Kapitel 3
Ellie
»Barnie, du kennst Mum doch schon eine Ewigkeit.«
Alles, was ich bisher unternommen hatte, um etwas über meinen Vater herauszubekommen, war im Sand verlaufen. Was nicht weiter verwunderlich war, schließlich wusste ich rein gar nichts über ihn. Und dennoch hatte ich es mir nicht nehmen lassen, trotz Schnee und Eis die alten Kommunen und Freunde meiner Mum aufzusuchen, um sie nach meinem Dad auszufragen. Doch leider wollte oder konnte mir niemand etwas sagen. Es war hoffnungslos.
Meine letzte Chance war Barnie, den ich leider nicht persönlich angetroffen hatte. Er hielt sich allerdings bisher ziemlich bedeckt. Offenbar wollte er meiner Mum nicht in den Rücken fallen. Wir wussten beide, dass Mum ihm das nie verzeihen würde. Und dennoch.
»Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre. Wenn sie so weit ist, wird sie dir von ihm erzählen.«
Es war gar nicht nötig gewesen, ihm zu sagen, worum es mir ging. Barnie hatte ein untrügliches Gespür dafür, was mir auf dem Herzen lag. Er kannte mich einfach zu gut.
Ich schnaubte. »Barnie, ich habe ein Recht darauf, endlich zu erfahren, wer ich bin.«
Er lachte väterlich. »Schatz, du weißt, wer du bist. Und ich weiß es auch. Was sollte die Bekanntschaft mit einem Mann, der nie für dich da war, daran ändern?«
Barnie war stur und loyal. Es hatte keinen Zweck, ihn weiterhin zu bedrängen. Er würde mir ja doch nichts verraten.
»Dennoch hätte ich gerne gewusst, wer er ist. Vielleicht laufe ich tagtäglich an ihm vorbei, oder er kommt regelmäßig in meinen Tearoom. Die Vorstellung ist furchtbar. Und dann frage ich mich, ob er überhaupt weiß, dass es mich gibt. Ob er mich vielleicht gerne kennengelernt hätte, als ich noch klein war, und ob Mum es ihm womöglich verboten hat.«
Es war an der Zeit, ganz offen über meine Bedenken zu sprechen. Holly hatte mir gut zugeredet, und ich wusste, dass sie recht hatte. Also hatte ich mich am späten Nachmittag in den winzigen Aufenthaltsraum neben der Küche verkrochen, um Mums besten Freund anzurufen.
Barnie seufzte, und ich spürte, wie er mit sich rang. »Er weiß, dass es dich gibt, und er wollte nie etwas mit dir zu tun haben. Und damit habe ich schon mehr gesagt, als gut für mich ist.«
Ich schluckte. »Er wollte nie etwas mit mir zu tun haben?«
Diese wenigen Worte trafen mich mitten ins Herz. Wie konnte ein Vater nur so herzlos sein und keinerlei Interesse an seinem eigenen Fleisch und Blut zeigen? Diese Tatsache stimmte mich traurig. Und mittlerweile war ich mir auch nicht mehr sicher, ob es wirklich so klug gewesen war, alte Geschichten ans Tageslicht zu zerren. Manchmal war es vernünftiger, die Vergangenheit ruhen zu lassen, weil man nur dann eine Chance hatte, der Mensch zu werden, der man sein wollte.
Plötzlich kam mir ein ganz anderer Gedanke. Vielleicht hatte Mum sich über meinen Erzeuger ausgeschwiegen, um mich zu schützen. Unweigerlich musste ich mich fragen, wie meine Kindheit wohl verlaufen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass mein Vater mich nicht gewollt hatte.
»Ellie-Schatz, nimm dir das bitte nicht so sehr zu Herzen. Auch wenn du mit deiner Mum nicht immer einer Meinung bist, kannst du dennoch ganz sicher sein, dass sie dich über alles liebt. So sehr, dass sie alles für dich tun würde. Wirklich alles. Das musst du mir glauben.«
Schwer ließ ich mich auf den Stuhl an dem kleinen Tisch fallen, auf dem Matthew seinen Pausensnack – bestehend aus zwei Sandwiches und einem Minikuchen – vorbereitet hatte. Bevor das Abendgeschäft begann, nahm er sich seine zwanzig Minuten, um etwas herunterzukommen und neue Kraft zu tanken.
Ich nickte, wie um mich selbst zu bestätigen. Barnie konnte es ja schließlich nicht sehen. »Wahrscheinlich hast du recht.«
Ich hörte, wie sich Erleichterung am anderen Ende der Leitung breitmachte.
»Das ist meine Ellie.«
Wenigstens einer, der wusste, wer ich war. Mir wollte das einfach nicht gelingen.
In der Schule hatte ich ein Schattendasein gefristet. Manchmal fragte ich mich, ob meinen Mitschülern überhaupt aufgefallen war, dass ich mit ihnen im Klassenzimmer gesessen hatte. Mit Männern hatte ich so meine Schwierigkeiten. Während ich etwas Beständiges suchte, waren die meisten meiner Verehrer nur auf Sex aus. Leider hatte ich das in der Vergangenheit oft erst viel zu spät kapiert und war dabei nicht selten mit einem gebrochenen Herzen zurückgeblieben.
