So schnell er konnte, machte William die Mother Mercy startklar. Da das Schiff nur über einen adhärenten Orbitallift an die Ephesus -Station angedockt war, waren die meisten Primärsysteme nach wie vor online, um es in Geschwindigkeit, Kurs und Höhe zu stabilisieren. Das ersparte ihm einigen Aufwand, doch die Frage war, ob das genügte, denn Zeit war ein mit jeder Sekunde an Bedeutung gewinnender Faktor.
Es hatte viel zu lange gedauert, Henderson an Bord zu bringen. Die Wunde an ihrem Bein hatte auf den ersten Blick zwar ernst, aber nicht weiter gravierend ausgesehen, doch ihr Zustand hatte sich noch auf der Station rapide verschlechtert. Wieso, war sowohl ihm als auch Marissa ein Rätsel. Ein Rätsel, auf das zumindest er in diesen Sekunden keinerlei Rücksicht nehmen konnte. Er musste das Schiff von hier wegbringen, denn falls die Stimme im Transmitter die Wahrheit gesagt hatte, blieben ihnen aktuell keine zehn Minuten mehr, bis die Patrouille von TerraSec in Sensorreichweite kam.
„Komm schon, komm schon!“
Frustriert schlug er auf die Armlehne des Cockpitsessels. An sich hätte er längst durchstarten können, doch der Orbitallift war noch an die Luftschleuse der Mother Mercy gedockt und machte keine Anstalten, sich abzulösen. Beschleunigte er jetzt, riskierte er, dass er ihn mitriss und der Magnetanker gegen die hinteren Sektionen des Schiffs prallte, was im schlimmsten Fall einen Hüllenbruch zur Folge haben könnte. Er …
Endlich! Eine einzelne, grün leuchtende Anzeige bestätigte ihm, dass der Anker entmagnetisiert wurde. Kaum befand er sich weit genug vom Schiff entfernt, gab William volle Energie auf den Antrieb und beschleunigte die Mother Mercy so sehr, wie er es angesichts des in unmittelbarer Nähe befindlichen Uranusmondes riskieren konnte. Er musste Distanz gewinnen.
Der Flugvektor, den die Stimme im Com angekündigt hatte, war bereits übermittelt worden, bevor er an Bord gekommen war. Eine überraschend kleine Transmission, mehrfach verschlüsselt und ohne erkennbaren Absender. Und als er sie nun ins Navigationsinterface einspeiste, entschlüsselte sie sich von allein. Damit hatte er schon gerechnet; alles andere wäre sinnbefreit gewesen. Doch der Kurs, den ihm die Systeme jetzt anzeigten, konnte unmöglich stimmen.
Unwillkürlich schüttelte William den Kopf, ließ sich eine schematische Darstellung anfertigen und starrte auf die dreidimensionale Abbildung, die ihm von einem der Bildschirme aus entgegenleuchtete. Vorausgesetzt, der Vektor war richtig – und daran hatte er leider keinerlei Zweifel – dann wurde von ihm erwartet, dass er den Uranus um etwas mehr als 30 Grad umrundete und ein Ziel unterhalb seiner Wolkenobergrenze ansteuerte. Rein von der Entfernung her keine nennenswerte Strecke, aber die Komplexität eines solchen Flugmanövers war nicht zu unterschätzen.
„Leck mich doch“, raunte er und brachte das Schiff auf Kurs.
Angesichts der im Anflug befindlichen terranischen Patrouille blieb ihm ohnehin keine Wahl. Behielt die Stimme im Com recht, kamen die Schiffe in weniger als fünf Minuten in Sensorreichweite, und hatten sie ihn einmal erfasst, war er erledigt. So weit von der Erde entfernt operierten keine Korvetten oder Fregatten, sondern Kreuzer. Mindestens. Und diesen Schiffen konnte er nicht einmal an Bord der Mother Mercy entkommen. Ganz davon abgesehen, dass er es mit einer aktiven Sensorerfassung vergessen konnte, irgendjemanden zu kontaktieren, der mit dem Wanderer in Verbindung stand.
Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, initiierte er einen routinemäßigen Check der Systeme und ließ die Sensoren im Rahmen ihrer Kapazitäten den zu erwartenden Eintrittspunkt der Uranusatmosphäre abtasten. Da die äußersten Atmosphärenschichten des Planeten nur unwesentlich wärmer waren als das sie umgebende All, war eine Eisbildung auf der Schiffshülle und an den Sensoren gar nicht so unwahrscheinlich. Das brachte eine Reihe eigener Probleme mit sich, aber darum konnte er sich erst kümmern, wenn es soweit war.
