Da war Dunkelheit. Da war Schmerz. Nein. Nicht nur Schmerz. Was William in diesen Augenblicken durchlitt, war Qual. Schmerzen, die so tief reichten, dass er sie nicht begreifen und nicht ertragen konnte. Schmerzen, die jede Sekunde in eine nicht enden wollende Ewigkeit verwandelten. Sie waren dumpf, scharf, brennend, allgegenwärtig. Sie durchdrangen jede Faser und jede Zelle seines Körpers. Er wollte schreien, doch nicht einmal das gelang ihm.
Nur langsam hob sich das, was von seinem Bewusstsein übrig war – oder das, was allmählich davon zurückkehrte – von seinem Instinkt ab; nur nach und stellte sich eine Art Klarheit ein, und mit ihr etwas wie Verständnis. Ein Verständnis für das, was geschah, zumindest abstrakt, denn der Schmerz selbst war so unmittelbar und grausam, dass er sich jedem Verständnis entzog, jedweder Rationalisierung und Begrenzung.
Da war eine einzige Empfindung, die sich von der Pein abhob; eine winzige Kleinigkeit, die anders war und sich wie ein Fels aus dem Meer aus Schmerz erhob: eine eisige Kälte, mitten in seinem Leib. Sie pulsierte wie ein lebendiger Organismus, sie blähte sich auf und zog sich zusammen, trieb ihre Wurzeln tief in ihn hinein. Er wollte die Hand heben und an seine Brust fassen, nur um auf seiner Haut plötzlich dieselbe Kälte zu spüren, die in ihrer Kraft selbst den Schmerz einen Moment lang übertraf.
Erst jetzt begriff er, was mit ihm geschah. Das war medizinisches Gel. Es umgab ihn vollständig. Nicht nur äußerlich, sondern auch sein Inneres erfüllte es. Es hatte seinen Hals geflutet, seine Bronchien, seine Lunge, jede noch so kleine Pore seiner Haut. Eine Flüssigkeit, die Wunden heilte, Nährstoffe transportierte und Sauerstoff lieferte. Nicht nur lokal, sondern überall. Was war mit ihm geschehen, dass das nötig war?
Immer mehr gewann er die Kontrolle über seinen Körper zurück; immer deutlicher hob sich sein Bewusstsein vom Schmerz ab. Er spürte seine Hände und Füße, Arme und Beine, spürte, wie sich seine Brust unter instinktiven Atemzügen senkte und wieder hob; eine Bewegung, die gar nicht nötig gewesen wäre, um ihn am Leben zu halten, doch die zu unterdrücken er nicht in der Lage war.
„Bewegungen erfasst“, hallte plötzlich eine monotone Computerstimme zu ihm. Sie klang fern und gedämpft. „EEG positiv. Bewusstsein zurückerlangt. Patient aufgewacht. [Bitte Name einfügen], bitte bleiben Sie ruhig. Das medizinische Personal wurde verständigt und wird sich in wenigen Augenblicken bei Ihnen einfinden.“
Jetzt endlich gelang es William, die Augen zu öffnen – nur um sie sofort wieder zusammenzukneifen, als er von gleißend hellem Licht geblendet wurde. Trotzdem zwang er sich nur Sekunden später, sie erneut zu öffnen, kämpfte gegen das Licht und seine unbarmherzige Helligkeit an und versuchte, durch die zähflüssige Masse aus medizinischem Gel etwas zu erkennen. Da waren grobe Umrisse um ihn herum, Lichter und in verschiedenen Farben blinkende Punkte, aber nichts, was er genau hätte erkennen können.
Plötzlich fühlte er, wie Panik in ihm aufbrandete, als ihm zum ersten Mal wirklich bewusst wurde, was mit ihm geschah; dass er gefangen war, unfähig, sich mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen. Selbst der Schmerz schaffte es nicht, die Panik niederzuringen, und er spürte, wie sich sein Zwerchfell verkrampfte. Er wollte schneller und schneller atmen, doch er konnte nicht. Das träge Gel machte diese Bewegungen unmöglich. Er musste hier raus!
Hektisch tastete er um sich. Medikapseln ließen sich im Notfall immer von innen öffnen, das wusste er, doch dazu musste er den Mechanismus erst einmal finden und es schaffen, ihn zu aktivieren. Angesichts seiner massiv eingeschränkten Beweglichkeit und der Tatsache, dass er nach wie vor nicht klar sehen konnte, war das nahezu unmöglich – doch wider Erwarten ertastete er bereits nach wenigen Augenblicken einen Hebel zu seiner Linken. Ohne zu zögern, zog er daran – und tatsächlich spürte er auf der Stelle, wie sich das medizinische Gel in Bewegung setzte.
„Was tun Sie da?!“ Plötzlich eine Stimme. Sie kam von außerhalb der Kapsel. „Die Ansage war eindeutig! Sie sollten warten!“
William blinzelte. Jetzt, da das Gel allmählich verschwand, konnte er endlich wieder klar sehen, auch wenn sich seine Augen anfühlten, als hätte er sie in flüssigem Feuer gebadet. Vor sich erblickte er einen glatzköpfigen Mann mittleren Alters, der ihn durch die bläulich schimmernden Gläser einer medizinischen Brille mit strengem Blick fixierte – und dabei eine Hand an einer Pistole an seinem Gürtel hielt.
William starrte ihn an, unfähig, etwas zu sagen. Er kannte diesen Mann nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen – und sah entsprechend auch keinerlei Grund, ihm zu antworten, selbst wenn er die Kraft besessen hätte, etwas zu erwidern. Wer auch immer der Mann war, er trug keine Uniform, keine Rangabzeichen und keinerlei Insignien, was es unmöglich machte, ihn zu identifizieren. Zufall, Absicht? Er wusste es nicht.