Freunde hatte ich bis auf Holly keine. Als ich noch klein war, passte ich mit meiner Hippie-Mum einfach nicht ins Bild der perfekten englischen Kleinfamilie. Und später fiel es mir schwer, Anschluss zu finden.
Das, was mir in meinem Leben bisher wirklich gut gelungen war, konnte ich an einer Hand abzählen. Besonders stolz war ich auf den Erfolg des Golden Tearooms . Da Mum sich mit der Anerkennung für meine Leistung eher bedeckt hielt, hatte ich insgeheim gehofft, es gäbe da draußen noch irgendjemanden, der das, was ich tat, gutheißen würde.
Doch so einfach war es offenbar nicht.
»Wie war Mum vorhin drauf, als du sie abgeholt hast?«, wechselte ich unvermittelt das Thema. Es brachte nichts, noch mehr Salz in die Wunde zu streuen.
Abermaliges Seufzen am anderen Ende der Leitung verriet nichts Gutes. »Du kennst deine Mum«, lenkte Barnie ein. »Sie wird sich schon wieder beruhigen. Gib ihr etwas Zeit, sich an die veränderten Gegebenheiten zu gewöhnen! Es ist nicht leicht für sie.«
»Und was ist mit mir?«, platzte es viel zu wütend aus mir heraus. »Vielleicht ist das alles auch nicht immer leicht für mich. Vielleicht habe ich inzwischen auch keine Lust mehr darauf, die theatralischen Tobsuchtsanfälle meiner Mutter zu ertragen. Vor allem deshalb nicht, da sie so lächerlich sind. Jede andere Mum würde sich für ihre Tochter freuen, wenn sie ihr von einer neuen Wohnung erzählen würde. Bei meiner Mutter hingegen muss ich Angst haben, dass sie mich verstößt.«
Zu meiner grenzenlosen Verwunderung lachte Barnie. »Wenn ihr beiden nur wüsstet, wie ähnlich ihr euch seid.«
»Bist du sicher, dass du Mum und mich meinst?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Matthew kam in diesem Augenblick in den Raum. Offenbar hatte er nicht bemerkt, wie ich hineingegangen war. Dementsprechend verwundert sah er mich an.
»Ich muss jetzt leider Schluss machen«, beendete ich das Gespräch mit Barnie, das mich leider nicht vorangebracht hatte.
Wenn ich es recht bedachte, dann hatte es mich sogar um Lichtjahre zurückgeworfen. In eine Vergangenheit, die oft sehr traurig und herzlos gewesen war und von der ich hoffte, sie längst verwunden zu haben. Offenbar gab es doch noch so einige offene Baustellen in meinem Leben, die ich lediglich mit einem losen Brett bedeckt hatte, um drübergehen zu können. Ein Provisorium. Keine Lösung von Dauer.
Matthew hob abwehrend die Hände in die Höhe.
»Ich wollte dich nicht stören. Wenn du möchtest, komme ich später wieder. Ich wollte nur kurz mit Madeleine telefonieren, weil Zoey krank ist und sie vorhin mit ihr beim Kinderarzt war.«
Auch wenn ich es meinem Koch gegenüber nie zugeben würde, beneidete ich ihn um seine kleine heile Welt. Er hatte geschafft, was mir bisher nicht gelungen war: Er hatte eine Frau und eine Tochter, die ihn über alles liebten, ein kleines Reihenhaus in Bayswater und einen Job, der ihn über die Runden kommen ließ.
Dass ich zu diesem Familienidyll meinen Beitrag leistete, änderte nichts daran, dass ich kein Teil davon war und es auch nie sein würde.
»Und?«, fragte Holly wieder einmal neugierig, als ich zurück im Tearoom gekommen war.
George spielte gerade My Way von Frank Sinatra. Im Raum herrschte eine angenehme Stimmung. Die Leute unterhielten sich nur sehr leise miteinander, viele lauschten Georges Klängen am Klavier, während wieder andere beim Genuss von Roses Küchlein dahinschmolzen. Ich liebte diesen kleinen, ja wundervollen Ort, der nun aufgrund der vielen Kerzenleuchter in einem gemütlichen Licht erstrahlte und mir das Gefühl von zu Hause vermittelte.
»Barnie weiß auch nichts. Zumindest behauptet er das.«
Ich brachte es einfach nicht über mich, meiner einzigen Freundin anzuvertrauen, was Barnie mir offenbart hatte. Es war das eine, nicht zu wissen, wer man war, aber etwas ganz anderes, einem Dritten gegenüber eingestehen zu müssen, dass man nicht gewollt war.
Holly legte ihre Hand auf meine Schulter und sah mich verständnisvoll an.
»Kopf hoch! Da ist bestimmt noch nicht das letzte Wort gesprochen. Irgendwann wirst du erfahren, wer er ist. Wahrscheinlich genau dann, wenn du nicht im Traum damit rechnest. Bis dahin«, sagte sie und warf mir dabei einen Lappen zu, »könntest du Tisch Nummer vier sauber machen.«
Ich grinste. »Du weißt, wie man jemanden aufbaut, der am Boden ist.«
Nun grinste auch Holly. »Nein, ich weiß, dass die Cumberlands in vier Minuten da sein werden und gerne einen sauberen Tisch hätten.«