Das Navigationsinterface berechnete die voraussichtliche Flugdauer mit nur etwas mehr als 20 Minuten, was vor allem der Tatsache geschuldet war, dass er angesichts der geringen Entfernung nicht auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigen konnte. Ob das reichen würde, um den terranischen Patrouillenschiffen zu entkommen? Solange er sie nicht auf seinen eigenen Sensoren sah, konnte er keine Berechnungen anstellen, aber es würde auf jeden Fall eng werden.
„Will?“, rauschte plötzlich Marissas Stimme aus seinem Helm, den er neben sich zwischen Sessel und Instrumente geklemmt hatte. „Hörst du mich?“
Er zog ihn sich über. Dass sie ihn so kontaktierte und nicht persönlich kam, war kein gutes Zeichen.
„Laut und deutlich.“
„Ich habe Hendersons Wunde behandelt. Die Blutung ist gestillt, aber ihr Zustand ist schlecht. Sie hat eine Körpertemperatur von 40,5 Grad, und die Sauerstoffsättigung im Blut ist runter auf 92 Prozent.“
„Das klingt nach einer Infektion.“
„Ja. Es ist etwa eine Stunde her, seit das Alien sie erwischt hat.“
„Du denkst, es war infiziert?“
„Zwangsläufig. Keine andere Krankheit bricht so schnell aus. Du und ich sind wegen Ari immun. Henderson nicht. Die Symptome passen zu dem, was wir auf dem Mars gesehen haben.“
„Kannst du etwas tun?“
„Nur symptomatisch. Ich versuche, ihr Fieber minimal zu senken, damit sich ihr Körper nach wie vor gegen die Infektion zur Wehr setzen kann, und ich habe ihr Schmerzmittel gegeben, aber … William, ich glaube, sie stirbt.“
„Was ist mit den Medikapseln?“
„Solange ich nicht weiß, was mit ihr nicht stimmt und wie ich es behandeln kann, helfen die nicht. Ich kann nicht einfach auf gut Glück einen Medikamentencocktail zusammenmischen, ins Gel pusten und das Beste hoffen. Wie lange brauchen wir, bis wir unser Ziel erreichen?“
„Noch etwa 18 Minuten. Sie … Schafft sie das?“
„Vielleicht.“
„Siehst du eine Alternative?“
„Nein.“
„Dann tu alles, was du kannst, um sie am Leben zu halten!“
„Verstanden. Bitte beeil dich. Ich will nicht noch jemanden verlieren.“
William nickte stumm, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte, und gab zusätzliche Energie auf die Triebwerke. Viel mehr konnte er nicht tun, ohne die Integrität des Schiffs zu riskieren und jeden an Bord in unnötige Gefahr zu bringen. Aber selbst wenn es ihnen nur eine Minute erkaufte, machte das am Schluss vielleicht den Unterschied zwischen Leben und Tod aus.
Nichtsdestotrotz brach eine unerträgliche Hilflosigkeit über ihn herein. Er hatte gesehen, was auf dem Mars geschehen war, die Berge an Toten, die Krankheit, die Jung und Alt, Gesunde und Kranke gleichermaßen dahingerafft hatte. Er hatte die Machtlosigkeit der Menschheit gesehen – und die immense Geschwindigkeit, mit der das Sterben begonnen hatte. Henderson kämpfte gerade den Kampf ihres Lebens.
In den letzten Wochen war es ihm irgendwie gelungen, die Krankheit und alles, was mit ihr zusammenhing, aus seinem bewussten Denken herauszuhalten. Sicher, die Krankheit selbst und das, was sie für die Menschheit und die Arytol bedeutete, waren immer wie ein Damoklesschwert über ihm geschwebt, aber ihre direkten und unmittelbaren Konsequenzen hatten viel mehr Relevanz besessen. Der Fall des Mars, der kurze Eroberungsfeldzug der Erde, der Angriff auf die Arytol, Ari.
Jetzt war sie wieder da, und das viel unmittelbarer, als er sich hätte vorstellen können. Es war eine Sache gewesen, sich Sorgen um Ari zu machen, doch damals hatte er weder über die Tragweite des Ausbruchs noch über den Verlauf der Infektion etwas gewusst, und auch das Schicksal seiner Schwester war offen gewesen. Hier und jetzt wusste er, dass Henderson infiziert war. Und was das bedeutete.
