Da lag sie. Ari. So nah und doch unerreichbar fern, wie schon damals, als sie an Bord des Arytol-Schiffs gestorben war. Ein bisschen Glas und ein paar Zentimeter medizinisches Gel trennten sie von William, aber das änderte nichts. Was ihn anging, hätte sie sich auch am anderen Ende des Universums befinden können, denn sie war und blieb fort.
Der kleine Vitalmonitor am Fußende der Kapsel meinte zwar, ihm vorgaukeln zu können, dass es noch immer Reste von Leben in ihr gab, doch er wusste, dass das nichts weiter war als eine bittersüße Illusion. Wunschdenken von Menschen, einprogrammiert in Maschinen, die nicht anders konnten, als dieser Programmierung zu folgen. Vielleicht mochte es noch Spuren eines wie auch immer gearteten Metabolismus in ihrem Körper geben, aber selbst sie änderten nichts daran, dass Ari tot war, im Diesseits gehalten einzig und allein von Technologie und maschineller Sturheit. Gefangen im Limbus, der erst dann endete, wenn die Maschinen erstarben.
Zögerlich nahm William seine Hand vom Glas. Er wusste, dass die Medikapsel nichts weiter tat, als das Unvermeidbare zu verlängern, aber trotzdem konnte er sich nicht dazu überwinden, die Maschinen abzustellen und es herbeizuführen. Vielleicht war ihm viel mehr Hoffnung geblieben, als er sich eingestehen wollte.
„Du kannst sie nicht gehen lassen, oder?“, drang irgendwann Marissas leise Stimme zu ihm und brachte die Mauer aus Stille und Einsamkeit, hinter die er sich zurückgezogen hatte, viel zu leicht zum Einsturz.
„Nein“, flüsterte er. „Nein, das kann ich nicht. Ich … will nicht.“
„Ich weiß. Mir geht es genauso.“
„Ist das richtig?“
„Nein.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber wir Menschen tun selten das Richtige.“
„Sie sieht so friedlich aus, so …“
„Lebendig.“
„Ja.“
„Sie war nicht lange tot.“
William sah sie an. „Nicht lange?“
„Ein paar Stunden länger als du und ich“, erwiderte sie. „Und das fast ausschließlich in der Schutzschicht des Schiffs gefangen.“
„Soll mir das Hoffnung machen?“
„Nein. Nein, sicher nicht. Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich …“
Sie hielt inne.
„Sprich ruhig weiter“, sagte William leise. „Ich glaube, ich ertrage die Stille ohnehin nicht mehr.“
„Es fällt mir schwer, sie aufzugeben“, hauchte Marissa mit bebender Stimme und legte beide Hände auf das Glas, als wollte sie nach Ari greifen und sie festhalten. „So unvorstellbar schwer. Ich … will irgendetwas tun, um sie zu beschützen, aber ich weiß, dass ich das nicht kann. Ich weiß, dass es zu spät ist. Es ist nicht lange her, dass es passiert ist. Für uns waren es nur ein paar Stunden. Seither waren wir tot.“
„Tot“, wiederholte William lakonisch. „Es hat sich nicht so angefühlt.“
„Niemand sagt, dass der Tod das Ende ist. Wir wissen nicht, was danach kommt.“
„Mag sein. Das meine ich aber nicht. Alles fühlt sich gerade so unwirklich an, so fremd. Es ist, wie du sagst: Für uns waren es nur ein paar Stunden. Trotzdem fühle ich mich, als wäre ich in einer anderen Welt aufgewacht.“
„Eine Welt ohne Ari.“
„Ja.“
William hob den Kopf und sah sich um. Eine Welt ohne Ari. Eine Welt ohne seine Schwester. Ja, das war ein Teil der Erklärung, aber auch wenn es ihm schwerfiel, sich das einzugestehen, war es nicht die ganze. Alles hier fühlte sich seltsam und unwirklich an, wie in einem absurden Traum; die Art von Traum, aus dem man aufwachte und sich nicht sicher war, ob das gerade wirklich geschehen war oder nicht.
Er wusste, dass er dankbar sein sollte. Dankbar, dem Tod einmal mehr entkommen zu sein – und das nur wenige Wochen, nachdem dieser ihn auf seiner Flucht tatsächlich eingeholt hatte. Wären die Wogen des Schicksals ihm und den anderen weniger geneigt gewesen, wären sie vielleicht Jahre oder gar Jahrzehnte im All getrieben, ohne dass sie jemand gefunden hätte. Oder womöglich noch länger. Trotzdem war er vollkommen unfähig, etwas wie Dankbarkeit oder auch nur Freude zu empfinden.
