Treppe in eine andere Welt

Tom starrte auf das Kleiderbündel auf dem Boden des Waffenlagers.

„Das darf nicht sein“, sagte Elenna mit tränenerstickter Stimme.

Tom schluckte. „Er ist weg. Du hast gehört, was er gesagt hat. Ohne den Stab ist er …“ Er brachte es nicht über sich, das Wort tot zu sagen. Trauer überkam ihn. Der Zauberer, der ihnen bei so vielen Missionen geholfen hatte – konnte er wirklich für immer von ihnen gegangen sein?

„Was machen wir jetzt?“, fragte Elenna.

Tom ballte die Fäuste. „Wir machen genau das, was er nicht von uns verlangen wollte“, sagte er. „Wir reisen nach Seraph. Wir finden Malvel und er wird für das bezahlen, was er getan hat.“

„Wenn wir den Stab finden, wird Aduro vielleicht zurückkehren“, sagte Elenna.

Tom nickte. „Wir müssen verhindern, dass Malvel den Stab verbrennt.“

Elenna bückte sich und hob das Kleiderbündel auf. „Moment“, sagte sie. „Was ist das? Aduro hat uns etwas hinterlassen.“

Aus dem Umhang zog sie ein Leinenbeutelchen, das mit Lederbändern verschlossen war.

Tom lächelte über Aduros letzte gütige Geste. „Dafür muss er den Rest seiner Magie verbraucht haben“, vermutete er. „Was ist drin?“

Er kniete sich neben Elenna und half ihr, die Knoten zu lösen. Sie entrollten den Stoff und entdeckten sechs kleine Gegenstände.

„Er hat uns sechs magische Gegenstände zurückgelassen“, begriff Tom.

Elenna nahm einen kleinen Dolch mit einer Glasklinge, kaum länger als Toms Hand. Es gab auch ein Fläschchen mit grünem Puder.

„Gift vielleicht?“, dachte Tom und legte es vorsichtig neben etwas, das wie eine winzige Harfe aussah.

„Bisher haben wir magische Gegenstände immer erst bekommen, nachdem wir ein Biest besiegt hatten“, sagte Elenna.

Tom zuckte mit den Schultern. „Aduro hat erzählt, dass es in Seraph keine Biester gibt. Aber vielleicht glaubt er, dass welche dorthin gelangen könnten. Doch selbst wenn, wie soll ein Musikinstrument helfen, gegen Malvels Magie zu kämpfen?“

Die anderen Gegenstände waren noch merkwürdiger. Ein hauchzartes Kettenhemd, das fast nichts wog. Ein seltsames Ledergeschirr für Tiere. Und schließlich noch ein aus Jade geschnitzter Vogel, so groß wie sein Daumen und mit zwei Löchern darin.

„Das ist eine Pfeife“, stellte Elenna fest. Sie blies vorsichtig hinein, aber kein Geräusch kam heraus. Nur Silver heulte und warf sich auf den Rücken.

„Vielleicht können nur Tiere den Ton hören“, sagte Tom. Er schob die Gegenstände zusammen und verknotete das Leinenbündel wieder. Elenna rieb sich das Gesicht. „Nichts davon ist brauchbar, wenn wir nicht nach Seraph gelangen“, sagte sie. „Was hat Aduro noch mal gesagt? Es schwebt über Avantia?“

„Vielleicht hat Malvel einen Hinweis hinterlassen, als er hier war“, meinte Tom. Er ging zu der kleinen Kammer zurück. Sie war zu winzig, um sie zu betreten, also streckte Tom den Arm aus und schob das Kissen zur Seite. Ein Riss zog sich durch den Steinaltar. Tom packte die Kante und zog. Knirschend schob sich die Steinplatte ein Stück zur Seite.

„Ich glaube, ich habe etwas gefunden“, murmelte er. „Komm her und hilf mir.“

Elenna trat zu ihm und gemeinsam stemmten sie die Platte nach oben. Es kratzte und knarrte, dann stürzte die Steinplatte zu Boden und zerbrach in viele kleine Stücke. Abgestandene Luft wehte durch die Kammer.

Tom blickte in den hohlen Altar. Treppenstufen führten in die Tiefe. Nur ein Dutzend war zu erkennen, der Rest der geheimen Treppe wurde von schwarzer Finsternis verschluckt.

„Wie ich es mir gedacht habe. Hier ist ein Durchgang.“

„Er muss nach Seraph führen“, sagte Elenna.

Kaum hatten die Worte ihre Lippen verlassen, begannen die Mauern der Kammer zu wackeln. Staub und Steine fielen zu Boden. Die Treppe bewegte sich und die Stufen wuchsen aus der Dunkelheit zu Tom empor.

„Aus dem Weg!“, rief er über das Lärmen des Steins hinweg.

Elenna und er machten ein paar Schritte rückwärts. Die Treppe schraubte sich wie ein Korkenzieher aus dem Altar nach oben und durchbrach schließlich die Decke. Große Teile des Mauerwerks krachten herunter und Tageslicht flutete herein. Die Treppe wuchs immer weiter in den Himmel hinauf und stieß in schwindelerregender Höhe durch die Wolken.

„Da sollen wir hoch?“, fragte Elenna und sah nach oben.

