Kapitel 22
Max
Als Ellies Mum das Kaminzimmer verlassen hatte, hob ich abwartend eine Augenbraue. Doch nichts geschah. Ellie saß noch immer wie versteinert neben mir auf der Couch. Das Feuer im Kamin prasselte, während ein eisiger Wind ums Haus pfiff.
Weitere Minuten des Stillschweigens legten sich wie eine dicke Decke über uns. Ich haderte mit mir, ob ich Ellie auf das Geschehene ansprechen sollte. Und wenn ja, wie ich es am besten anstellte.
»Willst du darüber reden?«, wagte ich es schließlich doch, Antworten auf meine Fragen zu suchen.
Ich beobachtete Ellie bei meinen Worten genau. Wartete schon darauf, dass sie aufsprang und Hals über Kopf aus dem Zimmer stürmte. Oder mir laut und deutlich zu verstehen gab, dass das ihre Angelegenheit wäre und nicht meine. Doch ich hatte mich getäuscht. Sie blieb. Und schwieg.
Dennoch verspürte ich das mulmige Gefühl in meinem Bauch, eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben. Die Verbundenheit, die ich vor wenigen Minuten noch zu Ellie gespürt hatte, war wie weggeblasen. Wir waren nichts weiter als Fremde, deren Wege sich kurzzeitig gekreuzt hatten.
Als ich schon im Begriff war, meinerseits den Raum zu verlassen, erhob Ellie das Wort an mich.
»Nicht hier. Lass uns draußen ein paar Schritte gehen.«
Sie sah mir nicht in die Augen. Vielmehr blickte sie verschämt zur Seite.
Ich nickte nur, lief zur Tür und hielt sie geöffnet, sodass Ellie hindurchgehen konnte. Keine fünf Minuten später liefen wir durch den Garten, der sich auf der Rückseite des Hauses befand.
Im Sommer war er mit seinen duftenden bunten Rosen, den Rhododendren und den Ginsterbüschen eine wahre Augenweide. Schmetterlinge wie Bienen schwirrten umher, belebten die grüne Oase mit ihrer bloßen Anwesenheit.
Als ich noch ein Kind war, hatte man einen kleinen Pool aufgestellt. Daneben stand ein Trampolin. An einem starken Ast einer Weide war eine Schaukel angebracht worden. Und von einem Baumhaus aus ging eine steile gewundene Rutsche direkt ins Wasser. Der ganze Garten war ein einziges Paradies gewesen. Nun, da er so karg und trist vor mir lag und der Schnee ihn unter einer großen weißen Decke versteckt hielt, fragte ich mich, ob er dies je wieder sein würde. Und inwieweit ich dazu bereit war, meinen Beitrag zu leisten.
»Bevor ich das, was eben passiert ist, erklären kann, muss ich wohl ein wenig weiter ausholen«, sagte Ellie plötzlich, die sich offenbar ein Herz gefasst hatte.
Ich schüttelte leicht den Kopf und ließ die Bilder aus vergangenen Tagen daraus verschwinden. Erinnerungen waren schön und gut, auf eine ganz bestimmte Weise sogar wichtig. Aber sie waren auch eine Bürde.
»Wie du sicher unschwer erkennen konntest, ist meine Mum eine waschechte Altachtundsechzigerin, auch wenn sie zu dieser Zeit noch in die Windeln gemacht hat.«
Ich grinste, und Ellie lächelte mich an. Das Eis war gebrochen. Zwar nur am Rand, aber der Rest würde sich auch noch ergeben.
»Sie wirkte ziemlich hippiemäßig auf mich. Muss cool gewesen sein, mit solch einer Mum aufzuwachsen«, sagte ich und erntete sogleich Ellies verwunderten Augenaufschlag.
»Cool? Es war anders, anstrengend, oft ziemlich nervig und meistens hab ich mich dadurch wie eine Außenseiterin gefühlt. Wirklich cool war daran nichts.«
Ich konnte die Traurigkeit in ihrer Stimme hören, während wir unseren Spaziergang durch den Garten fortsetzten. Mein Blick schweifte umher und suchte nach der alten Eiche, in der sich ein Loch befand, in dem wir Kinder immer Mrs Gilmores Zitronenlimonade versteckten. Als ich den Baum fand, breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus.
»Was gibt es denn da zu grinsen?«, fragte mich Ellie empört.
»Ich … Das mit dem Grinsen … Nur eine Kindheitserinnerung. Nichts weiter«, winkte ich ab.
