber Sie halten sich raus. Versprochen?«
»Ja«, antwortete Jan.
»Und was ist mit Rietveld?« Ich richtete mich auf. Max war nur ein armer Kerl, der es nicht besser wusste. Okay, Mord war Mord, aber die wollten den Drahtzieher doch wohl nicht davonkommen lassen?
»Wir kümmern uns darum«, wiederholte Doorn, und dieses Mal ließ ich es gut sein.
Nach einer ausgiebigen Dusche zog ich meine warmen Klamotten an, zum Schluss den kuschligen Kapuzenpullover. Zwei dicke Paar Socken übereinander füllten Jans Laufschuhe wenigstens ein bisschen. Den GPS-Tracker ließ ich, wo er war. So eine kleine Sicherheitseinlage konnte nicht schaden. Dann machten wir uns auf den Weg an den Strand. Die Bewegung, die Geräusche, die Farben um mich herum taten mir unendlich gut.
Miriam war immer noch mit Max beschäftigt. Wenn ich ihn nicht zusammen mit dem Reitersmann gesehen und gehört hätte, ginge mir das vielleicht ähnlich. Jan und sie diskutierten beide Mordfälle, aber mir war nicht nach Reden. Ich blendete sie aus und konzentrierte mich auf das Knirschen der Kieselsteine, als wir an der Yogawiese vorbei in den Wald gingen, genoss jeden Vogel, den ich hören konnte, das Knacken der Äste, das Surren der Räder einer Mountainbikegruppe, die über den fietspad raste – und dann den Blick über die Dünen, den Strand, das Meer. Ganz tief füllte ich meine Lungen mit der salzigen Luft und schwor mir, mich niemals wieder in Mordermittlungen einzumischen.
Im Strandpavillon fanden wir einen windgeschützten Platz auf der Terrasse. Ich kuschelte mich in eines der beiden Loungesofas, während Miriam und Jan ins Café verschwanden. Kurz darauf kam Miriam mit einem Stapel Decken zurück. Sie reichte mir eine und packte die restlichen auf die Sofalehne neben mich. Auch wenn es nach dem Gewitter vom Morgen wieder schön geworden war, galt das nicht für die Temperaturen. Wenigstens sorgte der immer noch kräftige Wind dafür, dass Schaumkronen auf dem Meer tanzten, die auch weit draußen noch hell strahlten. Ich schlüpfte aus den Laufschuhen, zog die Beine unter und wickelte mich in eine weitere Decke.
»Wollen wir nicht doch reingehen?« Miriam sah mich besorgt an. »Nicht mal die Raucher sitzen draußen.«
»Alles gut. Oder ist dir kalt?« Ich deutete auf die Decken. »Nimm dir ruhig eine. Die reichen für eine ganze Garnison.«
»Vielleicht später. Nicht dass ich mich auch verkühle.« Miriam lächelte. »Hoffentlich bist du morgen fit genug, um mit zur letzten Yogastunde zu gehen. Cahaya bietet für alle, die mögen, eine Abschiedsstunde am Strand an.«
»Oh, wie schön.« Ich freute mich, freute mich ehrlich.
»So die Damen!« Jan kam aus dem Strandpavillon und spielte den Kellner. Er setzte ein Tablett mit Getränken auf unserem Tisch ab, reichte Miriam ein Glas Rotwein und hielt mir einen Becher hin, aus dem es dampfte. »Ein Tee tut deiner Stimme gut.«
Kamille. Ich verzog das Gesicht.
»Was ist? Hast du Schmerzen? Soll ich dich doch ins Krankenhaus bringen?«
»Nein, schon gut. Ich vertrage nur keinen Kamillentee, und auf leeren Magen schon gar nicht.«
Wir bestellten. Nach der zeeländischen Fischsuppe teilten wir uns die Hauptgerichte. Gebratene Muscheln, ein Rote-Bete-Burger, okay, den probierte ich nur, Fisch – und reichlich chips, also Fritten. Wir waren gerade beim Espresso, als Doorn kam.
