Der Geruch von Beute
„Weg hier!“, rief Tom. Er sprang auf die Füße und rannte zu einem großen Felsen, ein Stück den Hang hinauf. Elenna und er versteckten sich dahinter und die Tiere folgten ihnen. Der Boden war mit Kieseln und Schotter bedeckt und locker.
Als sie alle außer Sichtweite waren, linsten Elenna und Tom vorsichtig über den Rand des Felsens. Ursus war hinter dem Wasserfall hervorgekommen und blickte sich um. Er brüllte wütend, aber sie waren schneller gewesen als das Biest.
„Er hat keine Ahnung, wo wir uns verstecken“, dachte Tom.
Ihn schauderte es. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Waldleute Seite an Seite mit diesem Tier gelebt hatten. Ursus war dreimal so groß wie ein ausgewachsener Bär, sein Körper so breit wie ein Pferdewagen. Sein braunes Fell war nicht glatt und glänzend, sondern hing in Fetzen. Orangefarbene Stacheln ragten aus dem Pelz. Sie glühten, als würde in dem Biest ein Feuer brennen. Die Krallen waren so lang wie Toms Schwert. Seine Ohren zuckten lauschend und seine Nasenlöcher weiteten sich, als er suchend in die Luft schnüffelte.
Tom spürte, wie lose Kiesel unter seinen Füßen wegrutschten, und klammerte sich an den Felsen. Er erstarrte und hielt den Atem an. Mehrere Steinchen klapperten zu Ursus’ Sitzplatz hinunter. Die Ohren des Biests zuckten. Es reckte seine mächtige Schnauze und Tom konnte die spitzen Zähne sehen, als der Bär die schwarzen Lippen zurückzog. Ursus schnüffelte, drehte den Kopf und schnüffelte erneut.
„Kann er uns trotz der Hasentarnung riechen?“, fragte Tom sich. Hätte er doch bloß nicht den Arm in das Wasser gesteckt! Genau an der Stelle war er wieder sauber und roch nach sich selbst.
Er warf Elenna, die das Biest beobachtete, einen Blick zu. Er versuchte, ruhiger zu atmen, aber sein Herz klopfte schnell.
„Was sollen wir tun?“, fragte Elenna lautlos.
Leise steckte Tom seine Hand in Storms Satteltasche. Suchend wühlte er darin herum, bis er die kleine Harfe ertastete.
Was hatte das Mädchen gesagt? Wir haben ihm immer Musik vorgespielt … Tom betrachtete den kleinen Gegenstand. Aduro konnte nicht gewusst haben, welche Biester Malvel in Seraph erschaffen würde. Tom musste selbst herausfinden, welcher Gegenstand bei welchem Biest eingesetzt werden konnte. „Ich habe keine Ahnung, ob das bei Ursus funktioniert“, dachte er. „Aber es ist die einzige Chance, die ich habe.“ Zum ersten Mal in seinem Leben musste er eine Mission ohne die weisen Ratschläge des guten Zauberers erfüllen. „Ich tue das für Aduro. Ich werde meinen alten Freund wieder lebendig machen!“
Plötzlich ertönte ein trotziges Brüllen. Toms Hand glitt aus der Satteltasche – die Gegenstände mussten warten. Er blinzelte vorsichtig über den Felsen, um nachzusehen, was Ursus machte. Elenna streckte sich ebenfalls hoch und verlor auf dem lockeren Untergrund kurz das Gleichgewicht.
Ursus drehte sich mit gespitzten Ohren um. Das Biest sah nach oben und schnüffelte wieder in die Luft. Tom blickte ihm direkt in die Augen. So wie die Stacheln und die Krallen waren sie rot wie glühende Kohle. Hasserfüllt brannte sich sein Blick in Toms Haut.
„Malvel hat diesen Hass erschaffen“, dachte Tom.
Ursus’ Brüllen hallte durch den Wald. Das Biest stand auf und begann auf seinen kräftigen Beinen, den Hang hinaufzuklettern. Erstaunlich geschickt hielt es sich mit den Krallen an den Felsen fest.
„Geh ein Stück zurück!“, rief Tom Elenna zu und fingerte an seinem Gürtel herum. „Ich habe einen Plan.“
Er löste den violetten Juwel von seinem Gürtel, den er von Sting, dem Skorpionmann, bekommen hatte, und hielt ihn über den Felsbrocken. Violettes Licht strömte aus dem Juwel und durchschnitt den Fels wie eine Säge. Große und kleine Steinbrocken stürzten wie eine Felslawine den Hang hinab.
„Gute Idee“, sagte Elenna. „Ich bringe die Tiere in Sicherheit.“
Eilig führte sie Storm und Silver zurück zum Fuß des Wasserfalls, wo sie aus dem Weg waren. Toms Hand zitterte vor Anstrengung, aber er beschwor weiter die Magie des Juwels, um den Felsen zu zerstören. Bruchstücke platzten ab und regneten auf das kletternde Biest hinunter. Ein großes Stück krachte gegen seine Brust und warf den riesigen Bären nach unten ins Wasser. Ursus schüttelte den Kopf und bellte zornig, dann kletterte er wieder los.
Die Harfe! Tom fiel ein, dass sie noch immer in Storms Satteltasche steckte. Er stieg zu Elenna und den Tieren hinunter, die am Waldrand standen. Ursus beobachtete jeden seiner Schritte. Als Tom bei den anderen angekommen war, stürzte der Bär sich ins Wasserbecken, dass es gewaltig spritzte. Er schwamm mit kräftigen Bewegungen und würde jeden Augenblick bei ihnen sein.
Tom hackte mit der Schwertklinge auf das Unterholz ein, um einen Fluchtweg zu schaffen. Wenn nur die anderen verschwinden könnten, dann würde er die Harfe nehmen und sich dem Biest stellen.
„Schneller, Tom!“, rief Elenna.
Endlich stieß er auf einen Waldweg. „Hier entlang!“, rief er. Er ließ Elenna und Silver vorlaufen, da hörte er Storm panisch wiehern. Er drehte sich um. Verzweifelt trampelte Storm auf der Stelle, seine Hufe hatten sich im Efeu verfangen, das dicht am Boden wuchs. Er war gefangen!
Ursus näherte sich dem Hengst mit schweren Schritten. Aus seinem Fell tropfte es und die Stacheln auf seinem Rücken pulsierten leuchtend bei jedem Schritt. Seine Nasenflügel waren vor Hass gebläht.
„Ich muss Storm helfen!“, rief Tom Elenna zu. Er rannte zu seinem treuen Hengst zurück.
Tom zerschnitt die verknoteten Efeuranken, die sich um Storms Beine gewickelt hatten, doch das Biest kam immer näher. Als er das letzte Bein befreit hatte, ragte der Schatten des Biests über ihm auf.
„Pass auf, Tom!“, schrie Elenna.
Aber es war zu spät.