Es konnte kein Zufall sein, dass der Arytol sie infiziert hatte. Ari hatte zwar stets behauptet, dass die Aliens nicht die Ursache waren, aber das hatte er ihr schon damals nicht ganz abgekauft. Und angesichts all der Lügen, die sie über so lange Zeit hinweg aufrechterhalten hatte …
Verdammt.
„Gibt’s was Neues, Marissa?“
„Nein. Ich denke, für den Moment ist sie stabil.“
„Was heißt das?“
„Das Fieber steigt nicht mehr, und die Sauerstoffsättigung sinkt nicht weiter. Ich denke, das ist momentan der beste Zustand, auf den wir hoffen konnten.“
„Gut, halt mich auf dem Laufenden, ja?“
„Mache ich. Und, Will?“
„Ja?“
„Es tut mir leid.“
„Marissa, das ist nicht der Zeitpunkt, um …“
„Du musst nur zuhören, nicht antworten. Konzentrier dich aufs Fliegen. Okay?“
Er seufzte stumm. „Okay.“
„Was ich über Ari gesagt habe, tut mir leid“, flüsterte sie nach kurzem Schweigen. „Vor allem nach dem, was du mir erzählt hattest. Ich bleibe bei meiner Aussage, aber ich will, dass du weißt, dass ich dich nicht verletzen wollte. Und gerade … Gott, wenn ich Henderson so vor mir sehe, dann frage ich mich, ob Ari nicht doch bessere Gründe hatte, als wir dachten.“
„Wie meinst du das?“
„Wäre sie zu dir gekommen und hätte dir gesagt, dass sie ein Alien an Bord der Odysseus geschmuggelt hat, das eine Krankheit verhindern soll, die einen gesunden jungen Menschen innerhalb einer Stunde an den Rand des Todes bringen kann –, hättest du ihr geglaubt?“
„Nein“, antwortete er langsam. „Nein, ich denke, ich hätte ihr unterstellt, mich anzulügen, um irgendetwas anderes vor mir geheim zu halten.“
„Wir sind alle bloß Menschen, Will. Wir machen Fehler. Und ich glaube, diese Fehler und die Art, wie wir damit umgehen, machen uns überhaupt erst zu dem, was wir sind. Ich will Ari nicht von sämtlicher Schuld befreien, aber wenn ich Marissa vor mir sehe … Ari hat gesagt, dass sie selbst fast an der Krankheit gestorben wäre. Ist es so verwerflich, dass sie anderen dieses Schicksal ersparen und dich nicht mit dem Wissen darüber belasten wollte? Sie … Oh, scheiße, shit, verdammt!“
„Was ist?!“
„Kreislaufkollaps!“ Im Hintergrund piepten Maschinen. „Fuck, verdammt, sie stirbt mir unter den Fingern weg!“
„Halt sie am Leben!“, rief William. „Wir sind gleich da!“
Marissa antwortete noch irgendetwas, doch er hörte ihr nicht mehr zu. Die finale Phase des Anflugs hatte begonnen. Der Vektor sah vor, dass er das Schiff in einer engen Schleife erst vom Uranus weg- und anschließend direkt auf ihn zusteuerte, sodass sie seine oberste Wolkenschicht im 90-Grad-Winkel durchstoßen würden. Selbst die Reduktion der Geschwindigkeit miteingerechnet, war das ein verdammt riskantes Manöver, das sie im Fall eines Problems in die schlimmstmögliche Position für eine Kurskorrektur brachte. Aber es musste sein. Sie mussten die Station, das Schiff oder was auch immer sie erwartete, erreichen, bevor es zu spät war.
Auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, wie.
Während durch das interne Com-System seines Helms weiter das panische Piepen der Maschinen, das Heulen eines fernen Alarms und Marissas durchgehender Wechsel von Flüchen und Flehen drangen, flog er die Schleife und brachte das Schiff in seine finale Anflugposition. Augenblicklich gingen auch im Cockpit sämtliche Alarme los, die die Systeme nur aufbieten konnten, schließlich war er gerade dabei, die Mother Mercy mit einigen zehntausend Stundenkilometern Geschwindigkeit direkt in einen Eisriesen zu rammen.
