Der Stab des Hexenmeisters

„Ich komme mit“, sagte Taladon.

„Ich auch“, sagte Freya.

Aduro schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht. Das Land Gwildor hat um Hilfe gebeten. Freya muss dort ihre Pflicht als Herrin der Biester wahrnehmen. Und ich fürchte, Taladon wird dort ebenfalls gebraucht.“

Taladon lächelte. „Ich weiß, dass Tom allen Gefahren trotzen wird, die Avantia bedrohen.“

„Gwildor liegt viele Tagesritte entfernt“, sagte Freya. „Wir sollten sofort aufbrechen.“

„Nur keine Umstände“, sagte Aduro. Er hob seine Hand und schloss die Augen. Der Boden begann zu beben und Storm wieherte. Ein paar Schritte entfernt brach die festgestampfte Erde auf. Toms Herz schlug heftiger, als plötzlich der Baum des Seins rasend schnell aus dem Boden wuchs.

„Schon gut“, murmelte er seinem Hengst beruhigend zu.

„Das Portal im Baum wird euch nach Gwildor bringen“, sagte Aduro.

Der Festlärm wehte zu ihnen herüber und Tom begriff, dass die Dorfbewohner so sehr mit Tanzen und Singen beschäftigt waren, dass ihnen der neue Baum nicht aufgefallen war. Mit ihren Pferden gingen Freya und Taladon auf den Baumstamm zu. Die Rinde hatte sich bereits zu einem bogenförmigen Loch geöffnet, hinter dem pure Schwärze waberte.

Freya umarmte Tom. „Auf Wiedersehen, mein Sohn“, sagte sie traurig. „Pass auf Avantia auf. Wir werden bald wieder zusammen sein.“

„Viel Glück“, wünschte Tom. Er hatte seine Mutter gerade erst wiedergefunden und nun mussten sie sich erneut trennen.

Taladon betrat das Portal als Erster, nachdem er Tom zum Abschied auf die Schulter geklopft hatte. Freya folgte ihm. Silver bellte ihnen nach, als wolle er sich ebenfalls verabschieden. Dann verschluckte sie die Schwärze. Das Portal zitterte kurz und schon verschwand der Baum blätterraschelnd wieder in der Erde.

Tom ermahnte sich, tapfer zu sein.

„Ihnen wird schon nichts passieren“, flüsterte Elenna ihm zu.

„Ich wollte sie nicht so schnell fortschicken, aber uns bleibt keine Zeit“, sagte Aduro. „Ich kann uns zum Palast zaubern. Hol Storm.“

Tom ging zum Stall und band seinen Hengst los.

„Was ist mit Blizzard?“, fragte Elenna den Zauberer.

„Hier ist sie sicherer“, antwortete Aduro.

Silver winselte. „Du willst natürlich nicht zurückgelassen werden, nicht wahr? Seid ihr bereit?“

„Bereit!“, erwiderten Tom und Elenna.

Aduro hob die Hand. Blaues Licht hüllte sie ein und Tom wurde schwindelig. Blitzschnell waren Errinel und die Musik verschwunden.

„Wo bin ich?“, dachte Tom verwirrt. Es war dunkel und roch verbrannt.

„Oh nein!“, rief Aduro. Er nahm eine Laterne aus einer Nische in der Mauer. „Wir sind zu spät.“

„Was ist passiert?“, fragte Elenna.

Sie standen in der Nähe des Waffenlagers. Die Luft war von dichtem Rauch erfüllt. Die beiden großen eisenbeschlagenen Türflügel des Lagers hingen geborsten in den Angeln. Eine hatte ein großes Loch in der Mitte.

„Schnell“, sagte Tom. „Vielleicht ist jemand verletzt und braucht unsere Hilfe.“

Die drei rannten in den Raum.

Ein Schatten bewegte sich durch den Rauch. Toms Hand fuhr an den Schwertgriff, doch es war nur der Waffenmeister, der auf sie zutaumelte. Mit einer Hand hielt er sich seine blutende Schläfe. Tom eilte ihm zu Hilfe.

„Ich weiß nicht, was passiert ist“, stammelte der Mann.

Aduros Gesicht wurde leichenblass. „Malvel“, sagte er. „Das kann nur er gewesen sein. Ich war so dumm!“

„Schafft Ihr es in die Krankenstube?“, fragte Tom den Waffenmeister.

Der Mann nickte und stolperte los.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Elenna.