»Geht’s Ihnen besser?« Er zog sich einen Stuhl hinzu, stellte die Papiertüte ab, die er dabeihatte, und setzte sich. »Das war schon ziemlich leichtsinnig von Ihnen, den Mörder auf eigene Faust schnappen zu wollen.«
»Von wegen leichtsinnig. Hätte ich gewusst, dass Björn Arusha umgebracht hat, wäre ich niemals zu ihm ins Auto gestiegen, geschweige denn, in den Bunker gegangen. Hat er den Mord an ihr gestanden?«
Doorn nickte.
Ich atmete durch. Doch die Erleichterung hielt nicht an. In meinem Kopf ratterte es. »Haben Sie denn nicht kontrolliert, wo Björn zur Tatzeit gewesen ist? Ich dachte, die Familie wird immer zuerst überprüft.«
»Wird sie und haben wir.« Doorn blieb ruhig. »Zuerst sah auch alles danach aus, als sei Tenge wie angegeben in Essen gewesen. Aber er hat es zu gut machen wollen. Ein Alibi durch einen Squash-Abend mit nachfolgendem Saunabesuch. Sollten wir herausfinden, dass sich die Zeugen im Datum vertan haben, baute er auf die Nachbarn. Denen war die Festtagsbeleuchtung tatsächlich aufgefallen, aber eben auch, dass sie um zweiundzwanzig Uhr dreißig schlagartig ausging.«
»Zu gut?« Ich schnaubte. »Eine Zeitschaltuhr so blöd zu programmieren, ist ja wohl alles andere als zu gut.«
»Genauso wie ein Yogazentrum als Tatort zu wählen.« Doorn schüttelte den Kopf. »Ich kann verstehen, dass er die Tat nicht zu Hause begeht, aber in einem öffentlichen oder doch halböffentlichen Gebäude ist es Wahnsinn.«
»Stimmt.« Miriam nickte. »Noch dazu, wo seine Frau auch da war. Hatte er keine Angst, dass sie verdächtigt wird?«
»Seine Angst, sie zu verlieren, wenn er den Plan aufschieben würde, war größer.« Doorn seufzte. »Lena hatte sich kurzfristig entschlossen, ihre Schwester zu begleiten. Tenge hatte noch versucht, sie umzustimmen, aber als das nicht gelang, wertete er es als weiteres Zeichen, dass er handeln musste.«
»Arusha hatte bis zum Schluss versucht, mich zum Mitkommen zu überreden.« Jan ballte die Hand. Als er meinen Blick bemerkte, schob er sie in die Hosentasche. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum er sie umgebracht hat. Bei Arusha ist wirklich nichts zu holen.«
Ich berührte seinen Arm. »Sie hat ihn nicht ernst genommen, was sich wohl auch auf Lena übertragen hat. Jedenfalls wollte er, dass Lena ihn wieder als Mann sieht.«
»Na, da würde mir was Besseres einfallen als erdrosseln.« Jan leerte sein Bier. »Sorry. Blöder Spruch. Wollt ihr auch noch was trinken?«
»Puh, ja.« Miriam winkte der Bedienung zu, und wir bestellten. Bier, Schnaps und für den hoofdinspecteur einen Kaffee.
Als die Getränke da waren, berichtete Doorn. Ich umschlang meine Knie. Es war einmal – eine Märchenstunde in Sachen Mord. Selbst jetzt konnte ich kaum glauben, was alles passiert war. Und warum.
Björn hatte seine Schwägerin umgebracht, weil sie sich zwischen ihn und Lena geschoben hatte. Mit jedem Tag, den Arusha in Deutschland war, hatte sie seine Frau zu einer anderen gemacht. Eine, die nicht mehr ihm gehörte, die sogar von Trennung sprach. Seit dem Tod der Eltern hatten die Schwestern sich nicht mehr gesehen, und Björn und Lena waren zu einer Einheit verschmolzen. Eine Einheit, die Arusha aufbrach. Sein Angebot, ihr einen Umzug nach Indien oder Bali zu finanzieren, hatte sie abgelehnt. Bis zuletzt hatte er es versucht, aber sie hatte ihn nur ausgelacht. Er sei ja nicht einmal Manns genug, Vater zu sein.
»Der Streit, von dem Rohini Haar-in-Flammen erzählt hat, war also tatsächlich zwischen Arusha und Björn.« Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Alles in Ordnung?« Doorn sah mich an. Das Schiefergrau in seinen Augen schimmerte warm.
Rasch wandte ich meinen Blick ab und sah aufs Meer.
