Die Krallen des Biests
Tom duckte sich und rollte sich über den Boden außer Reichweite. Die Krallen des Bären zischten über Toms Kopf durch die Luft. Tom sprang schnell auf und schnappte sich die Harfe aus Storms Satteltasche.
„Lauf, Storm!“, rief Tom. „Verschwinde von hier.“ Storm galoppierte davon und Tom war erleichtert, dass sein Freund in Sicherheit war.
Der riesige Bär richtete sich auf seinen Hinterbeinen auf, breitete die Vorderpranken weit aus und brüllte wuterfüllt. Er blickte auf Tom herab und öffnete sein speichelverklebtes Maul. Stinkender Atem hüllte Tom ein, aber er sah auch ein kurzes schmerzvolles Blinzeln in den Augen des Biests.
„Er will gar nicht böse sein“, dachte Tom.
Ursus griff mit schnappenden Kiefern an, doch Tom verpasste ihm mit seinem Schild einen Hieb auf die Schnauze. Ursus knurrte zornig und schwang seine Pranken wie gigantische Sensen hin und her. Tom hörte, wie die Krallen an seinem Kopf vorbeizischten.
Ein Pfeil bohrte sich in den Baumstamm neben Ursus. Mit seiner mächtigen Tatze zerbrach er den Schaft wie einen dünnen Zweig.
„Du hast ja wohl nicht geglaubt, dass ich dich das allein erledigen lasse, oder?“, rief eine Stimme.
Es war Elenna! Sie schoss einen weiteren Pfeil ab, der in einem Ast neben Ursus’ Kopf landete. Tom wusste, dass sie das Biest nicht treffen, sondern nur ablenken wollte. Ursus schnappte mit den Zähnen nach dem Pfeil und zerbiss ihn in Splitter.
Als Elenna einen dritten Pfeil abschießen wollte, stürzte Ursus trampelnd auf sie los. Mit Schaum vor dem Maul walzte er Pflanzen platt und durchbohrte sie mit seinem glühenden Blick. Mit seiner Tatze schlug er ihr den Bogen aus den Händen. Elenna hechtete zur Seite, als das Biest sich auf sie fallen lassen wollte, um sie unter seinem massigen Körper zu begraben. Sie sprang hinter einen Baum, damit der Bär sie nicht mehr sehen konnte.
Ursus fand den Bogen und zerbrach ihn zwischen seinen Kiefern. Jetzt war Elenna vollkommen schutzlos.
Das Biest hob witternd die Schnauze und suchte nach seiner Beute. Dann tappte es auf den Baum zu, hinter dem Elenna sich versteckte. Tom sah, dass sie sich bückte und Petras Dolch aus ihrem Fesselriemen zog. Wie sollte ihr der kleine Dolch im Kampf mit dem riesigen Biest helfen? Er würde ihr höchstens einen kurzen Moment verschaffen, aber das war alles.
Tom zog die winzige Harfe aus seinem Hemd. Es war einen Versuch wert. „Ich vertraue dir, Aduro“, dachte er. Der Zauberer musste einen Grund gehabt haben, Tom die Gegenstände zu hinterlassen.
Er zupfte eine Saite des Instruments. Ursus wandte sofort lauschend den Kopf um. Tom schlug erneut den Ton an und fügte zwei weitere hinzu. Seine Tante spielte Leier, die der Harfe ähnelte, und Tom gelang es, eine einfache Melodie zu spielen.
Ursus knurrte und stampfte auf ihn zu, aber das orangefarbene Leuchten in seinen Augen war nicht mehr da. Sie waren jetzt gelb.
„Es funktioniert!“, rief Elenna. „Spiel weiter.“
Ursus war nur noch wenige Schritte von Tom entfernt. Er atmete ganz ruhig. Das Biest legte sich ins Moos und seine Augenlider schlossen sich. Tom wurde leicht ums Herz. Konnte es wirklich so einfach sein? Vielleicht war das der Schlüssel zum Geheimnis der Gegenstände. Er musste ihnen vertrauen, auch wenn sie nicht so aussahen, als ob sie viel bewirken konnten.