Eine von so vielen, die ich auf keinen Fall missen wollte. Ohne es zu wissen, hatte ich eine unbekümmerte, traumhafte Kindheit verleben dürfen. Dankbarkeit bahnte sich ihren Weg zu meinem Herzen.
Es gibt so viele Dinge, die wir einfach als gegeben hinnehmen. Wir hinterfragen sie nicht, freuen uns darüber, wenn sie uns guttun, und ärgern uns darüber, wenn wir uns falsch verstanden oder schlecht behandelt fühlen. Doch jeder Moment ist einzigartig. Er kommt nie wieder zurück. Sosehr wir uns auch danach sehnen , dachte ich traurig.
Ellies Miene verriet mir, dass sie nicht so recht wusste, ob sie mir glauben sollte. Zunächst schwieg sie, und ich hatte schon Sorge, sie könnte nicht weitererzählen.
»Meine Mum ist mit mir unzählige Male umgezogen. Wir haben oft in Kommunen gelebt, in denen ich meist nur eine Matratze auf dem Boden hatte und ein kleiner Stoffhase mein einziges Zuhause darstellte.«
Ellie zog sich ihre dicke Wollmütze etwas weiter über die Ohren und stellte den Kragen ihres Mantels auf. Der Wind war wirklich unerbittlich. Er blies so eisig, dass mir bereits Nase, Wangen und Lippen schmerzten. Doch ich lief weiter.
»Einen Vater gab es nicht. Also zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, und Mum hat nie über ihn gesprochen.«
Schmerz und Trauer hatten viele Gesichter. Das Bild von Eleonore schlich sich vor mein geistiges Auge. Aber ich wollte nicht länger an sie denken, indem ich mich an ihren Tod erinnerte. Wir waren so viel mehr als dieser eine schwarze Moment, der alles verändert hatte.
Dann blieb Ellie plötzlich neben mir stehen. »Tja, und vor einigen Tagen bekam ich dann Post von meinem Großvater väterlicherseits, der mir berichtete, dass mein Vater tot sei und er selbst auch bald das Zeitliche segnen würde. Und nun bin ich hier.«
Erwartungsvoll blickte Ellie mich an. Sie schien abzuwägen, ob der Groschen bei mir gefallen war oder ob sie noch etwas deutlicher werden musste, damit ich verstand.
»Dann bist du eine direkte Nachfahrin der Cunninghams?«, fragte ich verblüfft.
Ellie nickte. »Sieht wohl so aus. Mein Großvater hat meinem Vater den Umgang mit mir verboten. Aber wer kann ihm das bei meiner Mutter schon verübeln? Du hast sie ja kennengelernt.«
Ellies gequältes Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Sie wirkte müde und abgespannt. Und was mir besonders missfiel, sie sah traurig aus.
Plötzlich verspürte ich das Bedürfnis, alles zu tun, damit Ellie glücklich war. Ich sah es als meine Pflicht an, für sie da zu sein, mich um sie zu sorgen und mich ihrer anzunehmen. Aber nicht, weil ich ein neues Betätigungsfeld suchte und nicht wusste, was ich mit meiner vielen freien Zeit anstellen sollte. Nein, ich wollte es. Ich wollte mich für sie öffnen, ihr einen Platz in meinem Herzen geben, ihr die Sommer zeigen, die ich als Kind verlebt hatte.
Ellie hatte ein Stück von diesem unfassbar großen Glück verdient und ein Zuhause, das weit über einen zerfledderten Stoffhasen hinausging.
»Und jetzt bist du hier, um dir das Zuhause anzusehen, das du nie hattest«, wagte ich einen Vorstoß in eine Richtung, von der ich nicht wusste, ob sie mich ans Ziel führen würde.
Ellie seufzte schwer, hielt den Blick zu mir allerdings aufrecht. Ein gutes Zeichen, wie ich hoffte.
»Ich weiß nicht so genau, wonach ich wirklich auf der Suche bin. Ich habe zwei Tagebücher von meinem Dad geerbt, seine intimsten Gedanken, wenn man so will. Doch ich hab es noch nicht mal geschafft, sie zu öffnen, um einen Blick hineinzuwerfen. Das alles ist um so vieles schwerer, als ich angenommen hatte. Und Mum …«
Ellie brach mitten im Satz ab. Nun bekam ich eine ungefähre Vorstellung davon, warum sie mich gebeten hatte, ihrer Mutter gegenüber vorzugeben, wir seien ein Paar.