»Der ist doch echt krank, der Typ.« Jan kippte seinen Schnaps hinunter.
»Und was ist mit Arushas Flipflops? Wollte er sie behalten? Als eine Art Trophäe? Dass eine Blüte abgefallen ist, hat er einfach nicht gemerkt, oder?«
»Lass gut sein, Miri.«
»Wieso?«
Bevor wir uns an die Kehle gingen, erklärte Doorn, dass Björn die Schuhe mitgenommen hatte, weil er nicht wollte, dass Arusha noch in der Nacht gefunden wurde. »Mit Ihnen hat er jedenfalls nicht gerechnet.«
»Sie dafür umso mehr.«
»Manches passte, insgesamt aber ergaben sich Widersprüche.«
»Widersprüche?«, krächzte ich. »Sie hatten mich doch die ganze Zeit auf dem Kieker. Mich und nur mich. Der einzige Widerspruch war mein fehlendes Geständnis.«
Stehl-den-Freund verzog das Gesicht, lächelte kurz und wurde wieder ernst. »Wir hatten anonyme Hinweise erhalten, denen wir nachgehen mussten. Ein Anruf mit unterdrückter Rufnummer, dass Ihr Freund im ›ZeeOm‹ aufgetaucht sei und fliehen wolle. Später eine Mail, die uns nahelegen sollte, dass es eine gemeinsame Tat von Ihnen beiden gewesen sei. Ich konnte nicht anders, als Sie im Auge zu halten.«
»Manchmal ist weniger mehr. Ich wünschte, das Prinzip hätten Sie auch mir gegenüber angewandt.«
Doorn wurde wirklich und wahrhaftig rot. Ich konnte es nicht fassen. Der Anblick wärmte mir das Herz. Ich kostete ihn aus, und Doorn war Manns genug, meinen Blick zu halten. Ich konnte ein amüsiertes, ja, okay, ein triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken. Er quittierte es, indem er eine Augenbraue hob.
Manchmal ist weniger mehr. Ich spürte, wie die Hitze jetzt in meinen Kopf stieg.
Doorn beugte sich vor. »Machen Sie das bitte nie wieder. Verbrecher zu jagen ist kein Gesellschaftsspiel. Krimidinner mögen angesagt sein. Von mir aus kann man da gern zeigen, was für ein heller Kopf man ist, aber in der Realität hat man nur ein Leben.«
»Meine Rede.« Jan grinste. »Du steigerst dich immer so in die Sachen rein. Hättest du die Polizei ihre Arbeit machen lassen …«
»… wäre der zweite Mord noch nicht aufgeklärt«, unterbrach ich ihn. »Was ist mit Max und seinem Auftraggeber? Als Prem und Celine die Burg nach Arushas Tod nicht verkaufen wollten, hat dieser Rietveld sich wohl gedacht, dass er den zweiten Mord einfach Mörder Nummer eins unterschieben kann. Dass Max selbst die Idee hatte, kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.«
»Halt.« Als wollte er meine Gedanken darauf aufmerksam machen, dass sie gerade über ein Stoppschild und noch dazu entgegen der Fahrtrichtung in eine Einbahnstraße schössen, hob Doorn die Hand. »Auch der Leiter des ›ZeeOm‹ geht auf Tenges Konto.«
»Wie bitte? Das kann nicht sein. Hätte ich mein Handy noch, könnte ich es Ihnen beweisen.«
»Nur zu.« Doorn reichte mir die braune Papiertüte, die er zwischen seinen Füßen abgestellt hatte. »Das haben wir im Stall des Reiterhofs gefunden.«
Ich runzelte die Stirn und zog mein Smartphone aus der Tüte. Das Display hatte ein paar Kratzer, aber das Gerät funktionierte noch. Ich öffnete die Galerie und spielte meine Aufnahme ab. Leise und mit viel gutem Willen konnte man zwei Männerstimmen hören. Wahrscheinlich war jedoch das Schnauben des Pferdes in der Box neben mir das Einzige, was man identifizieren konnte. Also wiederholte ich Max’ Worte, so gut ich mich erinnern konnte, und erklärte, dass er Prem sogar in die Fischposition gebracht hatte, um die Sabotage des »ZeeOm« zu ihrem krönenden Höhepunkt zu bringen und nebenher den Verdacht auf den ersten Mörder zu lenken. »Dass er dabei Spuren hinterlassen haben könnte, ist ihm erst später klar geworden«, schloss ich.