Das Manöver dauerte nur Sekunden, dann durchstießen sie auch schon die oberen Wolkenschichten des Planeten und tauchten ein in diese Welt aus Eis. Die Sensoren schrien ein letztes Mal mit all ihrer maschinellen Wut auf und die Systeme zeigten ihm jede erdenkliche Warnmeldung an, bevor sie zeitgleich verstummen und verblassten. Die Energieversorgung des Schiffs war weiterhin intakt, das sah William an der Tatsache, dass die Beleuchtung nach wie vor funktionierte, doch die Bildschirme des Drehkranzes waren fast vollständig ausgefallen, die Systeme überfordert. Nichts anderes hatte er erwartet.
Einzig das Notfallinterface der Navigationssysteme funktionierte noch – und das war zum Glück alles, was er für den Moment brauchte. Er hatte sich in den vergangenen Tagen daran gewöhnt, das Schiff faktisch blind zu fliegen, sodass ihn der Ausfall der Systeme zumindest in dieser Hinsicht nicht weiter beeinträchtigte. Anhand der internen Systemkommunikation des Schiffs und der letzten bekannten externen Parameter war das Interface weiter in der Lage, Kurs, Geschwindigkeit und Relation zum Ziel zu berechnen.
Zumindest in der Theorie, denn jetzt fiel auch das Notfallinterface aus.
„Nein, oder?“, entfuhr es William.
Sofort beugte er sich nach vorne und versuchte einen manuellen Neustart, woraufhin sämtliche Monitore um ihn herum einen Moment lang aufflackerten, doch dann erstarben sie erneut. Das durfte nicht wahr sein – nein –, das konnte nicht wahr sein! Es gab keinen vernünftigen Grund, warum die Systeme so großflächig versagen sollten! Wenn die Sensorphalanx mit Eis bedeckt war und entsprechend nicht arbeiten konnte, gut, das Gleiche galt für die Manövriertriebwerke. Aber das? Das konnte einfach nicht sein, verdammt!
„Willst du mich verarschen, du gottverdammtes Scheißschiff?“, brüllte er und versuchte abermals einen manuellen Neustart, doch diesmal flackerten die Monitore nicht einmal mehr auf – und das, obwohl ganz eindeutig Energie vorhanden war. Was zum Teufel war hier los? Bevor die Systeme endgültig ausgefallen waren, hatten sie noch etwas mehr als drei Minuten Flug vor sich gehabt, was im Umkehrschluss bedeutete, dass sie irgendwann in den nächsten deutlich weniger als drei Minuten mit irgendetwas kollidieren würden, wenn es ihm nicht sofort gelang, die Kontrolle über das Schiff zurückzuerlangen und es abzubremsen.
„Mr. Kyle, hören Sie mich?“, rauschte auf einmal eine verzerrte Stimme aus seinem Helm. Das war dieselbe Stimme, die vorhin bereits mit ihm gesprochen hatte. „Mr. Kyle, sind Sie da?“
„Was denn?“, fauchte er. „Keine Funkdisziplin diesmal?“
„Das ist nicht nötig. Schön, dass Sie es so weit geschafft haben. Wie ist Ihr Status?“
„Wir dürften in circa zwei Minuten mit Ihnen kollidieren und zerschellen. Ich habe keine Kontrolle mehr über das Schiff.“
„Gut.“
„Was?!“
„Die navigatorische Situation innerhalb unseres Perimeters ist zu delikat, um manuelle Anflugmanöver zuzulassen. Laut unseren Systemen wurden Sie erfasst und erreichen uns in circa fünf Minuten.“
„Erfasst?“
„Details zu der genauen Natur unserer derzeitigen Operation erhalten Sie nach Ihrer Ankunft. Dass unsere derzeitige Kommunikation abgefangen wird, ist zwar äußerst unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ich erwarte Sie nach …“
„Stopp!“, fiel ihm William ins Wort. „Hendersons Zustand verschlechtert sich rapide; soweit wir es sagen können, wurde sie von dem Alien auf Ephesus mit der Krankheit infiziert, die bereits auf dem Mars ausgebrochen ist. Mein letzter Kenntnisstand war ein akuter Kreislaufkollaps. Sobald wir angedockt sind, brauchen wir sofort einen Arzt!“
„Ich verstehe. Wir bereiten alles vor. Bringen Sie Captain Henderson zur Luftschleuse, damit wir sie sofort evakuieren können. Und, Mr. Kyle?“
„Ja?“
„Falls Sie irgendetwas von Wert an Bord haben, sollten Sie es mitnehmen. Wir werden die Mother Mercy in den Planetenkern lenken, sobald Sie das Schiff verlassen haben.“
* * *
Als sich die Luftschleuse der Mother Mercy öffnete, ging alles ganz schnell. Sechs Gestalten in klobigen, militärisch-grauen Ganzkörper-Schutzanzügen und unterstützenden Exoskeletten stürmten das Schiff, während eine nahezu undurchdringliche Wolke aus – dem Geruch nach – hochkonzentriertem Desinfektionsmittel an ihnen vorbeischoss und alles um William herum in feinen Nebel hüllte. Unwillkürlich begann er zu husten, doch ehe er sich versah, packte ihn eine der Gestalten grob an den Schultern, riss ihm den Helm vom Kopf und zog ihm stattdessen eine Art Maske über, die an seinem Hals augenblicklich eine heiße Flüssigkeit absonderte und sich so von selbst versiegelte.