Dafür spürte William, wie jetzt, nachdem das medizinische Gel vollständig aus der Kapsel gesaugt worden war, der Schmerz mit einem Mal erträglich wurde. Was ihn gerade fast um den Verstand gebracht hatte, war nun kaum mehr als eine unangenehme Empfindung, und selbst das in seiner Lunge verbliebene Gel fühlte sich nur wie zäher Schleim an. Zitternd hob er die Hand und drückte von innen gegen das Glas der Kapsel, bis sie sich schließlich öffnete – und er unvermittelt nach vorne stolperte und ungebremst zu Boden fiel.
Schwerkraft?
„Genau deswegen gibt es die automatische Ansage in den Kapseln“, seufzte der Mann hörbar genervt und trat zu ihm. Er packte William grob an den Armen, zog ihn mühelos hoch und führte ihn zu einem Stuhl in der Nähe. „Ich hoffe, es hat Sie ordentlich auf die Fresse geschlagen.“
„Wo bin ich?“, murmelte William nur und versuchte vergeblich, aufzustehen. Er spürte seine Beine kaum, und selbst wenn er wie durch ein Wunder die Kraft gefunden hätte, sich zu erheben, stand vor ihm nach wie vor der glatzköpfige Kerl mit der Waffe.
„Wo Sie sind, spielt bestenfalls eine untergeordnete Rolle“, antwortete der Mann mit schneidender Stimme. „Viel wichtiger ist, dass Sie hier sind. Mein Name ist Adrian Shaw. Ich bin für den Moment Ihr Captain, Ihr Arzt und Ihr bester Freund. Sie waren in einem ziemlich beschissenen Zustand, als ich Sie aufgegabelt habe. Wissen Sie, wie Sie heißen? Was passiert ist? Woran erinnern Sie sich?“
„William“, murmelte William. „Ich heiße William.“
„Das ist zumindest ein Anfang.“ Shaw trat zurück, nahm die Hand von der Waffe und verschränkte erwartungsvoll die Arme vor der Brust. „Weiter?“
„Ich …“ William kniff die Augen zusammen und versuchte mit aller Kraft, sich zu konzentrieren und weiterzureden, doch es gelang ihm nicht. Sein Kopf dröhnte wie von einem Presslufthammer bearbeitet, und es fiel ihm unglaublich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Verdammt, was war los mit ihm? Er wusste, wer er war, aber alles andere war wie von schweren Wolken verschleiert. „Ich weiß nicht. Ich … Ich …“
„Ganz ruhig“, unterbrach ihn Shaw mit plötzlich deutlich ruhigerer, aber nach wie vor bestimmter Stimme. „Erinnerungslücken und temporäre Amnesie sind normale Folgen eines derart ausgeprägten Aufenthalts in einer Medikapsel. Fangen wir von ganz vorne an: Wie fühlen Sie sich, William?“
„Alles tut weh“, murmelte er und rieb sich die Schläfen – oder zumindest wollte er das, denn selbst diese kurze Bewegung kostete ihn viel zu viel Kraft – und die vorsichtige Berührung seiner Finger ließ augenblicklich einen pochenden, elektrisierenden Schmerz nicht nur durch seinen Kopf, sondern auch durch seine Arme direkt in sein Rückenmark fahren. „Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt.“
„Das könnte daran liegen, dass Sie tot waren.“
„Ich … Was?“
Shaw zog seine Brille ab und strich sich mit der Hand über die Stirn, bevor er ihn mit einem seltsam eindringlichen und vielleicht sogar ein wenig mitleidsvollen Blick ansah. „Sie waren tot, William. Eine ganze Zeit lang, sogar. Etwas Genaueres kann ich aufgrund der eigentümlichen … Bauart Ihres Schiffs nicht sagen, aber wäre ich nicht zufällig vorbeigekommen, wären Sie vielleicht bis in alle Ewigkeit da draußen herumgetrieben. Erinnern Sie sich an Ihr Schiff?“
William schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich an gar nichts.
„Das wird schon wieder“, sagte Shaw und versuchte sich an etwas, das wohl ein aufmunterndes Lächeln sein sollte, aber bestenfalls bemüht wirkte. „Ich bin kein Arzt, zumindest keiner mit Doktortitel, aber dafür hat mich die Zeit einige Tricks gelehrt. Müsste ich die Vitaldaten aus der Medikapsel interpretieren, würde ich behaupten, Sie waren etwa einen Monat lang tot – plus/minus eine Woche.“
„Ich …“ William schluckte schwer und sah auf seine Hände. Es fiel ihm schwer, das gerade Gehörte zu begreifen. „Ich fühle mich nicht so.“
„Wie fühlen Sie sich denn?“
„Als hätte ich geschlafen, glaube ich.“
„Ein Schutzmechanismus; wenig mehr als eine bessere Nahtoderfahrung. Ein Versuch Ihres Gehirns, einen eigentlich unmöglichen Zustand und eine ebenso unmögliche Erfahrung für Sie begreiflich zu machen.“
Shaw setzte sich die Brille wieder auf, woraufhin sofort ein halbes Dutzend kleiner Anzeigen im Glas zu leuchten begannen. Ihr Anblick ließ William einen eiskalten Schauer über den Rücken fahren.
„Aus medizinischer Sicht hätten Sie mindestens eine weitere Woche in der Kapsel bleiben müssen“, fuhr Shaw fort. „Aber Sie machen mir gerade einen recht fitten Eindruck. Erinnern Sie sich bereits an mehr? Ihren Nachnamen, zum Beispiel? Woher kamen Sie, wohin wollten Sie?“
Abermals schüttelte William den Kopf, während er angestrengt versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern, aber noch immer war da nichts. Zwar meinte er, dass sich die Wolken seines Verstands langsam zu lichten begannen, doch er war sich nicht sicher, ob das wirklich geschah oder er es sich nicht nur einbildete.