Doorn zog die Augenbraue hoch. »Wir haben uns schon gewundert, warum Tenge alles gesteht, nur das nicht. Er beharrt darauf, dass es ein Unfall gewesen sei.«
Ich blinzelte, versuchte, das Bild des toten Jesusjüngers wegzuklimpern. Das Blut neben seinem Kopf. In meinen Ohren rauschte es, und das war nicht die Brandung, die ich da hörte. Ich atmete tief durch. Langsam nahm ich Doorns Worte wieder wahr.
»Aber warum?«, fragte ich. »Das macht doch keinen Sinn. Was wollte Björn von Prem?«
»Tenge hat befürchtet, dass der Leiter des ›ZeeOm‹ der Vater von Aimée ist und ihnen das Kind wegnimmt. Mit der Kleinen wollte er seine Ehe retten. Deshalb hat er Herrn Brand aufgefordert –«
»Herrn Brand?« Jan sah fragend von einem zum anderen.
»Piet Brand«, sagte ich. »Alias Prem.«
Doorn nickte. »Tenge hat ihn aufgefordert, ihm Arushas Testament auszuhändigen, aber Brand hat sich geweigert.«
»Woher soll er das denn haben?« Jan rieb sich übers Gesicht. »Wenn es überhaupt ein Testament gibt. Arusha hat zwar überall rumerzählt, dass sie eins geschrieben hat, aber ich vermute, das hat sie nur gemacht, damit die Leute aufhören, ihr auf die Nerven zu gehen.«
»Das ist so bitter.« Ich lachte auf, schüttelte den Kopf und hätte am liebsten Björns Kopf ebenfalls geschüttelt. Und nicht nur seinen Kopf. Der Typ tickte doch nicht richtig. Ich schüttelte immer weiter den Kopf, bis er mir wehtat. Schmerzlich verzog ich das Gesicht.
»Brauchen Sie ein paracetamolletje?« Sachte berührte Doorn meine Schulter.
»Danke, es geht schon.« Ich räusperte mich. Dann erklärte ich, dass die Sache mit dem Testament ein Missverständnis war.
»Kein Wunder, dass Prem das Testament nicht hergeben wollte.« Miriam stöhnte. »Was soll Björn auch mit dem letzten Willen von Prems Schwiegervater?«
»Brand hat Tenge nicht ernst genommen, was den nur noch wütender gemacht hat«, sagte Doorn. »Tenge ist auf Brand zugegangen, woraufhin der ihm ausweichen wollte und gestolpert sei. Bleibt allerdings die unterlassene Hilfeleistung.« Er sprach weiter, doch ich hörte nicht mehr auf die Worte. Seine Stimme hatte einen warmen Klang, der mir vorher nie aufgefallen war. Ich ließ die Decke etwas sinken und betrachtete sein kantiges Gesicht. Um die Augen zogen sich Fältchen. Ich überlegte, wie alt er wohl sein mochte.
Er schob den Stuhl zurück.
»Björn hat Ihnen mein vermeintliches Geständnis nicht vorgespielt?«
»Nein. Ohne den GPS-Tracker im Schuh wäre es eng geworden. Das war wirklich eine gute Idee von Ihnen, Ihnen allen.« Doorn lächelte in die Runde.
»Nicht nur eine Idee, sondern ganz schön harte Arbeit.« Miriam sah ihn streng an, aber ich bemerkte, wie ihre Augen blitzten, und dann grinste sie auch schon. Sie wandte sich mir zu. »Er war kein Problem, aber bis zu ihm vorzudringen schon. Die wollten mich alle abwimmeln. Du hättest dich bestimmt nur irgendwo untergestellt wegen des Gewitters und dabei die Zeit vergessen, genauso wie dein Handy. Aber als Jan dich im Reiterhof nicht gefunden hatte und du auch auf die tausendste Nachricht nicht reagiert hattest, wusste ich, dass dir was passiert sein musste.«
»Nur gut, dass ihr an den Tracker gedacht habt.« Mit einem Mal anlehnungsbedürftig, rutschte ich tiefer in das Sofa.
