Kapitel 6
Max
»Passen Sie doch auf!«, blaffte ich den hochgewachsenen Mann, Typ Bodybuilder, von der Umzugsfirma an, als er einen der Kartons fallen ließ.
Er entschuldigte sich für sein Missgeschick und machte sich daran, den Karton schleunigst in den Lkw zu bringen, während mich ein ungutes Gefühl beschlich.
War es wirklich sinnvoll, so viele Andenken an mein altes Leben mitzunehmen, wenn ich meinen Vorsatz, in Brighton neu durchzustarten, umsetzen wollte? Wäre es nicht besser gewesen, mich von den Erinnerungsstücken zu trennen, anstatt mich damit weiterhin zu quälen?
Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf die Aufgaben des Tages. Heute war die Deadline für meinen Artikel über die Weihnachtsbräuche aus aller Welt für die Times
. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, Weihnachten dieses Jahr keine Beachtung zu schenken. Viel zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an die vergangenen Feste. Aber Eleonore hatte mir in Gedanken gut zugeredet, und da wollte ich sie nur ungern enttäuschen. Ferner war Arbeit noch immer die einzig wirksame Therapie. Das Schreiben hielt mich vom Grübeln ab und hinderte mich daran, das endlose Warum immer und immer wieder zu hinterfragen.
Auch wenn ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, drifteten meine Gedanken ständig in Richtung Rosehill Manor
ab. Mr Hobbs hatte sich bei mir gemeldet und mir erklärt, dass die Sache mit dem Wohnrecht noch zu klären sei, er aber zwischenzeitlich in Erfahrung gebracht hätte, wer dieses im Testament meines entfernten Verwandten zugesprochen bekommen hatte.
Eine Kiste nach der anderen trugen die Möbelpacker aus meinem Arbeitszimmer. Der Rest des Hauses war bereits leer. Verrückt! Dabei konnte ich mich noch genau daran erinnern, wie Eleonore und ich damals hier eingezogen waren. Sie war ganz entzückt von dem Altbau aus dem 19. Jahrhundert gewesen, während ich mir Sorgen um die Instandhaltung gemacht hatte.
Und nun sollte ich also wieder in ein Haus einziehen, in dem auch eine Frau ein und aus gehen würde. Die Vorstellung war abstrus, da es sich bei ihr nicht um Eleonore handelte.
»Brauchen Sie den Tisch noch, oder kann der mit?«, fragte mich einer der bulligen Kerle mit tiefer Stimme.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Die Schränke und Kommoden waren bereits alle weg. Die letzte Kiste trug gerade einer seiner Kollegen aus dem Zimmer. Nur mein Schreibtischstuhl und der Tisch standen noch im Raum.
»Sir?«, fragte der Mann mit Nachdruck, als ich ihm die Antwort schuldig blieb.
Die letzte Bastion, die ich mir nach Eleonores Tod in diesem Haus geschaffen hatte, würde nun auf Reisen gehen und mich schutzlos zurücklassen. Aber ich bezweifelte, dass der Muskelprotz vor mir verstand, warum ich so zögerte, warum es mir so schwerfiel, einen Schlussstrich unter alles zu setzen.
Endlich fasste ich mir ein Herz und erhob mich von meinem Platz, als der Blick des Mannes mich zunehmend nervöser machte. Es war kurz vor Mittag. Die Männer wollten nach getaner Arbeit in meinem Haus sicher erst mal Pause machen. Ihr gutes Recht. Schließlich schufteten sie bereits seit dem Morgengrauen.
Der bullige Kerl von der Umzugsfirma schüttelte leicht den Kopf, als ich meinen Laptop wie einen Schutzschild vor meinen Körper presste und mich in Richtung Fenster stellte. Stocksteif stand ich da, während er zusammen mit einem Kollegen das restliche Inventar des Raumes mitnahm.
Das wars also. In knapp sechs Stunden hatten vier Männer mein Heim komplett ausgeräumt und in einen Lkw gepackt. Mein ganzes Leben würde sich nun ändern. Dabei war ich mir hinreichend im Klaren darüber, dass es manchmal nur wenige Sekunden brauchte, um einem das Wichtigste im Leben zu nehmen.
Das Klingeln meines Smartphones hallte durch den Raum. Ich legte den Laptop auf die Fensterbank und zog es aus der Hosentasche. Ben, ein alter Freund aus Internatstagen, rief mich an. Nach der Schule waren wir für lange Zeit getrennte Wege gegangen. Doch seit der Sache mit Eleonore war er immer für mich da. Und das, obwohl ihm seine Zwillinge zu Hause alles abverlangten.
»Hey, Ben«, meldete ich mich am Telefon und versuchte, dabei den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken.
»Hey, Max, na, wie läufts? Ist alles fertig?«
Wieder schweifte mein Blick durch den kahlen Raum. Die weißen Wände hatten dabei etwas Bedrohliches an sich. Vielleicht verurteilten sie mich dafür, dass ich einfach weiterzog, anstatt mich weiterhin meinen Dämonen zu stellen.
Gott, ich verhielt mich so lächerlich! Das hier waren nichts als vier Wände, die bereits lange vor meiner Geburt existiert hatten und vermutlich auch noch nach meinem Tod bestehen würden. Sie hatten keine Gefühle oder Sorgen. Auch wenn sie Eleonore und mir ein Zuhause gewesen waren, das es so nie mehr geben konnte.