„Nein“, murmelte er schließlich. „War ich schwer … verletzt?“
„Sie waren tot.“ Shaw lachte. „Ich denke, das ist die ultimative Verletzung, wenn man so will. Jede Wunde und jede Krankheit ist nur ein Gewicht auf der Waagschale des Lebens. Kippt es irgendwann zu Ungunsten des Lebens, ist man in aller Regel tot. Also ja, ich glaube, Sie waren ziemlich schwer verletzt. Der Erhaltungszustand Ihres Körpers war zwar außergewöhnlich, aber trotzdem hat es eines ganz besonderen Kunststücks bedurft, Sie zurückzuholen. Wäre ich nicht gerade mit meinem Schätzchen von Schiff so weit draußen unterwegs gewesen … Na ja, ich denke, dann wären Sie weiterhin mausetot.“
William sah ihn an, erwiderte jedoch nichts. Mittlerweile glaubte er, sich einigermaßen mit dem Gedanken abgefunden zu haben, tot gewesen zu sein, aber er wusste nicht, was er mit der schnippischen Art dieses Kerls anfangen sollte – oder was er überhaupt von ihm halten sollte. Es war wie ein Instinkt, der ihm verbot, ihm zu trauen. Zu guten Teilen lag das sicher daran, dass er absolut nichts darüber wusste, was mit ihm geschehen war und unter welchen Umständen Shaw ihn gefunden hatte. Oder ob überhaupt etwas an seiner Geschichte stimmte. Außer seinem Wort gab es nichts, auf das er sich verlassen konnte. Oder war er gerade zu misstrauisch? Hatte er einen Grund dazu?
Langsam neigte er den Kopf nach vorne und vergrub das Gesicht in den Händen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Verdammt, er wusste ja nicht einmal, ob es überhaupt etwas gab, was er sagen konnte – oder ob er tatsächlich verstanden hatte, was er in den letzten Minuten gehört hatte. Sein Kopf hämmerte und dröhnte so sehr, dass er kaum klar denken konnte, und mittlerweile brach eine immer stärker werdende Flut an zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen über ihn herein.
Schließlich schloss er einfach nur die Augen und atmete immer wieder langsam und tief in seine Handflächen, während er versuchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Alles drehte sich, alles dröhnte, und selbst die Wärme seines Atems auf seiner Haut vermochte nicht, ihn zu beruhigen. Er verstand nicht, was geschah, und erst recht nicht, was geschehen sein sollte. Da waren unzählige einzelne Bilder und Eindrücke in seinem Verstand, doch nichts davon machte Sinn; nichts passte zusammen, nichts davon konnte er sich erklären. Er wusste, dass da etwas gewesen war, dass da etwas sein musste, aber es gelang ihm nicht, sich konkret zu erinnern.
Irgendwann hob er wieder den Kopf und sah Shaw an. Dieser erwiderte seinen Blick mit undefinierbarem Gesichtsausdruck, schien jedoch sofort zu begreifen, dass ihn William eingehend musterte. Beinahe spöttisch breitete er die Arme aus und drehte sich im Kreis, als wollte er beweisen, dass er tatsächlich keinerlei Hoheitszeichen an der Kleidung trug.
„Ich bin kein Cop, wenn du darauf hinauswillst“, raunte er. „Ich sehe mich als Freelancer, aber das bedeutet nicht, dass ich ein Arschloch bin.“
„Das meinte ich nicht“, murmelte William. „Sorry.“
„Alles gut. Noch immer nichts an der Erinnerungsfront?“
„Nein.“
William sah sich um. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich in einem kleinen Raum befand, der aussah wie ein reguläres Schiffscompartment. Allerdings konnte das nicht sein; es gab hier Schwerkraft, und das war im All unmöglich. Vermutlich war das irgendeine größere Station. Drei weitere Medikapseln befanden sich neben der seinen an der Wand. In jeder von ihnen erkannte er verschwommene Umrisse – Frauen, den Silhouetten nach zu urteilen –, doch wer sie waren und ob er sie kannte, konnte er nicht sagen.
„Wo bin ich?“, wiederholte er seine erste Frage.
„Auf meinem Schiff.“
„Ein Schiff?“
„Die Mother Mercy .“ Shaw grinste. „Ein Prachtstück. Die Schwerkraft verwundert dich, oder? Das hier ist ein Rotationscompartment. Experimentelle Technologie. Spitzenklasse.“
„Aber …“, setzte William an, hielt dann jedoch inne.
„Aber was?“
„Vergiss es.“
„Du bist verwirrt, William. Und ganz ehrlich – hätte man mich unter solchen Umständen aufgegabelt, wäre ich es vermutlich ebenfalls. Ich weiß nicht, ob du über die … Ereignisse der jüngeren Vergangenheit Bescheid weißt, aber die Lage im Sonnensystem ist recht heikel. Ich habe lange mit mir gehadert, ob ich überhaupt das Risiko eingehen und dich und deine Begleiter bergen soll.“
„Meine Begleiter?“, wiederholte William.
Shaw deutete auf die drei noch verschlossenen Medikapseln. „Drei Frauen, biologisch etwa in deinem Alter. Nicht gerade die Art von Menschen, die man so weit draußen erwartet.“
„Von wie weit draußen sprechen wir?“
„Ein ganzes Stück hinter dem Neptun. Ich verzichte an der Stelle auf einen Kommentar über transneptunische Leichen .“
„Und … was hast du so weit draußen gemacht?“
„Nichts, von dem ich wüsste, dass es dich einen feuchten Scheißdreck angeht“, antwortete Shaw und klang dabei auf einmal eiskalt. Langsam legte er eine Hand auf seine Waffe und ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen. Eine Warnung. Eine Drohung. „Und du wirst nicht mehr danach fragen, klar? Mit deinem viel zu frühen Aufwachen habe ich schon genug Scherereien, da brauche ich niemanden, der mir Löcher in den Bauch fragt.“
„Löcher?“, wiederholte William, hob aber beschwichtigend die Hände und seufzte. „Das war doch nur eine … Ist gut, okay. Wieso mache ich Scherereien?“
„Weißt du, was ein kaltes Schiff ist, William?“
Er nickte.