»Yep.« Jan setzte sich auf. »Als wir überlegt haben, ob wir dich irgendwie über dein Handy orten könnten, ist Miriam eingefallen, dass du meinen GPS-Tracker dabeihaben müsstest. Damit hatte ich dich natürlich sofort.«
»Wir wären auch ohne Polizei gekommen, um dich zu retten, aber im Unterschied zu dir bin ich nicht so leichtsinnig.« Miriam lächelte schief. »Mach so was bloß nie wieder.«
»Da schließe ich mich an.« Doorn erhob sich. Er sah mich an. »Passen Sie auf sich auf.«
Jan legte den Arm um mich. »Das werde ich.«
Ich verdrehte die Augen. Und dann war Stehl-den-Freund auch schon auf der Treppe zum Strandübergang und verschwand Richtung Dünen. Nun ja, mich bei ihm für meine Rettung zu bedanken, das würde ich wohl nachholen müssen. Ich lächelte.
»Sieht das nicht schön aus?« Miriam sah auf die Dünen, wo die tief stehende Sonne den Strandhafer golden aufleuchten ließ. Sie stand auf und schwenkte ihr Handy. »Seid mir nicht böse, wenn ich euch ein bisschen allein lasse, ja?«
Jan nickte, und Miriam verzog sich zum Telefonieren. Ich schaute zum Meer. Gleich würde die Sonne ins Wasser fallen.
»Jan?« Mit einem Mal tat mir meine Kehle wieder weh.
»Sie hatten einen Wasserrohrbruch in dem Labor in Belgien.« Jan räusperte sich. »Fändest du es schlimm, wenn ich den Vaterschaftstest nicht erneut beantrage? Es ist nicht so, dass ich mich drücken will. Aber jetzt, wo Arusha tot ist, mag ich nicht gegen ihren Willen handeln, und Lena … ich möchte nicht, dass sie denkt, ich will ihr das Kind wegnehmen.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Aimée war alles, was Lena noch blieb. Die Schwester, kaum zurück in Deutschland, vom eigenen Mann ermordet. Und alles nur, weil Björn Lena nicht vertraut hatte.
So wie ich Jan nicht vertraut hatte. Nicht ganz zu Unrecht. Ich legte den Kopf zur Seite. »Hast du Lena gefragt, wie sie das sieht? Wenn Arusha wirklich kein Testament hinterlassen hat, würde Lena doch bestimmt wissen wollen, wer der Vater ist.«
»Nein.« Jans Muskeln spannten sich an. Erneut räusperte er sich. »Also nein, ich habe sie nicht gefragt. Ich dachte, ich rede erst mit dir darüber.«
»Mit mir? Wieso denn das?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich wollte dich nicht vor vollendete Tatsachen stellen.«
»Die Tatsachen sind doch schon längst geschaffen. Ihr habt miteinander geschlafen, und vielleicht ist dabei ein Kind gezeugt worden.« Ich bemühte mich um ein Lächeln.
»Vor unserer Zeit. Und das eine Mal …« Jan nahm sein leeres Bierglas, drehte es in den Händen. »Es zählt nicht.«
»Vielleicht bedeutet es dir tatsächlich nichts.« Meine Stimme klang so rau, wie sich mein Herz anfühlte.
»Du glaubst mir also endlich, dass ich dich nicht wirklich mit ihr betrogen habe?« Jan stieß einen Seufzer aus. »Das freut mich. Weißt du, ich habe das letztlich ernst gemeint. Eine Familie –«
»Moment.« Ich hob die Hand. »Du hast immer gesagt, dass du keine Kinder willst. Dafür seist du nicht der Richtige.«
»Ja, schon …« Jan grinste schief. »Voll das Klischee, ich weiß. Und danke, dass du mir die Zeit gelassen hast, von selbst drauf zu kommen.« Er beugte sich vor. Sein Mund näherte sich meinem.
»Warte.« In meinen Ohren rauschte es. Meine Handinnenfläche berührte seine Brust. Ich spürte sein Herz klopfen und sah in seine Augen. In ein leuchtendes Blau, das keine schlechten Nachrichten vertrug. Er machte es mir nicht einfach, aber ich wusste, dass es nicht den einen, den guten Zeitpunkt gab.
Ich holte tief Luft.