Mittlerweile erinnerte er sich an alles. An jedes Detail der Zeit vor seinem Tod. An jede Kleinigkeit, die auf Helios-2 und während der anschließenden Flucht von der Station geschehen war. Und vor allem erinnerte er sich daran, dass Wulff eine Nachricht geschickt hatte, damals, kurz vor seinem Tod auf dem Schiff der Arytol. Wulff, der bei den Arytol gewesen war und versprochen hatte, sie zu holen.
Aber er war nicht gekommen.
Es wäre müßig gewesen, über die Gründe für sein Fernbleiben nachzudenken. William war die Spekulationen leid, das ewige Für und Wider, die Suche nach Informationen und Hinweisen. Er wusste nicht, warum Wulff nicht aufgetaucht war. Das war eine Tatsache, die er akzeptierte – und die sehr bald vermutlich vollkommen nichtig werden würde.
Mit einem stummen Seufzen auf den Lippen schwebte er zur Schleuse, hinaus auf den Korridor, und machte sich auf den Weg zum Cockpit. Nicht etwa, weil er Marissa und Ari allein lassen wollte, sondern weil er Henderson versprochen hatte, sie nicht länger als nötig allein zu lassen.
„Da bist du ja endlich“, begrüßte ihn die ehemalige TerraSec -Pilotin. „Ich dachte schon, ich muss wieder ohne Unterstützung am Steuer sitzen, während wir abgeschossen werden.“
„Sorry.“
„Du … Was? Nein, Will, mir tut es leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ist … Ist alles okay?“
„Ich denke schon.“ Er holte tief Luft. „Wie ist hier die Lage?“
„Fantastisch“, brummte sie. „Absolut fantastisch. Das Schiff schnurrt wie ein Kätzchen, und selbst wenn ich es darauf anlegen würde, hätte ich nichts zu bemängeln. Blöd nur, dass irgendwann zwischen jetzt und in ein paar Stunden ein Kreuzer auftauchen und uns vom Himmel pusten wird.“
„Keine Chance, ihm zu entkommen, nehme ich an?“
„Kaum. Dieses Schiff schafft sechs Prozent Lichtgeschwindigkeit. Das ist mehr als nur ansehnlich, aber ein terranischer Standardkreuzer kriegt sieben bis acht Prozent hin.“
„Das war keine TerraSec -Signatur.“
„Mhm. Und das macht es nur noch schlimmer. Ein so großes Schiff ohne Militärsignatur? Das könnte von Verbrecherfürsten über Geheimdienste bis hin zu abtrünnigen Offizieren alles sein. Für uns ist es in jedem Fall die Arschkarte – vor allem, da dieses Schiff über ziemlich fortschrittliche Systeme verfügt. Man braucht schon einen Experten für Sensortechnologie und jede Menge Equipment, um es aufzuspüren. Und …“
Sie seufzte frustriert und breitete die Arme aus.
„Und wenn ein Kerl wie Shaw das alles aufgibt, seine Verluste ausrechnet und seinen Arsch jenseits des Neptuns auf einem winzigen Shuttle rettet, braucht man nur zwei und zwei zusammenzuzählen, um daraufzukommen, wie massiv wir am Arsch sind.“
„Das ergibt alles keinen Sinn“, raunte William.