„Gut, dann kannst du eins und eins zusammenzählen.“
William öffnete schon den Mund, um ihn zu fragen, worauf genau er hinauswollte, schloss ihn jedoch wieder, als sein nach wie vor nicht ganz klarer Verstand begriff, was Shaws letzte Aussage bedeutete. Dieses Schiff war nicht darauf ausgelegt, eine größere Besatzung als unbedingt nötig zu unterhalten. Und diese umfasste in diesem Fall wohl einzig und allein Shaw – und nur ihn. Jeder Mensch, der zusätzlich wach war, verbrauchte Ressourcen, Sauerstoff und Energie, die man so weit draußen im Sonnensystem lieber nicht verschwenden wollte. Warum ein so offensichtlich modernes Schiff, das mit experimenteller Technologie ausgestattet war und über eine derart fortschrittliche Krankenstation verfügte, auf diese Weise unterwegs war, erschloss sich ihm zwar nicht, doch er begriff trotzdem, was das für ihn bedeutete.
„Ich muss wieder zurück in die Kapsel, oder?“
„100 Punkte.“
„Und …“ Williams Blick wanderte zu den drei anderen Kapseln. „Das sind meine Begleiter, sagst du?“
„Begleiterinnen, ja. Drei Frauen, die ich mit dir im Wrack deines Schiffs gefunden habe. Eine trägt die Uniform der Erde, eine weitere hat einen kybernetischen Unterkiefer. Die dritte bereitet mir aktuell ein wenig Sorgen. Weißt du etwas über sie?“
William kniff die Augen zusammen und starrte auf die Silhouetten. Was Shaw gerade gesagt hatte, bohrte sich wie glühendes Eisen in seinen Verstand. Er wusste, dass er sie kannte, und spürte, wie diese kurze Beschreibungen Erinnerungen in ihm wachriefen, die er bislang nicht in Worte fassen konnte. Er kannte diese Frauen, musste sie kennen, wusste, dass er es tat – und konnte sich doch nicht an sie erinnern. Eine unfassbare Wut brandete in ihm auf, geboren aus Frustration darüber, dass ihm diese simple Aufgabe nicht gelang. Am liebsten hätte er sich selbst geschlagen. Verdammt, warum konnte er sich nicht erinnern? Alles erschien ihm so unglaublich nah, als müsste er nur die Hände ausstrecken und danach greifen. Wieso fiel es ihm so unglaublich schwer?
Er holte tief Luft und wollte Shaw gerade sagen, dass er sich nach wie vor nicht erinnern konnte, als er sich plötzlich fühlte, als würde ein Damm in seinem Verstand brechen. Unwillkürlich riss er die Hände hoch und presste sie gegen seine Schläfen, während sein Herz binnen Sekundenbruchteilen so schnell zu rasen begann, dass es ihm kaum gelang, mit dem Atmen hinterherzukommen. Ein gequältes Stöhnen brach aus seiner Kehle, und er musste sich an seinem Stuhl festklammern, um nicht vornüber zu fallen.
Sein Name war William Kyle. Er war Pilot. Sein Schiff hieß Odysseus . Er … Nein, da war noch mehr. Neuere Erinnerungen, spätere Ereignisse. So viel mehr. Odysseus . Er war Schmuggler. Sein letzter Flug hatte ihn auf den Mars geführt – mit einem Alien an Bord. Ein Alien, das er verloren hatte. Zweimal. Auf dem Mars war eine Krankheit ausgebrochen. Er hatte seine Schwester gesucht und …
Seine Schwester.
Ari.
Ohne zu zögern, sprang er auf, fiel dabei um ein Haar zu Boden und taumelte an Shaw vorbei zu den drei Tanks. In einem davon lag die Frau in der Pilotenuniform. Er wusste, dass er sie kannte, und erinnerte sich daran, dass er mit ihr gemeinsam unterwegs gewesen war, doch fiel ihm ihr Name nicht ein. Im zweiten Tank lag Marissa. Die Söldnerin. Die Frau, die er liebte. Und im dritten Tank lag Ari. Seine Schwester.
Seine Schwester, die gestorben war.
Er erinnerte sich. An alles. An seine Flucht vom Mars, seine Gefangennahme auf Vesta, seine erneute Flucht. Er erinnerte sich an Hope und die Arytol, an die Reise nach Helios-2 , an den Angriff von Terra, den Tod seiner Schwester.
Und an seinen eigenen Tod.
„Sieht aus, als hätte es endlich Klick gemacht“, raunte Shaw mit vielsagendem Tonfall und trat zu ihm. „Also?“
„Meine Schwester“, flüsterte William mit bebender Stimme und starrte auf Aris Silhouette. „Das ist meine Schwester. Sie … Sie ist gestorben. Sie … Sie …“
„Ganz ruhig. Tief durchatmen. Sprich mit mir. Ich höre zu.“
„Ich heiße William Kyle“, hauchte er und fühlte sich dabei, als würde ihm eine riesige Last von den Schultern genommen werden. „Ich … Es ist so viel passiert. Du hast meinen Namen vielleicht schon gehört, aber …“
„Noch mal“, sagte Shaw. „Deinen Namen. Sag ihn lauter. Ich habe dich nicht richtig verstanden.