William blieb gar keine Gelegenheit, sich gegen diesen Übergriff zur Wehr zu setzen oder auch nur zu begreifen, was überhaupt geschah. Innerhalb kürzester Zeit war alles vorbei und das leise, rhythmische Zischen eines an seine Maske angeschlossenen Sauerstofftanks verriet ihm, dass man ihn und vermutlich auch Marissa für infektiös hielt.
Der Nebel, der weiterhin unablässig ins Schiff gepumpt wurde, machte es nahezu unmöglich, irgendetwas außer groben Umrissen und schemenhaften Bewegungen zu erkennen. Trotzdem sah William, wie Henderson von vier der Gestalten in einen ebenfalls mit einer Sauerstoffversorgung ausgestatteten Sack gesteckt und aus dem Schiff gezerrt wurde. Und erst jetzt, als sie weg war, trat eine weitere Person durch den Nebel und hob die Hand zu einem kurzen Salut. Ein Mann, hochgewachsen und breitschultrig, mehr konnte William nicht erkennen.
„Mr. Kyle, Miss Brennan“, sagte er. Das war die Stimme aus der Transmission. „Ich bin Major General Heinrich Steiner von der Dritten Flotte. Willkommen in Object Zero .“
„Was passiert mit Henderson?“, fragte William bloß.
„Sie wird mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln behandelt“, antwortete der Mann und bedeutete ihnen mit einer schnellen Handbewegung, ihm aus dem Schiff hinaus zu folgen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir ihr Leben retten können. Das ist leider nicht das erste Mal, dass wir mit dieser … Infektion zu tun haben. In den letzten Wochen konnten wir viele Erfahrungen sammeln.“
„Bei allem Respekt, Major General “, fauchte Marissa und spie seinen Rang dabei mit einer solchen Verachtung aus, dass man sie auf der Erde vermutlich allein dafür festgenommen hätte. „Wir haben keinerlei Interesse daran, mit TerraSec zusammenzuarbeiten. Wir bringen den Job des Wanderers zu Ende und sind weg. Henderson wollte sowieso aussteigen, da trifft es sich gut, dass sie bei Ihnen ist, aber wir …“
„Miss Brennan, ich glaube, Sie unterschätzen die Situation“, unterbrach sie Steiner mit ruhiger Stimme und blieb vor der Luftschleuse stehen. „Sie … Moment. Ich erhalte gerade die Information, dass Sie beide sauber sind. Sie können die Masken abnehmen. Lösen Sie die Versiegelung, indem Sie mit einem Finger an Ihrem Hals entlangfahren.“
William folgte seiner Anweisung, und tatsächlich ließ sich die mittlerweile zu einer gummiartigen Substanz ausgehärtete Flüssigkeit relativ problemlos von seinem Hals entfernen. Sofort zog er sich die Maske vom Kopf und atmete tief durch. Der Nebel hatte sich mittlerweile zwar nicht vollständig verzogen, aber er lichtete sich langsam, sodass er an Steiner vorbei ins Innere dessen blicken konnte, was dieser als Object Zero bezeichnet hatte.