„Was genau meinst du? Also ja, ich stimme dir zu, aber willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?“
„Helios-2 befand sich hinter der Heliopause, und wir waren nicht lange genug unterwegs, als wir abgeschossen worden sind, um es wieder zurück ins eigentliche Sonnensystem geschafft zu haben“, antwortete er langsam. „Da wir blind geflogen sind, kann ich nichts über unseren genauen Kurs sagen, aber wir waren auf jeden Fall zu weit draußen, um einfach so gefunden zu werden. Warum also sammelt uns hier ein Kerl wie dieser Shaw auf? Was hat er zu gewinnen? Wieso nimmt er das auf sich?“
„Du denkst, da steckt mehr dahinter?“
„Ja, ehrlich gesagt, schon.“
„Nur was?“
„Der Wanderer“, ertönte auf einmal Marissas Stimme von der Schleuse. Keine Sekunde später zog sich die Söldnerin zu ihnen. „Ganz einfach. Sagt mir bitte nicht, dass ihr da nicht von allein draufgekommen seid!“
„Das musst du mir erklären“, brummte Henderson. „Wieso sollte sich der Kerl für uns – oder in dem Fall eher für euch – interessieren? Ich dachte, ihr habt seinen Job von vorne bis hinten versaut?“
„Haben wir auch“, stimmte Marissa ihr zu. „Und zwar so was von königlich. Unter sämtlichen anderen Umständen hätte er uns einfach fallen gelassen, aber durch die Sache mit Hope und Helios-2 sind wir im Wert wieder gestiegen. Und bevor ihr fragt: Ja, das hat er garantiert mitbekommen. Meine Interpretation wäre also, dass er Shaw angeheuert hat, uns zu verfolgen und zu sehen, was er tun kann. Und da der sich, wie William berichtet, entschlossen hat, uns stattdessen an TerraSec zur erneuten Hinrichtung zu verscherbeln, tippe ich mal darauf, dass dieses Schiff dem Wanderer gehört.“
„Und … ist das gut oder schlecht für uns?“
Marissa grinste.
„Was, verdammt?“
„Ich drücke es mal so aus“, antwortete die Söldnerin langsam. „Gerade befinden wir uns gewissermaßen auf Schrödingers Schiff. Solange der Wanderer uns hier nicht rausholt, sind wir gleichermaßen lebend und tot. Was geschehen wird, entscheidet sich erst, wenn er an Bord kommt.“
„Der Vergleich hinkt.“
„Würde er hinken, hättest du nicht kapiert, was für eine brillante rhetorische Erklärung das gerade war!“, fauchte sie.
„Es reicht“, ging William dazwischen. „Wir haben kapiert, worauf du hinauswillst. Was mich jedoch interessieren würde, wäre trotzdem, warum sich der Wanderer die Mühe macht, so weit rauszukommen. Nur wegen uns? Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Na ja, weil man Shaw nicht trauen kann. Der Kerl kriegt die Jobs zwar erledigt, aber er neigt eben zu genau jenem eher wankelmütigen Verhalten, dass er hier so mustergültig an den Tag gelegt hat. Das einzige Problem daran ist, dass man den Wanderer nicht so leicht reinlegen kann.“
„Was dafür sprechen würde, dass er uns lebend will?“
„Mhm – oder er will uns als Verhandlungsmasse, um Frieden mit der neuen Universalmacht in Form von TerraSec zu schließen.“
Sie hatte kaum den Mund geschlossen, als auf einmal ein schnelles Piepen durch das Cockpit hallte, dicht gefolgt von einem kurzen, dafür aber umso durchdringenderen Alarmsignal. Zeitgleich leuchtete auf einem der Monitore der Annäherungsalarm auf. Die Sensoren hatten just in diesen Sekunden ein anfliegendes Schiff im Nahbereich ausgemacht, gerade einmal 20.000 Kilometer von ihnen entfernt und selbstverständlich auf direktem Abfangkurs.
„Hah“, machte Marissa. „Als hätte ich es verschrien.“
„Wie kannst du nur so verfickt ruhig bleiben?“, fauchte Henderson und schaltete die Alarme stumm.
„Seit ich mit William vom Mars geflohen bin, stand ich so oft so kurz davor, zu sterben, dass es mich jetzt nicht mehr wirklich von den Socken haut“, gab sie zurück. „Außerdem kenne ich den Wanderer und – viel wichtiger – er kennt mich und weiß, wie viel nützlicher ich bin, wenn ich atme und mich meines Lebens erfreue.“
„Und was ist mit uns?“
„Ach, er ist kein Unmensch. Das wird schon gut gehen.“
„Modulschlepper Mother Mercy “, rauschte es aus der Com-Station. „Captain Shaw, kommen!“
Niemand rührte sich oder sagte ein Wort. Henderson hatte die Hand zwar bereits nach der Com-Steuerung ausgestreckt, betätigte sie jedoch nicht, und auch bei Marissa war auf einmal keine Spur ihres todesverachtenden Spotts von gerade mehr zu sehen.