»Im Großen und Ganzen: ja. Die Umzugsfirma hat alles eingeladen. Später kommt noch Mrs Finley, die ich mit der Suche nach Mietern betraut habe. Sie wird sich um alles kümmern. Und danach fahre ich ebenfalls nach Brighton.«
»Dann wirst du das Haus also doch nicht verkaufen?«
Ich hatte lange mit mir gerungen, was wohl das Beste für mich war. Das Haus zu verlassen, war das eine. Es für immer aufzugeben, etwas ganz anderes. Das konnte ich einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Also hatte ich mich dazu entschieden, es zu vermieten.
»Zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Die Immobilienpreise sind im Keller.«
Wenn Ben meine Antwort hinterfragte, dann ließ er es sich nicht anmerken.
»Wann kommst du mich denn mal in den Highlands besuchen? Emily und die Kinder würden sich sehr freuen, dich mal wiederzusehen. Außerdem ist ja bald Weihnachten.« Ben klang besorgt um mich.
»Ich schaffe es in diesem Jahr leider nicht mehr. Es gibt noch so viel zu tun wegen des Erbes. Und dann der Umzug«, log ich. Aber die Vorstellung, heile Welt zu spielen und Weihnachten mit einer glücklichen Familie zu verbringen, war kaum auszuhalten.
»Ich verstehe«, erwiderte Ben. »Aber wenn ich irgendetwas für dich tun kann, lass es mich bitte wissen. Wenn du möchtest, komme ich ein paar Tage zu dir in den Süden und helfe dir beim Umzug.«
Ben war wirklich ein guter Freund. Aber es war kurz vor Weihnachten. Ich würde ihn in dieser für ihn so besinnlichen Zeit auf keinen Fall von seiner Familie trennen. Außerdem musste ich allmählich lernen, nach vorne zu blicken und mich dem Alltag und meinem neuen Leben zu stellen. Auch wenn das bedeutete, Eleonore nach und nach gehen zu lassen.
»Das ist sehr lieb von dir, Ben. Und ich danke dir wirklich aufrichtig für dein Angebot, aber …«
»Aber du willst jetzt erst mal zusehen, dass du allein klarkommst. Ich verstehe das und ich respektiere deine Entscheidung. Aber egal, was ist, melde dich, wenn ich dir irgendwie helfen kann. Okay?«
»Klar.«
Der Motor des Umzugswagens erwachte krachend und scheppernd zum Leben. Ich beobachtete den Lkw, wie er aus der schneebedeckten Einfahrt auf die Straße rollte. All meine Habseligkeiten waren darin. Von kaum etwas hatte ich mich trennen können, obwohl ich es mir so sehr vorgenommen hatte. Vielleicht war es einfach noch nicht an der Zeit gewesen. Vielleicht war ich auch einfach nur ein Idiot, der sich gerne selbst quälte. Irgendwo dazwischen lag wohl die Wahrheit.
»Hast du noch etwas von Mr Hobbs gehört?«
Als der Lkw nicht mehr zu sehen war, atmete ich hörbar aus. »Jein. Er kann mir noch immer nichts zu der Sache mit dem Wohnrecht sagen. Es ist wohl komplizierter, als ich zunächst dachte. Aber er weiß mittlerweile wenigstens, dass eine Frau es bekommen hat.«
Ben zögerte. »Und? Hast du dir ihre Adresse geben lassen? Oder wartest du eure erste Begegnung auf Rosehill Manor
ab? Wie stand sie denn überhaupt zu deinem verstorbenen Onkel? Gehört sie zur Familie?«
Ich zuckte reflexartig mit den Schultern, auch wenn ich wusste, dass Ben das nicht sehen konnte. »Ich habe keine Ahnung.«
Ich hoffte inständig, sehr lange nichts von dieser Frau zu sehen oder zu hören. Am liebsten wäre mir, sie würde nie in dem Herrenhaus auftauchen. Denn eine fremde Frau hatte nichts in meinem neuen Zuhause verloren. Es fühlte sich falsch an. Besonders im Hinblick darauf, dass ich soeben erst Eleonores und mein Haus geräumt hatte.
»Na gut. Ich will dich nicht länger aufhalten. Du wirst sicher noch einen anstrengenden Tag vor dir haben.«
Im Grunde war mein Tag alles außer anstrengend. Ich hatte jemanden damit beauftragt, meine Möbel zu verpacken und nach Brighton zu fahren. Auf Anweisung meines Butlers Mr O’Donnell würden die Männer die Sachen ins Herrenhaus bringen und an ihren angestammten Platz räumen. Für mein Haus in London hatte ich mir eine Maklerin besorgt, die sich sowohl um die Vermietung als auch um den lästigen Schreibkram kümmern würde.
Das Einzige, was ich ohne fremde Hilfe bewerkstelligen musste, war die Fahrt in meinem Bentley von London nach Brighton. Das sollte machbar sein.
Blieben da nur noch die Schatten meiner Vergangenheit, derer sich niemand außer mir selbst annehmen konnte. Auch wenn ich hoffte, sie in dem Haus am Hyde Park zurücklassen zu können, wusste ich es besser.
Ein Ende konnte ein Anfang sein. Aber nur dann, wenn ich bereit dazu war. Noch war ich meilenweit davon entfernt.