Unmittelbar hinter der Luftschleuse der Mother Mercy erstreckte sich eine riesige Halle über sicherlich 100 Meter, wenn nicht gar mehr. Sie besaß eine zylindrische Form und wurde alle paar Meter von sich kreuzenden Streben gestützt, die jedoch nicht parallel zueinander verliefen, sondern jeweils ein paar Grad zueinander versetzt installiert waren, sodass sich ein helixartiger Anblick bot.
Das war eine Station der Arytol.
„Wo sind wir?“, fragte William, trat an Steiner vorbei und sah sich um. Erst allmählich wurde ihm bewusst, dass die Streben nicht etwa fest in den Wänden verankert waren, sondern sich fortlaufend drehten – oder war es die Halle, die sich um sie herum drehte? Er wusste es nicht, doch vom Anblick wurde ihm schwindelig.
„Wie ich bereits sagte: Das ist Object Zero “, antwortete der Major General. Eine Art Lächeln zeichnete sich hinter seinem mächtigen Schnurrbart ab und ließ sein sonst so bulliges und kantiges Gesicht einen Moment lang aufweichen. „Hier fand der Erstkontakt zwischen Menschen und Arytol statt.“
William legte die Stirn in Falten. „Ich dachte, das wäre auf Helios-2 geschehen?“
„Offiziell, das ist richtig, und sämtliche symbolträchtigen Verträge wurden auch dort verhandelt. Faktisch fand der Erstkontakt jedoch hier statt. Bevor wir fortfahren, gibt es einige Dinge zu klären.“
„Die da wären?“, knurrte Marissa.
„Zunächst einmal, dass Sie sich diese unleidige Attitüde dorthin stecken, wo nie die Sonne scheint, Miss Brennan. Ich habe lange genug gedient, um mich von aufbrausenden Söldnerinnen nicht so behandeln zu lassen. Einwände?“
Wider Erwarten schwieg Marissa.
„Gut.“ Steiner nickte. „Dann können wir uns auf die deutlich wichtigeren Punkte dieses Gesprächs konzentrieren. Um die relevanteste Frage gleich vorweg zu beantworten: Ich bin der Kontakt des Wanderers, womit wir uns einen rhetorischen Eiertanz hoffentlich sparen können.“
„Das bedeutet, er hat uns angekündigt?“
„Das ist richtig. Die Umstände sind zwar alles andere als so, wie wir es erhofft hatten, aber angesichts der … beispiellosen Eskalation, die TerraSec in den vergangenen Wochen über das Sonnensystem entfesselt hat, können wir uns glücklich schätzen, dass es nicht schlimmer gekommen ist.“
„Sie meinen das Datenpaket“, stellte William fest.
„Exakt. Der Wanderer hat Ihnen vermutlich keine weiteren Informationen mitgeteilt, um keine Zweifel an seiner Paranoia aufkommen zu lassen, aber dieses Datenpaket stellt das menschliche Äquivalent zu unserem außerirdischen Hoffnungsträger dar, den Sie auf dem Weg zum Mars auf spektakuläre Weise verloren haben.“
„Was zum Teufel soll das jetzt heißen?“
„Es heißt, dass wir verflucht dankbar dafür sein sollten, dass Miss Brennan eine Kettenraucherin ist.“
„War“, fauchte Marissa. „Ich war eine Kettenraucherin. Und Sie wollen uns gerade ernsthaft weismachen, dass …“
„Ich mache Ihnen gar nichts weis“, unterbrach er sie. „Ich …“
„Können Sie mich ein einziges Mal aussprechen lassen, verdammt?“
„Nicht, solange Sie Ihren Tonfall mir gegenüber nicht in den Griff kriegen. Sie mögen es nicht glauben, aber Sie und ich sind keine Feinde. Ganz im Gegenteil: Momentan würde ich behaupten, dass Sie keinen größeren Freund im Universum finden werden als mich.“
„Einen Major General von TerraSec ? Das bezweifle ich.“
„Rang und Uniform sagen wenig über die Beweggründe eines Menschen aus.“ Steiner fixierte sie wie ein Raubvogel. „Beispielsweise weiß ich genug über Sie, um Sie trotz Ihres Berufs und Ihrer … zweifelhaften Implantate nicht an die Wand zu stellen und erschießen zu lassen, sondern um Sie sogar für einen halbwegs anständigen Menschen zu halten. Dasselbe gilt für Mr. Kyle, auch wenn er und seine Schwester durch Umgehung der Sanktionen und Einfuhrbestimmungen in den letzten Jahren einen kaum zu bemessenden Schaden an den diplomatischen Prozessen des Sonnensystems angerichtet haben.“
Er räusperte sich.
