Kapitel 2
Ellie
»Ich frage mich wirklich, was ich in deiner Erziehung nur falsch gemacht habe.«
Am liebsten hätte ich erwidert: »Welche Erziehung?« Aber ich beließ es dabei, Mum die Zitronentarte mit flambierter Baiserhaube zu servieren.
»Du siehst gut aus, Mum«, sagte ich, während ich ihren äußerst eigenwilligen Kleidungsstil musterte. Abgetragene braune Boots, eine dicke blasslila Strumpfhose mit weißen Punkten darauf. Ein langes Wollkleid in Bordeaux, Handstulpen in einem Minzton und die Perlenkette von Granny. Die Kombination war … gewöhnungsbedürftig, aber nichts, was mich vom Hocker riss. Schließlich kannte ich die Frau mir gegenüber nicht anders.
»Ach, jetzt komm mir doch nicht so. Erst rammst du mir ein Messer ins Herz und dann schmierst du mir Honig ums Maul. Entscheide dich mal!«
Schockiert über Mums viel zu laute Worte sah ich mich im Tearoom um. Der Golden Tearoom
war mitnichten der richtige Ort, um so eine Unterhaltung zu führen. Meine Gäste kamen hierher, um etwas Abstand vom Trubel der Großstadt zu bekommen, unbeschwerte Stunden mit ihren Liebsten zu verleben und alles an Stress und Ärger vor der Tür abzuladen.
Der Golden Tearoom
hatte sich in den zwei Jahren seines Bestehens einen Namen gemacht. Über fünfhundert Rezensionen im Internet mit einem Durchschnittswert von 4,7 sprachen für uns. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, was Mums Auftritt hier in unserer Oase des Friedens und des guten Tees für Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Vor einigen Monaten hatte Mum mich in meiner Wohnung besucht, und daraufhin hatte mein Vermieter mich inständig gebeten, meinen Gast nicht noch mal einzuladen. Das war also leider auch keine Alternative gewesen. Natürlich hätte ich mich mit Mum auf neutralem Boden treffen können, aber dazu fehlte mir einerseits der Mut und andererseits die Zeit.
Noch hatte ich die Hoffnung, sie würde sich an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten unserer Zeit halten. Schließlich musste sie sich doch auch im Klaren darüber sein, welche Folgen ihr Auftritt für mich haben würde. Aber Mum eckte leidenschaftlich gerne an. Wo andere längst einsahen, dass sie zu weit gegangen waren, nahm Mum erst Anlauf.
Meine Blicke scannten den Raum ab. Noch unterhielten sich meine Gäste angeregt miteinander und nahmen kaum Notiz von uns. Dennoch entschied ich mich, die Reißleine zu ziehen und bugsierte Mum in die viel zu kleine Küche.
»Hey, Finger weg! Ich kann ganz gut allein laufen. Und was zur Hölle machen wir jetzt zwischen Gurkensandwiches und Trüffelpasteten?« Mum war außer sich. Mit fest in die Seiten gestemmten Händen stand sie vor mir und funkelte mich aus ihren blauen Augen an, als hätte ich ihr soeben offenbart, ganz in Weiß heiraten zu wollen. Dabei gab es weder einen Anwärter für den Posten meines Ehemanns noch potenzielle Interessenten. Aber das war eine andere Geschichte.
So aufgebracht hatte ich Mum schon lange nicht mehr erlebt. Das letzte Mal musste eine halbe Ewigkeit zurückliegen. Schemenhaft erinnerte ich mich an meinen Auszug aus einer ihrer Kommunen. Das war ähnlich heikel verlaufen, weil ich in Mums Augen in ein Spießerviertel gezogen war. Und schon damals hatte sie sich inständig gefragt, wie das trotz ihrer Erziehung hatte passieren können.