„Hier spricht William Kyle“, sagte William, nachdem er sich an Henderson vorbeigebeugt und das Com aktiviert hatte. „Adrian Shaw befindet sich nicht mehr an Bord des Schiffs. Mit wem spreche ich?“
„Captain Kyle, halten Sie Ihren Kurs und deaktivieren Sie Ihren Antrieb. Wir kommen an Bord.“
Die Verbindung wurde getrennt – und obwohl dieses Gespräch einer normalen Unterhaltung mit den Sicherheitskräften jeder Kolonie und jeder Station in nichts nachstand, spürte William, wie seine Hände plötzlich zu zittern begannen. Es hatte keine Angst und fürchtete sich auch nicht vor dem, was kommen musste, aber nichtsdestotrotz war da eine intensive Unruhe, die immer stärker über ihn hereinbrach. Es war zu viel. Er ertrug es nicht mehr, er konnte nicht mehr – und doch gab es keine Möglichkeit, den Fortgang der Ereignisse aufzuhalten oder auch nur zu verlangsamen. Er war gefangen.
Während Henderson den Anweisungen des Kreuzers folgte, den Antrieb herunterfuhr und das Schiff schließlich mehr oder weniger zum kosmischen Äquivalent eines Stillstands brachte, starrte William weiter auf den Bildschirm mit den Annäherungsdaten. Mittlerweile war der Kreuzer bis auf weniger als 200 Kilometer an sie herangeflogen, hielt seine Position jedoch nicht, sondern umkreiste sie wie ein Hai seine Beute. Ein einziges Shuttle startete aus einem seiner Hangars.
„Die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir gleich dem Wanderer persönlich gegenüberstehen“, sagte Marissa mit dünner Stimme. „Er ist kein Monster, aber trotzdem einer der gefährlichsten Menschen im Universum. Egal, was geschieht: Lügt ihn unter keinen Umständen an, denn wenn etwas so sicher ist wie der nächste Sonnenaufgang, dann, dass er Bescheid weiß. Immer und über alles.“
* * *
Zu behaupten, dass der Wanderer Wert auf seine Sicherheit legte, wäre eine grobe Untertreibung gewesen. Nachdem das Shuttle an die Mother Mercy angedockt hatte, betraten nicht weniger als zehn schwer bewaffnete und entsprechend gepanzerte Männer das Schiff. Sie trugen keine klobigen Exoskelette wie vergleichbare Einheiten des Militärs, sondern verhältnismäßig eng anliegende, hochmoderne Raumanzüge, wie man sie bestenfalls von Rekrutierungspostern von TerraSec kannte. Innerhalb weniger Sekunden, nachdem sie das Schiff betreten hatten, hatten sie jedes Modul und jeden Winkel gesichert – und William, Marissa und Henderson mit Kabelbindern vor der Schleuse zum Cockpit gefesselt.
Der Vergleich mit dem Vorgehen von CustPol oder anderen Polizeikräften bot sich allerdings nur auf den ersten Blick, denn obwohl das Vorgehen der Bewaffneten martialisch und direkt war, hatten sie ihnen zu keinem Zeitpunkt Schmerz zugefügt oder sie in irgendeiner Weise grob behandelt. Bestimmt und zielgerichtet, ja, aber es war offensichtlich, dass diese Männer Profis waren und keinen Grund hatten, ihre Autorität durch Gewalt zu unterstreichen.
Trotzdem empfand William die schiere Masse an Personal lächerlich. Polizeikräfte hätten mit einem solchen Enterkommando mittelgroße Schiffe oder kleine Stationen hochgenommen, vielleicht sogar die Bosse zweitklassiger planetarer Verbrechersyndikate verhaftet, aber hier? Er, Marissa und Henderson waren körperliche Wracks, kaum in der Lage, Widerstand zu leisten, selbst wenn sie dumm genug gewesen wären, es zu versuchen.
Nachdem sie einige Minuten lang gefesselt darauf gewartet hatten, dass etwas geschah, öffnete sich die Luftschleuse erneut. Ein Mann in einem schlichten grauen Einsatzoutfit betrat das Schiff, und obwohl er keine sichtbaren Magnetstiefel trug, schien ihn die Schwerelosigkeit nicht zu betreffen. Sein linker Arm war kybernetisch augmentiert, und sein Gesicht wurde von einer simplen schwarzen Maske bedeckt, die weder über Löcher für Mund und Nase noch über sonst eine Form von Konturen verfügte. Einzig ein schwach bläulich leuchtender Visor war auf Augenhöhe eingelassen.