„William Kyle.“
Shaw trat wortlos an ihm vorbei und beugte sich über die Medikapsel, in der Ari lag. Mit dem Ärmel wischte er das leicht beschlagene Glas frei, sodass William das Gesicht seiner Schwester sehen konnte. Obwohl er instinktiv zögerte, sie direkt anzusehen, konnte er sich nicht davon abhalten, es zu tun. Als sie gestorben war, hätte er so viel gegeben, sie noch einmal berühren zu können, und jetzt lag sie vor ihm, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet und sah aus, als würde sie nur schlafen. Doch er wusste, dass das nicht sein konnte. Er hatte sie sterben sehen, hatte um sie getrauert. Sie konnte nicht leben. Selbst in dieser Kapsel nicht.
„Sie hieß Ari, oder?“, fragte Shaw auf einmal.
„Was?“, fragte William, wollte sich nach ihm umsehen und ihn fragen, woher er ihren Namen kannte, doch kaum hatte er den Kopf gedreht, traf ihn auf einmal ein Faustschlag mitten ins Gesicht und schickte ihn zu Boden. Er versuchte noch, sich abzufangen und die Hände hochzureißen, doch es gelang ihm nicht – und kaum war er zu Boden gegangen, spürte er plötzlich etwas Kaltes im Nacken, dicht gefolgt von einem kurzen, stechenden Schmerz und einer unerträglichen Wärme, die sich in Sekundenschnelle über seinen Hals ausbreitete. Seine Kehle wurde taub, sein Verstand schwer und sein ganzer Körper war wie gelähmt.
„Tut mir leid, William Kyle “, hörte er Shaw sagen. „Das ist nichts Persönliches. Die Wahrheit ist: Ich weiß ziemlich genau, wer du bist, und ich weiß, weshalb Terra dich sucht. Allerdings weiß ich auch, dass du für tot erklärt worden bist. Alles, was mir fehlte, war ein Beweis. Bis jetzt, zumindest; die Aufnahmen meiner Kameras können nicht gefälscht werden. Ich bin mir sicher, TerraSec wird mehr als nur erfreut sein, dich und deine Freunde in Empfang zu nehmen. Wie oft hat man schließlich Gelegenheit, Tote hinzurichten?“
* * *
„Fehler.“ Drei Alarmsignale ertönten in schneller Reihenfolge. Kurze, durchdringende Pfeiftöne, die binnen Sekundenbruchteilen lauter wurden und dann abrupt verstummten. „Antrieb: offline. Manövriertriebwerke: offline. Lebenserhaltung: kritisch. Kommunikation: Störung. Energiefluktuationen in Reaktor eins. Alarm. Alarm. Alarm. Kritischer Kurs. Kollision steht bevor. Alarm. Alarm. Alarm. Notfallmaßnahmen einleiten.“
William riss die Augen auf, als die schiere Wucht dieser Durchsage seinen Verstand wie ein Dolch durchschnitt. Ein schmerzerfülltes, gequältes Stöhnen brach aus seiner Kehle. Nur langsam begriff er, was geschah, war aber unfähig, darauf zu reagieren. Sein Kopf hämmerte wie verrückt, und der unentwegt dröhnende Alarm machte es nicht besser. Jeder einzelne Ton jagte einen stechenden Schmerz durch seinen Verstand. Er versuchte, zu atmen, doch noch bevor er auch nur ansetzte, Luft zu holen, brach auf einmal ein heftiger Brechreiz über ihn herein. Er fühlte sich, als müsste er sich übergeben, doch ganz gleich, wie verzweifelt er auch würgte, es hörte nicht auf. Irgendetwas war in ihm drin! Verzweifelt tastete er über seinen Hals und fasste an seinen Mund, nur um plötzlich einen Schlauch zu fassen zu kriegen, der tief in seinem Rachen steckte.
Ohne zu zögern, umfasste er ihn so fest, wie er konnte, und zog ihn Zentimeter für Zentimeter aus sich heraus. Jedoch gelang es ihm erst nach einer gefühlten Ewigkeit, ihn vollständig aus seinem Hals zu entfernen, und als er schließlich auf das feucht glänzende Stück Gummi in seinen Händen blickte, brach ein erleichtertes Keuchen aus seiner Kehle.
Erst jetzt, als er endlich frei atmen konnte, gelang es ihm, sich zu konzentrieren. Seine Sicht war verschwommen, jedoch nicht wegen der Bewusstlosigkeit, aus der er gerade aufgewacht war, sondern weil sich unmittelbar vor ihm das durch seinen Atem beschlagene Glas der Medikapsel befand. Jedoch war sie diesmal nicht mit Gel geflutet, sondern stand leicht offen. Der Zugang selbst wurde mit Klebeband zusammengehalten und eine Reihe von Kabeln und Schläuchen führte von draußen zu ihm herein, darunter der Schlauch, der in seinem Hals gesteckt hatte, einige Elektroden an seinem Körper und zwei durchsichtige Schläuche, die zu Einstichsstellen in seinen Armen führten. Er zog die Nadeln aus seiner Haut und befreite sich von den Kabeln, um sich anschließend mit aller Kraft gegen die Öffnung zu stemmen. Er hatte keinen blassen Schimmer, was los war oder wieso das kalte Schiff plötzlich wieder über eine Atmosphäre verfügte, aber wenn er überhaupt eine Möglichkeit hatte, sich zu befreien, dann jetzt.
Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass es ihn einige Kraft kosten würde, gegen das Klebeband anzukommen, doch wider Erwarten riss es beinahe augenblicklich, sodass der Zugang weit aufschwang. William fluchte und rechnete schon fest damit, abermals das Gleichgewicht zu verlieren und zu Boden zu stürzen, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen fand er sich auf einmal in der Schwerelosigkeit treibend wieder. Was zum Teufel war hier los? Hektisch schaute er sich um und erkannte einige offensichtlich ausgefallene medizinische Geräte neben seiner Kapsel. Das erklärte dann wohl, warum er wieder zu sich gekommen war. Shaw hatte ihn nicht eingesperrt, sondern nur betäubt gehalten.
„Fehler.“ Abermals ertönten die drei Alarmsignale. „Schiffssysteme versagen. Kollision steht unmittelbar bevor. Evakuieren Sie umgehend das Schiff.“
William sah zur Schleuse, die dieses Compartment mit dem Rest des Schiffs verband. Ein kleines Terminal an der danebenliegenden Wand blinkte warnend rot und machte ihm klar, dass ihm kaum mehr Zeit blieb. Um was genau zu tun, wusste er selbst nicht, doch jede Faser seines geschundenen Leibs schrie ihm zu, dass er zumindest versuchen musste, das Schiff, seine Begleiter und sich selbst zu retten. Und so stieß er sich von seiner Medikapsel ab, schwebte zur Schleuse und zog sich durch sie in den dahinterliegenden, kreisrunden Korridor, der sich mindestens 30 Meter weit in beide Richtungen hinzog. Eisige Kälte schlug ihm entgegen, begleitet von einem lauten Zischen und einem relativ heftigen Luftzug, der unvermittelt an ihm riss.
Sofort klammerte sich William an einem Haltebügel neben der Schleuse fest und sah sich um. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie dieses Schiff aufgebaut war, und da es im Korridor keinerlei Markierungen gab, konnte er nur raten, wo sich das Cockpit befand. Dieser Aufbau ließ sich mit nichts vergleichen, was er je zuvor gesehen hatte, nur leider war das nichts, womit er sein Zögern rechtfertigen konnte. Jede Sekunde, die er hier verlor, konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen, vor allem, da er nicht wusste, wie lange der Alarm bereits durch das Schiff gehallt war, bevor er zu sich gekommen war. Er musste sich beeilen.
Er öffnete die Hand und ließ sich vom Luftstrom durch den Korridor tragen, bis er schließlich eine unscheinbare kleine Schleuse erreichte, die von massiven Abluftschächten umgeben war. Shaw hatte gesagt, dass das Schiff kalt war, also normalerweise über keine Atmosphäre außerhalb des Cockpits verfügte. Da er keinen Grund gehabt haben konnte, in dieser Hinsicht zu lügen, standen die Chancen gut, dass hinter dieser Schleuse das Cockpit lag – und dass dieser Luftstrom die Folge eines Notfallmechanismus war, der das Schiff mit Sauerstoff flutete und den Weg zu einem eventuell vorhandenen Rettungsshuttle freimachte.
William versuchte, die Schleuse zu durchqueren, doch sie öffnete sich nicht. Zwar leuchteten ihm augenblicklich drei grüne Lichter aus ihrer Mitte entgegen, die vermutlich anzeigen sollten, dass sie funktionierte, gleichzeitig ertönte aber auch ein jaulendes Pfeifen, das sogar das Zischen innerhalb des Korridors kurzzeitig übertönte. Die Schleuse klemmte – oder war verriegelt worden.
Selbstverständlich.
William fluchte stumm und sah sich hektisch um. Für so eine Scheiße hatte er keine Zeit! Trotzdem musste er die manuelle Entriegelung finden, und zwar sofort! Das konstante Zischen des Korridors und der immer wieder durch das Schiff hallende Alarm machten es ihm unglaublich schwer, sich zu konzentrieren, vor allem angesichts des miserablen körperlichen Zustands, in dem er sich befand. Schon jetzt schaffte er es kaum, sich zusammenzureißen, geschweige denn, sich in diesem fremden Schiffstyp zu orientieren.
Nichtsdestotrotz gelang es ihm nach einigen Sekunden, zwischen zwei der Abzugsschächte eine kleine Klappe auszumachen, die sich mit einem beherzten Schlag öffnen ließ. Dahinter befand sich eine in einer Fassung verankerte Kurbel. Jackpot! Sofort löste er sie und begann zu drehen. Ein infernalisches Knarzen ertönte, dicht gefolgt von einem unüberhörbaren Knall, mit dem irgendeine mechanische Komponente brach, doch danach ließ sich die Schleuse problemlos öffnen. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, zog er sich in das dahinterliegende Cockpit.
Es dauerte einen Moment, bis William bewusst wurde, dass er sich den Instrumenten kopfüber gegenübersah. Sofort, drehte er sich um und verschaffte sich einen Überblick über den mehr als ungewöhnlichen Aufbau dieses Raumes. Ein protziger, zentral installierter Sessel mit vorgelagerten Steuerinstrumenten dominierte die Mitte des sechseckigen Compartments, doch es gab keinerlei Fenster, über die man nach draußen hätte blicken können. Dafür war an der Decke über dem Sessel eine Art Drehkanzel installiert, an der mehr als zwei Dutzend mit verschiedenen Farben in Untergruppen zusammengefasste und unterschiedlich große Bildschirme angebracht waren.
Erst jetzt, als er diesen ungewöhnlichen Aufbau sah, begriff William, auf was für einer Art von Schiff er sich befand: Das war ein Modulschlepper – ein extrem spezialisiertes und entsprechend seltenes Schiff, das eigentlich nur über Cockpit, Verbindungskorridor und eine kombinierte Antriebs- und Reaktorsektion verfügte. In den inneren Regionen des Sonnensystems traf man einen solchen Schlepper so gut wie nie. Und selbst hier draußen leisteten sich nur wenige ein derart teures Schiff.