»Ich bemühe mich darum, meine Gäste aus der Sache zwischen uns herauszuhalten. Schließlich können dir die Leute da draußen auch keine Antwort darauf geben, was in deiner Erziehung schiefgelaufen sein könnte, das mich dazu bewogen hat, mir eine Eigentumswohnung zu kaufen.«
Mum griff sich theatralisch an die Brust. »Dann hast du den Vertrag also bereits unterschrieben, ohne es mit mir zu besprechen?«
Keine Ahnung, woran es lag, aber mit jeder Minute, die ich in der viel zu warmen Küche stand, wurde auch meine Geduld zunehmend auf eine harte Probe gestellt. »Mum, ich bin achtundzwanzig Jahre alt und betreibe meinen eigenen Tearoom. Ich denke nicht, dass ich deine Meinung hätte einholen müssen, was den Kauf der Wohnung anbelangt.«
»So, meinst du das, ja?« Mum sah mich durchdringend an. Wenn Blicke töten könnten, dann stünde ich kurz davor, tot umzufallen. »Hast du dir auch nur für einen winzigen Augenblick überlegt, was deine Shoppingausbeute für mich bedeuten könnte?«
Mum hatte einen Blog, auf dem sie den Konsum verteufelte und zu alternativen Lebensweisen aufrief. Irgendwie verdiente sie damit sogar seit einiger Zeit ihren Lebensunterhalt. Zumindest arbeitete sie nicht mehr in dem kleinen Esoterikladen in der Charlwood Street.
Nun war es an mir, meine Hände in die Seiten zu stemmen. »Willst du damit etwa behaupten, ich würde deine Leser vergraulen?«
»Wenn es das nur wäre! Es ist viel schlimmer. Wie soll ich denn auch nur noch ein Wort auf meinem Blog schreiben, ohne mir wie eine Verräterin vorzukommen?«
Bei Mum und mir prallten Welten aufeinander. Und ich hatte mittlerweile weder die Kraft noch große Lust, ihr zu erklären, dass ich ein eigenständiger Mensch war, der tun und lassen konnte, was er für richtig hielt.
Ehe ich weiterredete, atmete ich tief durch.
»Mum, du bist doch nicht diejenige, die sich eine Wohnung kauft. Und wenn du es nicht an die große Glocke hängst, wird es auch niemand erfahren. Schließlich habe ich nicht vor, mit der Info hausieren zu gehen.«
Mum überlegte kurz, ehe sie unvermittelt das Thema wechselte.
»Du siehst übrigens grauenvoll aus. Hast du nicht genügend Sex? Und was hast du nur mit deinen Haaren angestellt? Färbst du sie neuerdings? Ich hoffe, es handelt sich dabei um ein Naturprodukt.«
Schlagartig schoss mir die Hitze ins Gesicht, und ich wagte es nicht, mich zu meiner Küchencrew umzublicken. Mum war wirklich die Indiskretion in Person. Wo sie stand, wuchs kein Gras mehr. Und meine Autorität schmolz dahin wie der erste Schnee des Jahres auf den Gehwegen Londons.
»Ich denke nicht, dass das hier der passende Ort ist, um darüber zu sprechen«, versuchte ich, an Mums Vernunft zu appellieren. Fehlanzeige!
»Ich hab mir erst neulich einen neuen Vibrator zugelegt. Ich kann dir das Schätzchen gerne mal ausleihen.«
»Mum!«, schrie ich. Diese Frau war wirklich noch mein Untergang. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du gehst. Barnie wartet schon viel zu lange vor der Tür auf dich.«
Mein Herz schlug mir bei diesen Worten bis zum Hals. Das war das erste Mal, dass ich meine Mum offen vor den Kopf stieß. Aber es musste sein. Ich musste endlich lernen, mich gegen sie zu behaupten. Und vor allem durfte ich ihr nicht mehr diese Macht über mich geben, mich in ihrer Nähe wie ein kleines Kind fühlen zu lassen, das einen schlimmen Fehler begangen hatte.
Mit Ende zwanzig sollte ich gelernt haben, Mum die Stirn zu bieten. Aber in ihrer Gegenwart schrumpften meine Vorsätze auf die Größe einer Schneeflocke zusammen.
»Du hast Barnie hergebeten, damit er mich abholt?« Mums Stimme überschlug sich. So entrüstet hatte ich sie definitiv noch nie erlebt.