„Aber darum geht es jetzt nicht. Sie sind hier, weil Sie eine Vereinbarung mit dem Wanderer getroffen haben. Für Sie geht es um Ari Kyle, eine – in meinen Augen – herausragende Frau, die für die Zukunft und das Schicksal der Menschheit von immenser Bedeutung ist. Für mich spielt vorerst nur um der Schutz der Menschheit eine Rolle, auch wenn das bedeutet, sie vor sich selbst zu schützen. Die Arytol dürfen nicht unsere Feinde werden. Sie beide erkennen sicher die Überschneidungspunkte in unserer Motivation.“
„Und was genau sollen wir tun?“, fragte William einfach nur.
„Fürs Erste erbitte ich Ihre Kooperation, um die Daten von Miss Brennans Hardware zu entfernen und sie zu entschlüsseln. Alles Weitere besprechen wir danach. Allerdings …“
Er machte eine unangenehm lange Pause.
„Allerdings sollten Sie sich darüber klar werden, was Sie wollen“, sagte er schließlich. „Ich werde Sie zu nichts zwingen, aber ich tue mir Ihre … antiautoritäre Attitüde keine Sekunde länger an. Für Ihren Deal mit dem Wanderer genügt es, wenn ich die entschlüsselten Daten erhalte, und ich werde ihn auch über den Erfolg Ihres Auftrags informieren. Alles darüber hinaus ist, was Sie angeht, optional. Aber falls Aris Geschichten über Sie beide wahr sind, sind Sie zu mehr in der Lage. Bis dahin …“
Er deutete auf einen kleinen und offensichtlich von Menschenhand in die Arytol-Struktur erbauten Korridor, der etwa 40 Meter von ihnen entfernt in die Wand eingelassen war.
„Dort befinden sich Messe, Kantine und Quartiere. Ich lasse alles für Sie vorbereiten.“
Mit diesen Worten nickte er ihnen zu, drehte sich um und marschierte in die entgegengesetzte Richtung davon, wo er sofort von zwei Offizieren in Einsatzuniformen abgefangen wurde. William sah ihm ein paar Sekunden lang nach und fragte sich, was um alles in der Welt er von diesem Menschen halten sollte. Sein Bauchgefühl sagte ihm zwar, dass der Major General halbwegs ehrlich mit ihnen gewesen war, aber er hatte in den letzten Wochen trotzdem zu viel erlebt, als dass er einem Offizier der Erde einfach so vertrauen konnte.
Marissa ging es offensichtlich komplett anders. Zwar starrte sie Steiner ebenfalls hinterher, sah ihn dabei jedoch an, als hätte sie nichts lieber getan, als ihm die Nase zu brechen. Geradezu provokativ öffnete sie den Mund und ließ ihre Poison Snakes herausschnellen, doch schließlich schien sie ihren Zorn zumindest für den Moment hinunterzuschlucken und eilte zu dem Korridor, auf den Steiner gezeigt hatte.
William folgte ihr, wenngleich er nicht mit der gleichen Geschwindigkeit durch die Halle ging wie sie. Wenn er vorerst schon gezwungen war, hier zu sein, konnte er die Gelegenheit auch nutzen und versuchen, die Architektur und Technologie der Arytol zu betrachten, ohne in akuter Lebensgefahr zu schweben.
Diese Halle für sich genommen war schon unglaublich und sprengte nicht nur die Dimensionen, die er von entsprechenden Modulen menschlicher Raumstationen kannte, sondern widerlegte auch den Eindruck, den er auf Helios-2 von der Bauweise der Arytol gewonnen hatte. Der Gedanke daran, dass diese Halle sicher nur ein Teil einer viel größeren Station war, ließ ihn geradezu ehrfürchtig werden. Gott, er hatte so viele Fragen! Er …
Plötzlich ertönte hinter ihm ein durchdringendes Grollen, doch nur für einen winzigen Moment, bevor es beinahe vollständig verstummte und nur gedämpft zu ihm drang. Sofort drehte er sich um und starrte auf die Mother Mercy , von der er erst jetzt begriff, dass sie mit Ausnahme der Luftschleuse vollständig hinter der gleichen Substanz verborgen war, die auch auf Helios-2 das Schiff der Arytol beherbergt hatte. Zentimeter für Zentimeter bewegte sich der Modulschlepper durch die zähe Melasse, bis er schließlich zur Seite hin wegdriftete, seine Triebwerke aufleuchteten und er in der Dunkelheit verschwand.