„Eine fehlt“, sagte der Wanderer nun mit einer verzerrt klingenden Computerstimme, jedoch ohne sichtbare Regung. „Wo ist Ari Kyle?“
„Tot“, flüsterte William und nickte in Richtung der medizinischen Station. „Sie ist tot.“
Der Wanderer bewegte einen Finger, woraufhin zwei der Bewaffneten sofort das Compartment betraten.
„Der Vitalmonitor zeigt Lebenszeichen“, sagte der Wanderer nun.
„Sie ist trotzdem tot.“
„Darüber werde ich entscheiden.“ Er nahm die Hände hinter den Rücken. „Sie sind William Kyle.“
„Das ist richtig.“
„Ihre Schwester hält viel von Ihnen.“
Er erwiderte nichts.
„Und Marissa Brennan“, fuhr der Wanderer fort. „Die einzige Söldnerin im Universum, die mich immer wieder enttäuscht und doch genug Mut besitzt, mir genauso regelmäßig in die Augen zu sehen.“
„Sprichwörtlich, zumindest“, erwiderte Marissa.
Der Wanderer machte einen Schritt auf ihn zu. „Und Sie sind Nayla Henderson.“
„Darf ich sprechen?“, fragte Marissa und sah ihn erwartungsvoll an, woraufhin er kaum merklich den Kopf nach vorne neigte. „Danke. Ich muss Ihnen nicht erzählen, was für eine Scheiße wir in den letzten Wochen durchgemacht haben, und ich will auch nichts beschönigen …“
„Warum sehen Sie dann die Notwendigkeit, zu sprechen, Brennan?“
„Weil Ari gestorben ist“, zischte sie. „Weil sie versucht hat, das Richtige zu tun – für Sie.“
„Wollen Sie andeuten, ich sei für ihren Tod verantwortlich?“
„Ich deute gar nichts an, und ich habe gerade so was von keine Lust auf irgendwelche rhetorischen Spiele! Ich kenne Sie mittlerweile seit Jahren und weiß, dass Sie meistens nicht der Böse in der Geschichte sind. Sie haben versucht, den Ausbruch der Krankheit auf dem Mars zu verhindern, indem Sie Ari mit dem Schmuggel des Aliens beauftragt haben, Sie haben …“
„Ich habe versucht, das Gleichgewicht der Mächte im Sonnensystem zu erhalten“, unterbrach sie der Wanderer. „Das ist ein Unterschied, den ich zu respektieren bitte. Wenn wir meine Beweggründe schon so unverblümt offenlegen, bitte ich um korrekte Wiedergabe meiner Absichten.“
„Es läuft aufs Gleiche hinaus“, erwiderte Marissa. „Ganz gleich, ob es Zweck oder Ziel war. Die Arytol dürfen nicht die Feinde der Menschheit werden, nur weil Terra Krieg will! Sie …“
Der Wanderer hob die Hand – oder zumindest deutete er diese Bewegung an, und das allein genügte, um Marissa sofort verstummen zu lassen. Sie hatte nicht nur Respekt vor ihm, sondern Angst.
„Der heutige Tag hält lauter Überraschungen für mich parat“, sagte er. „Nicht nur versucht Adrian Shaw, seine Vereinbarung mit mir zu brechen und Sie an Terra zu verkaufen, sondern er verlässt sogar sein heiß geliebtes Schiff, als er das meine bemerkt. Das allein ist schon Stoff für die Geschichtsbücher. Doch jetzt tritt die intergalaktische Miss Leck-mich , Marissa Brennan, plötzlich für eine Sache ein, für die sie nicht bezahlt wird?“
„Das stimmt“, antwortete sie. „Das war nicht meine Sache. Aber es war die von Ari. Und meine Verachtung für die Erde sollte allgemein bekannt sein.“
„Eines Ihrer vielen, vielen Alleinstellungsmerkmale“, antwortete der Wanderer. „Und angesichts der aktuellen politischen Situation keine kluge Einstellung für eine gebürtige Terranerin. Aber drehen wir den rhetorischen Spieß doch einen Moment lang um – was wollen Sie?“
Marissa bewegte die Lippen, sagte jedoch nichts und schüttelte schließlich den Kopf.