Plötzlich donnerte es über ihnen. Die Bäume rauschten und übertönten die Melodie. Es folgte ein höhnisches Lachen, das Tom überall wiedererkennen würde. Malvel!
Ursus rappelte sich auf, seine Augen waren wieder voller Wut. Er schnappte zu und seine Zähne schlossen sich um die Harfe. Er versuchte, sie Tom zu entreißen, aber Tom hielt fest, bis mit einem lauten Pling! die Saiten rissen. Eine peitschte auf Toms Hand und schnitt ihm in die Haut. Mit einem Schmerzensschrei fiel er um.
Als Ursus sich über ihm aufbaute, schoss Silver zwischen die Beine des Biests und biss ihm in den Bauch. Ursus holte mehrfach aus und versuchte, den Wolf abzuschütteln, aber er traf ihn nicht. Silver wich geschickt aus. Ursus überschlug sich beinahe beim Versuch, ihn zu schnappen.
Tom spürte eine Hand unter dem Arm. Es war Elenna, die ihm auf die Füße half. Von seiner Hand tropfte Blut.
„Dein Bogen –“, begann er.
„Gib mir einen Bambusspross“, sagte sie. „Ich habe eine Idee.“
Tom schnitt mit seinem Schwert einen jungen Bambustrieb ab und warf ihn Elenna zu. Silver lenkte Ursus immer noch ab. Sie waren jetzt in der Nähe des Wasserbeckens.
„Was immer du auch vorhast, beeil dich besser“, sagte Tom. „Ich weiß nicht, wie lange Silver das Biest noch ablenken kann.“
Elenna nahm ihren Jagddolch und ritzte Kerben in beide Enden des Bambusstabs, dann spannte sie eine der Harfensaiten darauf. Sie hielt einen Pfeil gegen den Ersatzbogen. „Besser als nichts“, sagte sie.
„Wir dürfen das Biest nicht töten“, erinnerte Tom seine Freundin. „Es ist nicht seine Schuld, dass Malvel es verzaubert hat.“
Elenna spannte einen Pfeil ein und schoss ihn in den Baum neben Ursus. Das Biest wich nach hinten aus. Silver sprang noch immer geschickt um die gefährlichen Krallen herum. Von der anderen Seite kam Storm. Er ließ seine Hufe durch die Luft wirbeln und trieb das Biest weiter rückwärts. Toms Brust füllte sich mit Stolz. Seine Freunde waren so mutig. Ursus verlor das Gleichgewicht und sah zum ersten Mal verängstigt aus. Er riss die Augen auf und ruckte mit dem Kopf vor den Tritten des Hengstes zurück. Elenna schoss einen Pfeil ab, doch dieses Mal traf sie das Biest am Knöchel. Ursus bellte und ließ sich auf alle viere fallen. Rückwärts stapfte er auf das Wasserbecken zu. Doch seine Zähne waren immer noch gebleckt und Schaum quoll aus seinem Maul.
Tom schwang sein Schwert in kreisenden Bewegungen, um das Biest zu verwirren. Seinen Schild hielt er bereit, falls der Bär seine Krallen benutzen würde.
„Noch ein Pfeil!“, forderte Tom Elenna auf.
Brüllend richtete der Bär sich mit erhobenen Pranken auf. Doch mit der Hinterpfote rutschte er auf dem matschigen Uferrand aus. Tom sah, wie er rückwärts taumelte, als ein Pfeil vorbeiflog und sich tief ins Fell oberhalb des Herzens bohrte.
„Nein!“, schrie Elenna entsetzt, als Ursus ins Wasser stürzte und eine Wasserfontäne aufspritzte. „Ich habe auf sein Bein gezielt!“
Ursus trieb bewegungslos auf dem Wasser. Blut sickerte aus der Pfeilwunde. Tom sank auf die Knie und machte ein hilfloses Gesicht.
„Was haben wir getan?“