William blinzelte. Ihm war die Ankündigung des Major Generals zwar deutlich im Gedächtnis geblieben, aber um ehrlich zu sein, hatte er sich bis zuletzt nicht vorstellen können, dass man ein Schiff im Wert von mehreren Millionen Lunare einfach so im Kern eines Planeten zerschellen ließ. Befürchtete Steiner etwa, dass es verfolgt oder aufgespürt werden würde, oder gab es einen anderen Grund, den er ihnen verschwieg?
„Schwachköpfe“, raunte Marissa auf einmal. „Man hätte es auch einfach durchchecken und neu verwenden können.“
„Eine echte Schande.“
„Ich dachte, du hasst dieses Schiff?“
„Von ganzem Herzen. Trotzdem. Ein unwürdiges Ende.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und kam zu ihm. „Was denkst du?“
„Von Steiner?“
„Über alles.“
„Weiß nicht. Terranischer Soldat – das gibt schon mal massiv Punktabzug. Ansonsten fällt es mir irgendwie schwer, zu glauben, dass jemand tatsächlich der Gute in dieser Geschichte sein soll.“
„Steiner ist nicht der Gute. Er ist vieles, aber nicht das.“
„Du kennst ihn?“
„Sonst hätte ich ihn nicht so angegangen. Steiner war mal Flottenadmiral. Weißt du, wie sie ihn nennen? ‚Die Bestie vom Saturn‘.“
„Was?“ William riss die Augen auf. „Er ist die Bestie?“
„Mhm.“
William presste die Luft zwischen den Zähnen hindurch und kämpfte gegen den Drang an, sich nach Steiner umzusehen. Die Saturn-Stationen waren vor etwas mehr als 15 Jahren von einer katastrophalen Systemkaskade heimgesucht worden, von der niemals abschließend geklärt worden war, wie sie überhaupt hatte entstehen können. In ihrer Folge war die Nahrungsmittelversorgung der Stationen kollabiert, genau wie die Sauerstoffaufbereitungsanlagen. Die anderen Kolonien und Stationen hatten zwar sofort Hilfsgüter geschickt, aber das hatte nicht einmal ansatzweise ausgereicht, um dem Bedarf gerecht zu werden. Einzig die Erde war in der Lage gewesen, die dringend benötigten Ressourcen in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen. Sie hatte sogar eine Hilfsflotte losgeschickt, doch der befehlshabende Flottenadmiral hatte versucht, die Notlage auszunutzen und die Stationen in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Erde zu zwingen. Am Ende war jede Hilfe zu spät gekommen. 15 Millionen Tote.
Steiner war also dieser Admiral gewesen.
„Ein Mensch kann sich nicht so grundlegend ändern.“
„Ändern?“ Marissa schüttelte den Kopf. „Nein. Menschen ändern sich nicht. Ich dachte lange Zeit, Reue und Buße wären der erste Schritt auf diesem Weg, aber das war eine Illusion. Hätten wir keine Angst vor dem Tod und davor, ob es danach nicht doch weitergeht, würde keiner von uns auch nur eine Sekunde zurückblicken. Nur frage ich mich, was Steiner dann will.“
„Mehr“, antwortete William. „Er will mehr. Die Arytol haben ihm die Augen geöffnet und ihm klargemacht, dass es da draußen noch mehr gibt. Wir sind nicht allein im All. Und wo wir Dutzende Schiffe im interstellaren Raum verloren haben, haben die Arytol das Leben dort gemeistert. Er ist auf sie angewiesen. Und er hat kapiert, dass die Menschheit Freunde braucht. Zumindest im Moment.“
„Das ist auch nur ein aufgeschobener Genozid.“
„Möglich, aber ich fürchte, gerade können wir uns nicht den Luxus erlauben und darauf Rücksicht nehmen. Im Moment ist er unsere beste Option. Vor allem, da er uns die einzige Möglichkeit genommen hat, von hier zu verschwinden. Subtil.“
„Das ist ein Pakt mit dem Teufel, William.“
„Dann versuchen wir, schlauer als er zu sein.“
„Glaubst du das wirklich? Meiner Erfahrung nach gewinnt der Teufel immer.“