„Gut, dann sage ich Ihnen, was ich denke, was Sie wollen“, sagte der Wanderer. „Sie glauben, dass Ihre Hingabe an diese Sache eine unausgesprochene Schuld begleicht, die sie vor Ari Kyle zu haben glauben. Aus dem simplen Grund, dass sie gestorben ist und Sie noch leben. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Sache richtig oder Ihre Zeit wert ist. Ganz im Gegenteil: Mit einer so starken emotionalen Konnotation steigt das Risiko, dass Sie etwas Irrationales tun oder Ihr Leben aufgrund plötzlich aufbrandender Schuldgefühle wegwerfen, ins Unermessliche.“
„Selbst wenn es so wäre, was stört Sie das?“, fragte William in die Stille hinein, die sich nach seinen Worten über das Schiff gelegt hatte. „Weshalb sind Sie hier? Wenn Sie uns nicht an TerraSec ausliefern wollen, was haben Sie dann mit uns vor?“
Der Wanderer neigte ganz leicht den Kopf zur Seite.
„Niemand sagt, dass es nicht meine Absicht ist, Sie auszuliefern.“
„Sie müssten nicht hier sein, wäre das Ihr Plan“, erwiderte William tonlos. „Jemand wie Sie macht sich eine solche Mühe nicht, wenn zwei Goons mit Knarren dasselbe Ergebnis liefern könnten.“
Keine Antwort.
„Es geht Ihnen um Ari“, flüsterte William und sah direkt auf den Visor des Wanderers. „Um nichts anderes. Sie sind wegen Ari hier.“
Erneut schwieg der Wanderer, doch diesmal verharrte er nicht vollkommen regungslos vor ihnen, sondern streckte Zeige- und Mittelfinger aus, woraufhin sofort zwei seiner Männer an ihm vorbeitraten, Marissa und Henderson an den Armen fassten und sie nach vorne ins Cockpit zogen. Die beiden ließen es widerstandslos zu. Und nachdem sich die Schleuse hinter ihnen geschlossen hatte, trat der Wanderer einen Schritt auf William zu und seufzte leise.
„Es sollte mich nicht überraschen, wie ähnlich Sie Ihrer Schwester sind“, sagte er.
„Das wissen die anderen auch. Kein Grund, sie wegbringen zu lassen.“
„Sparen wir uns den rhetorischen Schlagaustausch“, erwiderte der Wanderer. „Sie haben recht. Ich bin wegen Ihrer Schwester hier. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben mich große Investitionen gekostet, die ich nicht leichtfertig aufgeben möchte, und ich setze nach wie vor große Hoffnungen auf Ari. Ihr Zustand ist ernst, aber nicht aussichtslos.“
„Wenn Sie darauf abzielen, dass der Vitalmonitor noch immer …“, setzte William an, doch der Wanderer schüttelte den Kopf.
„Nein“, fiel er ihm ins Wort. „Das tue ich nicht. Meine Männer verfügen über deutlich präzisere Diagnoseinstrumente. Die Rückstände in Aris Körper lassen darauf schließen, dass sie an Bord des Arytol-Schiffs von der Schutzmembran eingeschlossen wurde. Ist das korrekt?“
William nickte.
„Sofern unsere vorläufigen Daten zutreffen, war sie zwischen ihrem Tod und dem heutigen Tag weniger als drei Minuten – in Ermangelung eines präziseren Ausdrucks – ungeschützt“, fuhr der Wanderer fort. „Die Bergung Ihrer Schwester war Shaws primärer Auftrag. Ich muss zugeben, dass ich bis vor Kurzem nicht mit Ihrem Überleben gerechnet habe.“
„Und …“ William zögerte. „Und was bedeutet das?“
„Aris Verletzungen sind behandelbar“, antwortete der Wanderer. „Zumindest die organische Komponente. Ihr Körper und ihr Gehirn sind fast vollständig intakt, was einer Therapie enorme Erfolgsaussichten einräumt. Trotzdem ist sie nicht hier, und das, obwohl sie sich in einer der fortschrittlichsten Medikapseln befindet, die der Menschheit zur Verfügung stehen.“
„Wegen ihres Neuronalimplantats, oder?“