„Fehler“, setzte das Computersystem abermals an und erinnerte ihn daran, wie ernst seine Situation war. Den Rest der Ansage ignorierte er.
So schnell er konnte, zog er sich zum Sessel, schnallte sich fest und aktivierte das Navigationsinterface. Augenblicklich leuchteten ihm von allen Seiten Warnungen, Fehlermeldungen und Statusberichte kritischer Systeme entgegen – genug, um selbst seine schlimmsten Erwartungen mühelos in den Schatten zu stellen. Es kostete ihn jede Menge Willenskraft, all die Fehler ebenfalls zu ignorieren und sich stattdessen auf das dringendste Problem zu konzentrieren, nämlich die laut System unmittelbar bevorstehende Kollision mit einem Objekt, das er jedoch selbst jetzt beim besten Willen nicht identifizieren konnte.
Während er sich durch die Daten und Meldungen arbeitete und der Annäherungsalarm unentwegt vor ihm leuchtete, kniff er unwillkürlich die Augen zusammen und hielt inne. Laut System waren sie längst mit dem Objekt kollidiert – und das nicht etwa erst vor wenigen Sekunden, sondern bereits vor mehr als 30 Minuten. Was zum Teufel ging hier vor? Kein System konnte dermaßen unpräzise und fahrlässig arbeiten, dass es zu einer solchen Fehlkalkulation gekommen wäre. Ein paar Sekunden vielleicht, ja, aber das? Unmöglich.
Mit ein paar schnellen Handgriffen schaltete William sämtliche Alarme stumm und initiierte eine schiffsweite Systemdiagnose. Es war zum jetzigen Zeitpunkt zwar kaum mehr als ein Bauchgefühl, doch er war zunehmend davon überzeugt, dass die Notfallsituation, die ihm die Systeme weismachen wollten, nicht wirklich existierte. Wären all diese Fehler tatsächlich aufgetreten, wäre er niemals so weit gekommen und vermutlich auch nie aus seiner Betäubung aufgewacht. Andererseits – irgendetwas hatte zum Versagen der Instrumente geführt, die ihn betäubt gehalten hatten. Nur Zufall?
„Hallo?“, hörte er hinter sich auf einmal eine vorsichtige Stimme. Sofort drehte er sich um. Henderson. Jetzt, als er ihr Gesicht sah, erinnerte er sich endlich an die ehemalige TerraSec -Pilotin. Sie zog sich sichtlich erschöpft und unsicher ins Cockpit. „Hallo, ist da jemand? Ich …“
Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn erblickte, und ihre Hände zuckten, als wollte sie sie zur Verteidigung heben. „Wer sind Sie?“
„William“, entgegnete er und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, zu ihm nach vorne zu kommen. „Du bist Nayla Henderson. Wir kennen uns. Ich könnte hier deine Hilfe gebrauchen.“
„Würden wir uns kennen, wüsste ich es“, erwiderte sie, zog sich dann jedoch zu ihm und schaute ungläubig blinzelnd auf die Anzeigen. „Was … Was soll das sein? Gehört Ihnen dieses Schiff? Das … Das sieht nicht gut aus.“
„Du kommst gerade aus einer Medikapsel“, sagte William, ohne auf ihre Fragen einzugehen, während er dabei zusah, wie die Systemdiagnose immer mehr Ergebnisse lieferte, die so gar nicht zu den angeblichen Fehlermeldungen und dem Systemversagen passten. „Das habe ich auch erst hinter mir. Die Verwirrtheit und die Erinnerungslücken gehören dazu. Es legt sich wieder.“
Sie blinzelte, kniff die Augen zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Oh Gott, ich fühle mich wie durchgekaut. Ich …“
„Wenn du kotzen musst, dann raus hier.“
„Nein“, presste sie hervor. „Es geht schon. Ich glaube, ich erinnere mich. Du bist William.“
„Jup.“
„Der Schmuggler.“
„Jup.“
„Ich wollte dich festnehmen! Du bist ein Terrorist! Du …“
„Ganz ruhig“, fiel er ihr ins Wort. „Das ist erst die halbe Geschichte. Warte ein paar Minuten, bevor du mich erwürgst. Der Rest der Erinnerungen kommt auch bald.“
„Was meinst du?“
William antwortete ihr nicht, da die Systemdiagnose just in diesen Sekunden zum Abschluss kam – und ihm ganz wie erwartet bestenfalls kleine und für den Moment nicht weiter relevante Fehler und Probleme aufzeigte. Das Schiff war flugtüchtig, sämtliche wichtigen Systeme waren vollkommen funktionsfähig und, am allerwichtigsten, derzeit nahm es noch keinen Kurs auf irgendein Objekt, mit dem sie in absehbarer Zeit hätten kollidieren können.
Trotzdem führte die Diagnose nicht dazu, dass die Alarme verstummten und die Fehlermeldungen von den Bildschirmen verschwanden. Ganz im Gegenteil: Je länger die Diagnoseergebnisse auf dem Monitor vor seinen Augen angezeigt wurden, desto schlimmer und haarsträubender wurden die angeblichen Probleme, die ihm von allen anderen Bildschirmen entgegenleuchteten. Glaubte man diesen Anzeigen, müsste das Schiff gleichzeitig explodieren, mit einem Asteroiden kollidieren, beschossen werden und von innen heraus auseinanderfallen.
„Seltsam“, brummte Henderson.
„Erinnerst du dich?“, fragte er und warf ihr einen kurzen Blick zu.