»Weiß deine Mutter denn nicht, wer dein Vater war?«
Ellie schüttelte den Kopf und zuckte dabei mit den Schultern. »Ich denke nicht. Mum ist viel zu direkt, als dass sie diesen Umstand ungesagt gelassen hätte, als sie heute kam. Nein, sie weiß nichts von der wahren Identität meines Vaters. Und bei genauerer Betrachtung ist es wohl auch besser so.«
Ich überlegte, welche Anziehungskraft die Gegensätze vor fast dreißig Jahren gehabt haben mussten, damit Ellie entstehen konnte. Gleichzeitig sinnierte ich darüber, wie ihre Mum sich auf Rosehill Manor geschlagen hätte und ob der eigentliche Nachfolger des Titels des Earls of Cunningham an einem gebrochenen Herzen gestorben war.
In meiner Erinnerung war Ellies Vater ein sehr verschlossener, intelligenter Mann gewesen, der an der Universität von Oxford Literatur unterrichtet hatte. Er hatte seinen Job geliebt und die Zeit weitab von seinem Familiensitz genossen. Auf Rosehill Manor hatte ihn stets eine gewisse Melancholie umhüllt. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, ihn je lachen gesehen zu haben.
»Deshalb auch die kleine Bitte an mich«, schloss ich folgerichtig.
Ellie nickte. »Entschuldige bitte, dass ich dich da mit reingezogen habe. Aber ich kann es meiner Mum nicht sagen. Noch nicht. Ich weiß ja selbst noch gar nicht, was der Aufenthalt hier in diesem alten Kasten mit mir anstellt.«
Ich grinste.
»Was gibt es denn da schon wieder zu lachen?«, hakte Ellie nach.
»Ich finde es seit einiger Zeit ziemlich schön hier auf Rosehill Manor
Ellie verstand die Doppeldeutigkeit in meinen Worten und errötete leicht. Vielleicht war es aber auch nur die Kälte, die mittlerweile in jede Faser unserer Körper gekrochen war.
Als Ellie sich zu einem kleinen Lächeln hinreißen ließ, strich ich ihr eine Strähne aus der Stirn und streifte sie hinter ihr Ohr. Ellie sah mich mit großen Augen an, während ich mich kaum an ihr sattsehen konnte.
»Und … sollen wir dieses kleine Spielchen vor deiner Mum fortführen? Was meinst du?«
Meine Frage war eigentlich eine ganz andere. Ich hoffte, dass Ellie mich auch ganz ohne Worte verstand, als ich mit meinem Daumen vorsichtig über ihre Wange strich und an ihrem Kinn entlangfuhr.
Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ihr Mund wirkte so verheißungsvoll auf mich wie der erste Schnee des Jahres. Er hatte etwas Zauberhaftes, ja Magisches an sich. So wie Ellie.
»Un-unbedingt«, stotterte Ellie verlegen, die es nicht wagte, sich unter meinen Berührungen zu bewegen.
»Dann sollten wir alles dafür tun, dass sie uns das Ganze auch abkauft. Findest du nicht?«
Ich versuchte, mich meiner nächsten Schritte zu vergewissern, nachzuspüren, ob Ellie es auch wollte. Oder ob alles nur ein Produkt meiner Fantasie war.
Mein Herz setzte für einige Schläge aus, als Eleonore mich anhielt, genau so weiterzumachen, wie ich es Ellie indirekt vorgeschlagen hatte. Ich spürte diese unbändige Vorfreude in mir und genoss es, wie neue Lebenskraft meinen Körper mit Energie durchströmte. Das war ein Neuanfang in jedweder Hinsicht. Doch ich konnte nicht behaupten, dass er mir missfiel. Ganz im Gegenteil.
Ich beugte mich ein Stück zu Ellie hinunter, ohne den Blick von ihr zu lösen. Als sie ihre Augen schloss, wusste ich, was zu tun war. Ganz vorsichtig legte ich meine Lippen auf ihre. Die Berührung war so intim, dass ich zunächst innehielt, ehe ich Ellie küsste.
Verheißungsvoll schloss auch ich meine Lider und wartete darauf, dass sie meinen Kuss erwiderte. Zunächst lagen unsere Lippen reglos aufeinander. Doch als ich mich schon wieder von ihr lösen wollte, ergriff Ellie die Initiative und küsste mich so leidenschaftlich, dass mir das Atmen schwerfiel.
Wie eine Ertrinkende legte sie ihre Hände in meinen Nacken und zog mich ganz fest an sich. Die Wärme und Geborgenheit, die von ihrem Körper ausgingen, waren wie ein sicheres Netz, das mich davon abhalten würde, auf dem harten Boden der Tatsachen aufzukommen und an meiner Trauer zu ersticken.
Ich wollte mehr davon. Viel mehr.