„Es muss sein“, meinte Tom. Er schob seinen Schild zurecht und setzte den Fuß auf die erste Stufe.

„Warte“, sagte Elenna. „Und die Tiere?“

„Du hast recht.“ Tom schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Diamanten von Kaymon, der an seinem Gürtel steckte. Er verschaffte ihm die Fähigkeit, seinen Schatten von seinem Körper zu lösen. Er warf der dunklen Gestalt einen Blick zu, die das Daumen-hoch-Zeichen machte und dann aus dem Waffenlager verschwand. „Geh und hol Storm und Silver“, befahl er seinem Schatten lautlos.

Kurze Zeit später hörte er das Klappern von Storms Hufen und die Tiere betraten den Raum. Silver sah sich mit gespitzten Ohren um.

Toms Schatten glitt zurück an seinen Platz.

„Das ging schnell“, sagte Elenna.

„Seit ich den Gürtel von Sanpao zurückhabe, scheint er noch mächtiger zu sein“, sagte Tom.

Er griff nach Storms Zügeln und führte ihn zur Treppe. Silver schmiegte sich eng an Elennas Bein und gemeinsam folgten sie den beiden. Zu viert stiegen sie die Treppe hoch. Unter ihnen ragten die Türme des Palasts auf. Zum Glück war im Hof gerade Markt und die Menschen so beschäftigt, dass niemand sah, wie sie zum Himmel hochstiegen.

Der Wind zerrte mehr und mehr an ihren Kleidern, je höher sie kamen. Schwindel erfasste Tom, als die untersten Stufen der Treppe nicht mehr zu sehen waren. „Wir stehen auf nichts als Magie“, sagte er. „Hoffentlich ist es nicht mehr weit.“

Die Menschen im Palasthof waren bald so klein wie Ameisen. Inzwischen war die Treppe von ihnen entdeckt worden. Gruppen hatten sich gebildet und die Leute zeigten nach oben. Tom und Elenna stiegen durch die Wolken, sodass die Erde nicht mehr zu sehen war. Über den Wolken war der Himmel blau und klar. Die Luft jedoch war eiskalt. Elennas Lippen waren schon blau angelaufen und Storms Beine fingen von der Anstrengung des Aufstiegs an zu zittern.

Doch auf einmal erreichten sie den obersten Treppenabsatz. Von dort führte eine zweite Treppe abwärts, als hätten sie den Gipfel eines gigantischen Bergs erreicht. Tom schlang die Arme um seine Schultern, um sich zu wärmen, und begann mit dem Abstieg. Als er die erste Stufe der neuen Treppe berührte, durchströmte ihn Wärme. „Hast du das auch gefühlt?“, fragte er Elenna.

Sie nickte. „Das muss Magie sein.“

Sie stiegen durch die Wolkendecke und ließen die Kälte hinter sich. Es ging weiter nach unten. Der Palast war verschwunden und die Landschaft sah ganz anders aus.

„Seraph!“, sagte Elenna.

Tom betrachtete das Land. Wälder und leuchtend grüne Felder wechselten sich ab. Seen glitzerten im Sonnenlicht. In der Ferne reckten Berge ihre schneebedeckten Gipfel in den Himmel und in der anderen Richtung breitete sich ein Ozean aus, so weit Toms Augen sehen konnten.

„Es ist wunderschön“, staunte er.

Silver heulte zustimmend und wurde schneller. Auch Elenna beschleunigte ihre Schritte. Tom führte Storm vorsichtig weiter. Dann erreichten sie endlich den Boden. Sie standen in einem Tal, in dem verstreut Obstbäume wuchsen. Ein Fluss gurgelte auf der einen Seite den Fels hinunter. Flache Steinhänge säumten das Tal rechts und links. In der Luft lag Blütenduft.

Tom entdeckte einen schmalen Pfad, der zum Flusstal führte. „Kommt, vielleicht ist Malvel hier entlanggegangen.“

Sie stiegen auf Storms Rücken und Silver lief neben ihnen her. Tom machte sich Sorgen und war ratlos. „Ich wünschte, wir hätten eine Karte“, murmelte er.

Silver blieb plötzlich stehen und legte die Ohren an. „Er hat etwas gewittert“, sagte Elenna.

Auf dem Pfad vor ihnen war nichts zu sehen. Doch dann tauchte am Horizont ein Pferd auf. Tom kniff die Augen zusammen und erkannte im Gegenlicht einen Reiter.

„So ein Glück“, sagte er. „Vielleicht kann uns der Reiter helfen, Malvel zu finden.“

Doch als der Fremde näher kam, erkannte Tom, dass er nicht auf einem Pferd ritt – keinem normalen Pferd jedenfalls. Obwohl das Tier den Körper eines schwarzen Hengstes hatte, wuchsen ihm seitliche Flügel. Schaum quoll aus dem Maul und von der Stirn ragte ein gedrechseltes Horn.

„Es ist ein Einhorn“, stellte Elenna überrascht fest.

Aber Tom beachtete das Reittier gar nicht mehr. Er starrte den Reiter an.

Selbst wenn der spitze Hexenhut sie nicht verraten hätte: Das Kichern, das aus ihrer Kehle drang, war unverkennbar.

„Petra!“, rief Tom.