„Exakt. Wo die Arytol Kommunikationsoffiziere ausbilden und Maschinen konstruieren, um ihre biochemische Sprache in für uns verständliche Laute zu übersetzen, scheitern von unserer Seite aus sämtliche Bemühungen. Wir sind weder maschinell noch organisch in der Lage, die Komplexität ihrer Sprache zu imitieren – allerdings sind unsere Gehirne und Nervensysteme grundsätzlich in der Lage, sie zumindest zu verstehen. Ari war der erste und bislang einzige Mensch, bei dem uns das gelungen ist.“
„Und genau deshalb ist sie gestorben.“
„Ja. Es bedarf weiterer Untersuchungen, um eine sichere Diagnose zu stellen, aber ich gehe aktuell davon aus, dass sie die gleichen neuronalen Traumata erlitten hat, die auch alle vorherigen Probanden ereilt haben: ein synaptischer Schock, der ihr Gehirn lähmt und sie in einen katatonischen Zustand versetzt – und als Begleiterscheinung sämtliche Körperfunktionen stoppt, was gemeinhin mit dem Tod gleichzusetzen ist.“
„Das …“ William schluckte schwer. Er traute sich kaum, etwas wie Hoffnung zu empfinden. „Das hört sich wirklich an, als könnte sie behandelt werden.“
„Ja, aber vermutlich nicht allein von mir.“
„Sondern?“
„Von den Arytol. Und genau da liegt der Hund begraben, um ein altes terranisches Sprichwort zu bemühen. Nach dem Angriff Terras haben sie sich in die Tiefen der Oortschen Wolke zurückgezogen und halten dort ihre Position – unerreichbar für uns. Eine Reaktion auf Kontaktversuche unsererseits findet nicht mehr statt. Zwar wissen die terranischen Streitkräfte unseren aktuellen Informationen zufolge nichts davon und feiern sich für den Sieg, aber das ist auch schon alles. Meine persönliche Interpretation lautet, dass sich die Arytol der prekären politischen Lage im Sonnensystem bewusst sind und die Menschheit als Ganzes nicht aufgeben wollen. Noch nicht, zumindest. Wenn meine Ressourcen nicht ausreichen, muss ich erst einen Weg finden, sie zu kontaktieren.“
„Warum erzählen Sie mir das alles?“, fragte William nach kurzem Zögern. „Warum dürfen die anderen nichts davon erfahren? Sie wissen, dass ich …“
„Dass Sie es ihnen erzählen werden? Ja, dessen bin ich mir bewusst. Diese kleine inhaltliche Exkursion diente auch nur dazu, Kontext herzustellen und Ihnen einen Horizont der aktuellen Geschehnisse zu verschaffen. Was ich nun sage, ist vorerst jedoch nur für Ihre Ohren bestimmt. Ich verlasse mich auf Ihre … Diskretion.“
„Sonst?“
„Sonst werde ich meine Absicht, Ihre Schwester zurück ins Leben zu holen, grundlegend überdenken – und den Zustand Ihres fortgesetzten Lebens ebenfalls. Mr. Kyle, nicht viele Menschen erleben mich in einer so … persönlichen Situation. Geben Sie sich jedoch keinen falschen Vorstellungen hin: Dies ist keine Verhandlung. Wir sind keine Freunde. Ich sage Ihnen, was ich von Ihnen erwarte, und Sie werden es tun, wenn Sie nicht die Konsequenzen tragen möchten. Das ist die einzige Entscheidung, die ich Ihnen zugestehe.“
William holte tief Luft und nickte. „Sprechen Sie.“
„Es freut mich, dass Sie verstehen.“ Der Wanderer deutete abermals ein Nicken an. „Ihre Schwester hat bislang auf ganzer Linie versagt. Nicht alles aus eigener Schuldigkeit, aber am Ergebnis ändert das nichts. Selbst meine Möglichkeiten sind angesichts der Eskalation der Lage begrenzt. Da uns mit Ari jedoch ein gemeinsames Interesse verbindet, sehe ich unser Gespräch ab sofort als geschäftliche Vereinbarung zu gegenseitigem Nutzen an. Ich nehme den Körper Ihrer Schwester an mich. Als Druckmittel und zur sicheren Verwahrung. Ich werde versuchen, eine Behandlung der neuronalen Schäden zu ermöglichen. Im Gegenzug müssen Sie einen Kurierdienst für mich übernehmen, um die … unglückliche Ereigniskette der letzten Wochen zu durchbrechen.“
„Einen Kurierdienst?“