Ich schwieg, um nicht etwas zu sagen, was mir im Nachhinein leidtun könnte. Meine Hände hatten sich ganz von allein von meinen Hüften gelöst und zu Fäusten geballt. Diese Auseinandersetzungen mit meiner Mutter verlangten mir regelrecht alles ab.
»Du bist wirklich keinen Deut besser als dein Vater.«
Ich schluckte schwer bei Mums Worten. In all den Jahren hatte sie nie auch nur eine Andeutung über meinen Dad gemacht, ganz so, als wäre meine Empfängnis ähnlich unbefleckt abgelaufen wie beim Christuskind.
»Das kann ich leider nicht beurteilen, Mum. Du leugnest ja nach wie vor seine bloße Existenz.«
Ich war es so leid, den Kuschelkurs zu fahren, während sich Mum wie die Axt im Wald aufführte. Sie war nicht die Einzige mit Prinzipien. Und nur weil meine anders aussahen, hieß das noch lange nicht, dass sie weniger wert waren als ihre.
So etwas wie Wehmut zeichnete sich in Mums Augen ab. Sie seufzte und band sich das rote Che Guevara
-Tuch um den Hals.
»Ich sollte Barnie nicht länger warten lassen, wenn er sich schon die Mühe macht, quer durch die Stadt zu fahren, um mich abzuholen.« Dann erhob sie mahnend ihren Zeigefinger. »Die Sache ist noch nicht vom Tisch, Ellie. Glaube ja nicht, dass ich mich damit abfinden werde.«
Ich verdrehte genervt die Augen, als sie endlich durch die Schwingtür nach draußen in den Tearoom abgedampft war.
»Ich möchte nicht, dass auch nur ein einziges Wort dieser Unterhaltung nach draußen dringt.« Hilfe suchend blickte ich mich zu Matthew, meinem Küchenchef, und seinen Gehilfen Rose und Mrs Fisher um.
In Mrs Fishers Gesicht konnte ich so etwas wie Mitleid erkennen, während Matthew sich gab, als hätte er von dem ohrenbetäubenden Lärm nichts mitbekommen. Und Rose? Die hatte womöglich tatsächlich kein Wort vernommen, da sie mal wieder mit Ohrenstöpseln dastand.
»Und?«, fragte Holly erwartungsvoll, als ich zurück in den Tearoom kam.
»Frag besser nicht«, winkte ich ab.
»So schlimm?«, hakte sie nach.
»Noch schlimmer. Sie hat Andeutungen gemacht, dass ich nicht besser sei als mein Vater.«
Holly verzog ihren Mund zu einem O und schob die Augenbrauen dabei fest zusammen. »Das hört sich gar nicht gut an.«
»Zumindest räumt sie mittlerweile ein, dass es einen Erzeuger gibt. Ein Fortschritt, findest du nicht?« Ich lachte, wie um mich selbst zu bekräftigen. Eigentlich war mir vielmehr zum Heulen zumute.
Holly richtete eine Etagere für einen Traditional Afternoon Tea
. Sandwiches mit geräuchertem Lachs, Frischkäse und Dill sowie Thunfisch mit Mayonnaise und schwarzem Pfeffer hatten die Gäste gewählt. Dazu gab es die obligatorischen Scones mit Clotted Cream und Erdbeermarmelade. Eine kleine Auswahl an Kuchen, Macarons und Cupcakes durfte dabei nicht fehlen. Der Lavender Earl Grey
rundete das Arrangement perfekt ab.
»Nimm es dir nicht so zu Herzen! Du wusstest, dass sie sich über das Thema furchtbar aufregen würde. Vielleicht ist es ja an der Zeit …« Mitten im Satz brach sie ab und griff nach der Etagere.
»Für was?«, wollte ich wissen und hielt sie davon ab, zu den Gästen zu gehen.
»Da deine Mum ohnehin schon sauer auf dich ist, könntest du dich doch endlich auf die Suche nach deinem Dad machen. Wir wissen beide, wie wichtig dir das ist. Schieb es nicht zu lange hinaus. Irgendwann könnte es zu spät sein.«
Dann ging sie an mir vorbei zu einem älteren Ehepaar, lächelte die Gäste freundlich an und wünschte ihnen einen guten Appetit, während ich zurückblieb und ins Grübeln kam.