„Größtenteils“, murmelte sie. „Ich glaube, ich bin wieder auf dem neuesten Stand – zumindest ist meine letzte Erinnerung, dass ich gestorben bin. Meine Neuronalimplantate sind aber nach wie vor offline, und das gefällt mir ganz und gar nicht. Irgendetwas stimmt nicht, aber ich kann nicht sagen, was. Ich … Ich bin mir nicht sicher, ob meine Erinnerungen das widerspiegeln, was wirklich geschehen ist.“
„Du meinst Helios-2 , den Angriff von TerraSec , unsere Flucht und unseren Tod?“
„Scheiße“, flüsterte sie. „Es ist wahr?“
„Es ist leider genau so passiert.“
„Und …“ Sie schluckte schwer und sah sich um. „Und das hier? Was soll das alles?“
„Frag mich etwas Leichteres“, gab er zurück. „Da war ein Kerl, der sich als Adrian Shaw vorgestellt hat. Richtiger Mistkerl. Er …“
„Adrian Shaw?“
„Du kennst ihn?“
„Du etwa nicht?“ Sie schnaubte spöttisch. „Er ist einer der größten Hurensöhne des Universums! Der Kerl wird wegen Dutzender Morde gesucht, wegen Vergewaltigungen, Entführungen, Erpressungen, Bombenanschlägen und fast allem anderen, was du dir vorstellen kannst. Solange er dafür bezahlt wird, tut er alles – und weißt du, was das Beste daran ist? Kein Mensch traut sich an ihn heran.“
„Wieso das?“
„Weil er gegen praktisch jeden etwas in der Hand hat, der einen ausreichend hohen Rang bekleidet, um ihm gefährlich zu werden – und jeder naive Cop oder Soldat, der ihn in den letzten Jahren auch nur kontrolliert hat, ist entweder kurz darauf unter unerklärlichen Umständen ums Leben gekommen oder hat nahe Angehörige verloren. Wenn Shaw an Bord ist …“
„Das bezweifle ich.“
„Wieso?“
„Na ja – weil wir hier sind und er nichts getan hat, um uns aufzuhalten.“
„Das macht keinen Sinn.“ Sie deutete auf die Bildschirme. „Das hätte er durchschaut. Eine künstliche Systemkaskade. Gut gemacht, aber nicht so gut.“
William erwiderte nichts. Sie hatte recht. Nichtsdestotrotz war er bislang felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sich niemand außer ihm und seinen Begleitern auf diesem Schiff befinden konnte – schlicht und ergreifend, weil er überhaupt so weit gekommen war. Er war aufgewacht, obwohl es Shaw garantiert lieber gewesen wäre, hätte er bis zu seiner Überstellung an die Erde nicht das Bewusstsein zurückerlangt, und hatte danach nicht nur die Krankenstation verlassen, sondern sogar das Cockpit erreicht. Den Ort, von dem aus er das Schiff buchstäblich in einen Asteroiden rammen könnte.
Wie passte das zusammen?
Es war, wie Henderson gesagt hatte: Einen unerfahrenen Piloten hätten diese Fehlermeldungen sicher massiv verunsichert und womöglich dazu verleitet, etwas Unüberlegtes zu tun und das Schiff zu evakuieren, aber jemand, der so erfahren war wie dieser Shaw, hätte das eigentlich durchschauen müssen. Diese Berichte hielten keinem zweiten Blick und vor allem keiner Diagnose stand. Sicher, dass sich die Warnmeldungen nach dem Systemcheck intensivierten, war ein netter Trick, aber letztlich ebenfalls nur eine Ablenkung. Wahrscheinlich waren die Warnungen zu Beginn so aufeinander abgestimmt gewesen, dass sie sich gegenseitig unterstützten und weitreichende Probleme glaubhafter vorgaukeln konnten. Wenn dazu noch der Alarm losging und eine falsche Dringlichkeit vorgegaukelt wurde, geriet man leicht in Panik.
Trotzdem war diese Erklärung nicht gut genug.
Mehr unwillkürlich als absichtlich schaute sich William um und starrte durch den Korridor hinter der Schleuse ins Heck des Schiffs. Zu sehen war niemand, und egal, wie sehr er auch darüber nachdachte, er konnte sich kein Szenario vorstellen, in dem das hier eine Falle sein sollte. Was also war geschehen, dass Shaw das Schiff verlassen und eine derart wertvolle Fracht wie ihn und seine Begleiter so leichtfertig aufgegeben hatte? Ganz gleich, aus welchem Blickwinkel William diese Fragen auch betrachtete, er fand keine Erklärung.
Er wollte Henderson gerade nach ihrer Meinung fragen, als diese sich auf einmal nach vorne beugte, ein paar schnelle Eingaben an der Steuerkonsole tätigte und sich die Logdateien des Schiffs auf einem der Bildschirme anzeigen ließ. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu erkennen, doch dann bemerkte William auf einmal einen Annäherungsalarm, der nicht zu den übrigen Fehlermeldungen passte.
„Da“, sagte er und deutete darauf. „Vor 33 Minuten. Siehst du das?“
„Mhm“, machte Henderson und ließ sich die Details anzeigen. „Das ist … Fuck.“
William starrte auf den Bildschirm. Vor 33 Minuten, also mehr oder weniger kurz bevor die Kaskade an Fehlermeldungen über das Schiff hereingebrochen und es angeblich mit einem Objekt kollidiert war, hatten die Sensoren ein schnell näher kommendes Schiff ausgemacht. Oder genauer gesagt: einen Kreuzer mit unbekannter Schiffssignatur auf direktem Abfangkurs, der kurz nach der Erfassung wieder von den Sensoren verschwunden war. Laut den Logdateien war keine zwei Minuten später das Rettungsshuttle des Schiffs gestartet.
Das also war der Grund, warum Shaw so überstürzt geflohen war. Dieser Kreuzer musste die Systeme des Schiffs überbrückt und in einen falschen Alarmzustand versetzt haben, um seinen eigenen Anflug zu verbergen.
„Vom Regen in die gottverdammte Traufe“, murmelte William und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich fasse es nicht.“