Ursus, der Beschützer

„Ich habe ihn getötet“, flüsterte Elenna. Sie ließ den Bambusbogen auf den Boden fallen.

Tom ging zu ihr. „Ist schon gut“, sagte er und legte den Arm um sie. „Er hat uns keine andere Wahl gelassen.“ Aber insgeheim war er sich nicht sicher, ob das tatsächlich stimmte. Auf all seinen Missionen hatte niemals ein gutes Biest sterben müssen.

Er hörte ein leises Plätschern und Elenna wurde auf einmal stocksteif. „Tom!“

Sie schob ihn von sich und er folgte ihrem Blick zum Wasserbecken.

Ursus bewegte sich. Der riesige Bär schaukelte mit dem Kopf hin und her und die orangefarbenen Stacheln auf seinem Körper schienen vor Toms Augen zu schrumpfen. Ja, der ganze Körper schien kleiner zu werden. Und das zerfetzte Fell wurde zu einem dicken braunen Pelz. Als er wieder seine normale Größe hatte, stieg Ursus aus dem Wasser und schüttelte sich. Von der Pfeilwunde war nichts mehr zu sehen. Der Bär gähnte müde.

„Der Zauber ist gebrochen“, sagte Elenna. „Er ist wieder ein friedlicher Bär.“

„Die Saiten der Harfe haben uns geholfen, Ursus zurückzudrängen, bis er nicht mehr kämpfen konnte“, überlegte Tom laut. „Die Harfe hat den bösen Kampftrieb in Ursus’ Adern besiegt.“ Tom näherte sich dem Bären mit ausgestreckter Hand. Ursus hob die Nase und schnupperte, dann schleckte er an Toms Fingern. Auch Silver und Storm näherten sich dem Bären ohne Furcht.

Ursus drehte sich um und tapste den Pfad entlang in Richtung der Höhlen. Tom, Elenna und die Tiere folgten ihm am Kampfplatz im Wald vorbei. Als sie zu den Höhlen kamen, ertönte ein Schrei und sie rannten los. Myra kauerte in einem Höhleneingang. Brendan und Luke hielten zu Speeren geschnitzte Äste in den Händen. Tom stellte sich zwischen sie und den Bären.

„Ursus ist wieder friedlich!“, rief er laut. „Malvels Zauber ist vorbei.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Brendan.

Bevor Tom etwas erwidern konnte, hob Ursus schnuppernd die Nase, als würde er nach Angreifern suchen. Dann senkte er den Kopf, als wäre er erleichtert, dass keine bösartigen Fremden in der Nähe waren. Myra kam aus der Höhle und drückte ihr Gesicht in seinen Pelz.

Langsam kamen Brendan und Luke näher. Nach und nach tauchten noch mehr Gesichter in den Höhlen auf.

„Sie haben Ursus geheilt!“, rief Luke.

Zwei Höhlenbewohner trugen einen großen Topf mit Honig herbei und stellten ihn vor Ursus ab. Der Bär legte sich auf den Bauch und begann, den süßen Honig aufzuschlecken.

Luke klopfte Tom und Elenna auf die Schulter. „Wir sind euch zu Dank verpflichtet“, sagte er. „Ihr habt unseren Beschützer zurückgebracht. Feiert mit uns und bleibt eine Weile. Wir können euch Hängematten zum Schlafen knüpfen.“

Tom lächelte. „Dies ist erst der Beginn unserer Mission. Wenn Malvel die Ewige Flamme erreicht, werden die Biester unser kleinstes Problem sein.“

Brendan trat zu ihnen. „Warum wollt ihr Seraph eigentlich helfen?“, fragte er.

Tom dachte nach. Er hatte schon auf so vielen Missionen gekämpft und so viele Königreiche gerettet. „Damit werde ich jetzt nicht aufhören“, überlegte er. „Ein solch friedliches Land wie Seraph hat kein Leid verdient. Und Aduro …“ Er würde seinen Freund wieder ins Leben holen, egal was es kostete.

„Wenn ich Malvel Seraph erobern lasse, wird er alles zerstören“, antwortete er schließlich. „Und zu Hause gibt es einen Freund, für den es wichtig ist, dass ich den bösen Magier aufhalte.“ Er sah zum dunstigen Horizont, in die Richtung, wo die Berge lagen und die Ewige Flamme auf ihn wartete. „Ich hätte Malvel schon vor langer Zeit erledigen sollen.“

„Dieses Mal werden wir ihn nicht entkommen lassen“, sagte Elenna. Sie streichelte Silvers Fell.

„Unsere Reise hat gerade erst begonnen“, warnte Tom sie.

Elenna zuckte mit den Schultern. „Aber sie wird das Ende von Malvel sein.“

Tom blickte über das Reich, das sie so freundlich willkommen geheißen hatte. Er hoffte, dass Elenna recht hatte. Wenn nicht, würde es keinen Ort mehr geben, wo er sich sicher fühlen konnte.

Er schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Wir werden wahrscheinlich bald ein anderes Biest treffen. Malvel hat bestimmt noch mehr erschaffen.“

„Worauf warten wir dann?“, fragte Elenna und stieg auf Storms Rücken. Die Waldbewohner versammelten sich um sie. Tom kletterte zu seiner Freundin in den Sattel.

„Auf Wiedersehen!“, rief er, als Storm lostrabte und Silver neben ihnen herjagte.

„Viel Glück!“, wünschten die Waldleute und Ursus brüllte freundlich.

Tom winkte zum Abschied. Sie waren wieder auf sich allein gestellt. Und irgendwo da draußen lauerte Malvel auf sie.