„Exakt. Als Sie mit Miss Brennan auf dem Mars nach Ihrer Schwester gesucht haben, sind Sie auf einen von ihr zurückgelassenen Datensatz gestoßen. Dieser befindet sich derzeit auf der kybernetischen Hardware von Miss Brennan. Was Sie nicht wissen, ist, dass es Aris Ziel war, dieses Datenpaket an einen mittlerweile verstorbenen Kommunikationsoffizier der Arytol weiterzuleiten.“
„Hope“, hauchte William. „Oder?“
„Das ist richtig.“
„Warum hat sie nichts gesagt? Wir waren tagelang mit ihm unterwegs! Sie hätte mehr als genug Möglichkeiten gehabt, ihm dieses Datenpaket auszuhändigen!“
„Aus Sicherheitsgründen wusste Ari nicht, wer ihr Kontakt war. Über Hopes Gründe, das Datenpaket nicht einzufordern, kann ich nur spekulieren. Womöglich haben ihm die sich überschlagenden Ereignisse und die unsicheren Entwicklungen keinen Spielraum gelassen. Fakt ist, dass diese Daten für uns und auch für die Arytol von unschätzbarem Wert sind und unter allen Umständen ihr Ziel erreichen müssen. Zumindest im Moment können sie nicht mehr ohne Weiteres reproduziert werden.“
„Warum ich?“ William zog die Augenbrauen hoch und sah den Wanderer misstrauisch an. „Sie verfügen über immense Ressourcen, sind bestens informiert und haben Kontakte, von denen ich nur träumen kann. Warum also soll ausgerechnet ich dieses so wichtige Datenpaket abliefern?“
„Spielt das eine Rolle, Mr. Kyle?“
„Ja.“
„Sie misstrauen mir.“
„Können Sie es mir verdenken?“
„Nein, wohl nicht. Ja, ich könnte das Datenpaket von meinen Leuten ausliefern lassen. Ich könnte dessen DNS-Verschlüsselung aufheben, indem ich Ihnen einen Finger abhacken und Miss Brennan den Kiefer ausreißen lasse. Allerdings sehe ich aktuell keinen Grund für eine solche Barbarei. Ganz davon abgesehen, dass es in vielerlei Hinsicht sicherer ist, wenn ich mich nicht persönlich einmische.“
„DNS-Verschlüsselung?“
„Korrekt. Hätte Ari die Daten an Hope übergeben, wären sie automatisch entschlüsselt, für ihn zugänglich gemacht und anschließend auf sein Genom neu verschlüsselt worden – und so weiter und so fort. Da Ari jedoch im Koma liegt und ich einen neuronalen Eingriff in diesem Zustand nicht riskieren möchte, befindet sich die letzte verbliebene Kopie auf Miss Brennans Hardware und Sie sind aktuell der Schlüssel. Selbstverständlich könnte ich eine Entschlüsselung ohne Ihre Mithilfe veranlassen, allerdings bedarf dieses Vorhaben der aktuell nicht zu erlangenden Hilfe der Arytol und würde Monate dauern – Zeit, die uns nicht bleibt.“
„Aber ich kann es entschlüsseln?“
„Der Empfänger wird in der Lage sein, es mit Ihrer Hilfe zu tun.“
William schwieg einen Moment lang. „Wenn ich das tue, holen Sie Ari zurück?“
„Sie haben mein Wort, dass ich alles versuche, was mir möglich ist.“
„Was soll ich den anderen sagen? Marissa muss wissen, was wir tun, wenn sich die Daten bei ihr befinden.“
„Sie darf es zu gegebener Zeit erfahren, aber zuvor bitte ich um völlige Diskretion für den Fall, dass einer von Ihnen TerraSec in die Hände fällt“, antwortete der Wanderer. „Da Sie um das Leben Ihrer Schwester ringen, haben Sie eine entsprechende Motivation, nichts zu sagen. Zumindest hoffe ich das um Ihrer beider willen. Ich lasse Vorräte an Bord und übermittle Ihnen Koordinaten, die Sie unverzüglich ansteuern, sobald meine Männer und ich das Schiff verlassen haben. Mit der Mother Mercy sollten Sie Ihr Ziel zügig und mit etwas Glück auch unbemerkt erreichen. Sobald Sie ankommen, wird sich der Empfänger bei Ihnen melden. Für den Fall, dass Sie Ihren Teil der Abmachung einhalten, werde ich Sie anschließend kontaktieren.“
„Darf ich fragen, wie der Empfänger heißt?“
„Nein, das dürfen Sie nicht. Ich werde ihn keinem unnötigen Risiko aussetzen. Und, William?“
„Ja?“
„Versuchen Sie nicht, mich zu hintergehen, ganz gleich, welche Gründe Sie auch zu haben glauben.“