Aduro schritt durch den Raum. Tom folgte ihm zur gegenüberliegenden Wand. Der Zauberer berührte mit dem Zeigefinger eine Stelle zwischen zwei Steinen, wo der Mörtel fehlte. Konzentriert kniff er die Augen zu und zog an etwas. Tom hörte ein Klicken, gefolgt von einem dumpfen Geräusch. Die Wand öffnete sich wie eine Tür. Aduro blickte dahinter, dann stöhnte er auf und fiel auf die Knie. „Er ist weg!“

Tom sah in den kleinen Raum. Es befand sich nichts darin außer einem niedrigen Altar mit einem violetten Kissen darauf. „Was ist weg?“, fragte er. Die geheime Kammer hatte er noch nie zuvor gesehen.

„Der Stab des Hexenmeisters“, erwiderte Aduro schwach. „Malvel muss mir eine falsche Meldung aus Gwildor geschickt haben, damit ich den Palast verlasse. Dann ist er gekommen und hat ihn gestohlen.“

Aduro rappelte sich langsam auf.

Elenna legte ihm tröstend die Hand auf den Arm. „Das Königreich hat schon andere Dinge verloren: die goldene Rüstung, den goldenen Kelch, das Buch des Lebens … Wir werden den Stab finden und ihn zurückbringen.“

Aduro stützte sich gegen die Wand, seine Haut war aschfahl. „Ihr versteht nicht. Der Stab des Hexenmeisters ist etwas Besonderes. Er wurde aus dem Baum des Seins geschnitzt und verleiht demjenigen, der ihn trägt, unermessliche Kräfte.“

„Aduro sieht um Jahre gealtert aus“, dachte Tom.

„Welche Kräfte?“, fragte er.

„Die Kraft, ins Reich Seraph zu reisen“, erklärte der Zauberer. „Und das Schlimmste ist, dass Malvel unbesiegbar wird, wenn er den Stab in der Ewigen Flamme verbrennt. Dann wird ihm sein Wille ausreichen, um zwischen den Welten hin- und herzuwandern. Er wird mit unaufhaltbarer Magie über alle Königreiche herrschen.“

Tom und Elenna warfen sich einen erschrockenen Blick zu.

„Wo liegt das Reich Seraph?“, fragte Elenna. „Wir reisen dorthin und halten Malvel auf.“

„Seraph schwebt über Avantia“, sagte der Zauberer. „Es ist eine wunderbare Welt, in der Früchte süßer schmecken und Wasser wie Diamanten funkelt. Nichts Böses geschieht dort. Es gibt nicht einmal Biester – weder gute noch schlechte.“

„Warum hast du uns nie davon erzählt?“, fragte Tom.

Aduros Knie gaben nach und er fiel beinahe um. Tom stützte ihn schnell. „Seraph ist ein Geheimnis, das von Zauberer zu Zauberer weitergegeben wird“, erklärte Aduro. „Wir schwören, niemals darüber zu sprechen. Die Gefahr, dass eine böse Macht den Stab verbrennen könnte, ist zu groß. Nun ist alles verloren.“

Der Zauberer lehnte sich schwer auf Toms Schulter. „Keine Sorge“, sagte Tom. „Elenna und ich kümmern uns darum, dass Malvel keinen Erfolg haben wird.“

Aduro schüttelte den Kopf. Seine Augen waren wässrig und seine Stirn zerfurcht. „Das kann ich nicht zulassen“, sagte er. „Es ist zu gefährlich. Das wäre zu viel verlangt. Ich bin zu schwach …“

Unter dem Umhang fühlten sich Aduros Glieder furchtbar dünn an. „Da stimmt etwas nicht“, dachte Tom. „Warum ist er so geschwächt?“

„Aduro!“, rief Elenna. „Was ist mit dir?“

Der Zauberer wandte Tom sein schmerzverzerrtes Gesicht zu. „Wenn der Stab nicht mehr in seiner Kammer liegt, geht mein Leben zu Ende“, sagte er.

„Was?“, keuchte Tom erschrocken. „Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?“

Aduros Stimme war nur noch ein Krächzen. „So war es schon immer … seit dem ersten Zauberer.“ Er bohrte seine Finger in Toms Arm. „Auf Wiedersehen, Tom. Wenn du den Stab nicht zurückbringst, werde ich euch für immer verlassen.“

Mit einem Seufzer, als wäre es Aduros letzter Atemzug, löste sich der Körper in Toms Armen auf. Der Umhang und der Hut des Zauberers fielen leer zu Boden.

Aduro war verschwunden.