Nur langsam bewegten sie sich durch die Einsamkeit dieser Station. Obwohl keine 500 Meter zwischen ihnen und dem Vorposten von Steiners Einheiten lagen, fühlte sich der Weg viel weiter an. Zäh und beschwerlich. Eine Überwindung für jeden einzelnen Schritt. Es war nicht einmal ihre Umgebung, die sie zurückhielt, sondern vielmehr eine … psychische Barriere, wenn man so wollte. Instinkte, die sie davon abhalten wollten, etwas unfassbar Dummes zu tun.
Dass das Militär mit großen Anstrengungen versucht hatte, die Kontrolle über die Station zu erlangen, war unübersehbar. Überall waren Überreste dieser Versuche zu erkennen, von zerstörten oder anderweitig funktionsuntüchtigen Schleusen über Versorgungsgüter, Kisten, Schutzausrüstung bis hin zu Leichen, die zu bergen sich niemand getraut hatte. Männer und Frauen, von der Krankheit dahingerafft und zurückgelassen, um hier vergessen zu werden. William hatte auf dem Mars genug Tote gesehen, um zu wissen, wie man aussah, wenn man der Krankheit erlag.
Hier hatte ein Kampf stattgefunden, der mit großer Härte gegen einen erbarmungslosen Feind gefochten und letzten Endes unter großen Opfern verloren worden war. Über die genauen Gründe für dieses Scheitern konnte William nur spekulieren, vor allem, da TerraSec nicht dafür bekannt war, das Leben der eigenen Soldaten besonders hoch zu gewichten. Betrachtete die Erde ein Ziel als erstrebenswert, bot sie sämtliche Ressourcen auf, die sie als nötig erachtete, um es zu erreichen. Selbst wenn es Tausende Leben kostete. Davon gab es schließlich genug.
Noch.
Vermutlich hatten Steiners Männer so lange ihre Position gehalten und versucht, weiter vorzurücken, sobald Nachschub von Terra eingetroffen war, doch jetzt, da die Erde dieses Ziel offensichtlich nicht weiterverfolgte – oder das zumindest vorgab –, gab es keine Menschenmassen mehr, die verbraucht werden konnten. Die Ressourcen waren zur Neige gegangen. Vermutlich grenzte es an ein Wunder, dass Steiners Einheiten überhaupt noch in der Lage waren, die Halle zu halten, in der sie gelandet waren.
Sah man jedoch von den Zeugnissen menschlichen Scheiterns ab, fiel eine Tatsache ganz besonders ins Auge: Die ursprünglich von den Arytol gefertigten Bauteile befanden sich in erstaunlich gutem Zustand. Menschliche Stationen benötigten fortlaufend intensive Wartungsarbeiten, und blieben diese aus, dauerte es meist nur wenige Monate, bis die Folgen deutlich zu sehen und oft genug auch zu spüren waren. Hier war das anders. Zumindest nicht so, dass es William aufgefallen wäre. Die meisten Wandelemente und auch alle anderen Bauteile sahen geradezu neuwertig aus.
Abgesehen davon ähnelten die Korridore dem, was er bereits auf Helios-2 gesehen hatte, mit dem Unterschied, dass er sich hier keinen Weg durch ein für ihn unübersichtliches Labyrinth suchen musste, sondern nur dem einen Pfad folgte, den die Truppen der Erde nicht verbarrikadiert oder versiegelt hatten.
„Mich lässt eine Sache nicht los“, rauschte irgendwann Wulffs Stimme durch das Com, als sie etwas mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten. „Wenn wir – also Menschen und Arytol – grundsätzlich wissen, wie wir diese Krankheit stoppen, warum tun wir es nicht? Dieses Datenpaket, der Arytol an Bord unseres Schiffs, die Impfung, die wir alle von Ari bekommen haben, ohne es mitzukriegen. Wisst ihr, was ich meine?“
„Ich denke, die Erklärung ist relativ simpel“, antwortete William. „Interessenkonflikte. Die Arytol sind keine Samariter, genauso wenig wie wir. Was hier geschieht, ist ein galaktisches Pokerspiel. Der Einsatz ist die Existenz der Menschheit. Die Arytol selbst sind ja, soweit ich das verstanden habe, weitestgehend immun.“
„Das stimmt nicht ganz“, meinte Marissa. „Sie haben gelernt, mit der Krankheit zu leben, aber sie sind nicht vollständig immun. Jeder von ihnen ist infiziert und laut Ari kommt es immer wieder zu Ausbrüchen, die viele Todesopfer fordern. Steiner meinte ja, wir brauchen beide Datensätze, um etwas zu erreichen.“
„Eben“, sagte Wulff. „Jetzt liegt es also an uns? Das macht doch keinen Sinn!“
„Mach uns nicht größer, als wir sind“, gab William tonlos zurück. „Wir wissen nicht, ob das wirklich stimmt oder nur eine Interpretation ist. Auf Steiners Wort würde ich nicht zu viel Wert legen. Du, Marissa und ich – wir sind nichts weiter als menschliche Schraubenzieher. Ein Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger. Wir erledigen die Arbeit, die niemand sonst tun kann. Oder tun will. Und auch diese Daten sind nur ein Werkzeug. Keiner von uns entscheidet, wozu sie eingesetzt werden.“
„Denkt ihr, Steiner sagt die Wahrheit?“
„In gewisser Hinsicht, ja. Was er erzählt hat, deckt sich größtenteils mit den Aussagen des Wanderers und dem, was ich mir selbst bislang zusammengereimt habe. Für Terra ging es nie wirklich um die Krankheit. Sie war ein Mittel zum Zweck, genau wie die Arytol. Und ich sage es nicht gerne, aber die Erde ist dafür bekannt, Gefahren so lange zu ignorieren, wie sie nur kann. Das hier, also alles, was gerade geschieht, ist nur die Ruhe zwischen zwei Stürmen. Den ersten haben wir bereits hinter uns. TerraSec ist über das Sonnensystem hinweggefegt und hat die freien Kolonien und Stationen unter Kontrolle gebracht. Die Erde sonnt sich in ihrem Erfolg und versucht, ihre Vormachtstellung zu konsolidieren. Der Krieg gegen die Arytol soll nur von ihrer eigenen Schuld ablenken und die Menschheit hinter ihr sammeln.“
„Will hat recht“, stimmte Marissa ihm zu. „Der Wanderer hat es nicht geschafft, die Vorherrschaft der Erde zu verhindern. Der Arytol an Bord eures Schiffs war seine letzte Chance. Jemand wie der Wanderer kann nicht existieren, wenn die Erde alles kontrolliert. Er braucht Konflikte. Was gerade geschieht, ist das Hauen und Stechen in den Schatten. Erzwungene Allianzen, geboren aus bloßer Verzweiflung. Er würde das niemals zugeben, aber ich denke, euer Versagen mit dem Arytol hat ihn ziemlich unvorbereitet erwischt. Vielleicht war das seine letzte Option.“
William verkniff sich eine Erwiderung, und auch Wulff entgegnete nichts. Was Marissa gerade gesagt hatte, fasste mehr oder weniger die Erkenntnis zusammen, die er ebenfalls längst gewonnen hatte. Die, dass nicht einmal der Wanderer noch Kontrolle über die Situation besaß; dass sie alle gleichermaßen gefangen waren in einem Limbus aus Nichtwissen und mehr oder weniger ausgeprägter Hilflosigkeit. Ein Verbrecherfürst, ein abtrünniger TerraSec -Offizier und sonst wer konkurrierten um das Heilmittel für eine Krankheit, die das Potenzial besaß, ganze Spezies auszulöschen. Und damit waren sie die einzige verbliebene Hoffnung, da alle anderen Akteure entweder nicht willens oder nicht mehr fähig waren, etwas zu tun.
In seinen Jahren als Schmuggler hatte William oft erlebt, wie selbst kleinste Veränderungen große Folgen haben konnten, und wie er, ohne es zu wissen, seinen Teil dazu beigetragen hatte. Ein Diplomat, der zur rechten Zeit an einer Blockade vorbeigeschmuggelt worden war, eine Flasche teuren Alkohols, die, rechtzeitig ausgeschenkt, das Zünglein an der Waage eines wichtigen Abkommens ausmachte, Dokumente und Technologien, die das Gleichgewicht der Mächte zerstört oder aufrechterhalten hatten. Es mochte ihm noch immer schwerfallen, seine Rolle in dieser Geschichte zu akzeptieren, aber vielleicht war es an der Zeit, einzusehen, dass selbst jemand wie er eine Rolle zu spielen hatte.
Sie hatten gerade die Absperrungen und defekten Schleusen an einer weiteren Kreuzung passiert, als ihnen vom Ende des vor ihnen liegenden Korridors auf einmal helle Lichter entgegenschienen, unter denen sich die unverkennbaren Umrisse eines großen Quarantänezelts abzeichneten. Das musste die vorgelagerte Stellung sein!
Mit schnellen Schritten überwanden sie die verbliebene Strecke, bis sie schließlich eine weitere, diesmal jedoch zumindest dem Augenschein nach intakte Schleuse erreichten. Das tiefe Brummen von Kompressoren und das rhythmische Zischen von Filtern waren selbst durch ihre Helme hindurch zu hören. Unwillkürlich kniff William die Augen zusammen. Hatte Ari nicht gesagt, dass Filter keine Wirkung gegen die Krankheit hatten? Oder hatte TerraSec mittlerweile einen Weg gefunden, das zu ändern? Zwangsläufig, oder? Sonst hätte so tief im Inneren der Station niemand überleben können.
„Endlich!“, rauschte auf einmal eine unbekannte Stimme durch das Com. „Ich dachte schon, ihr habt mich endgültig aufgegeben! Ihr … Ach, verdammt. Ihr seid kein Entsatzteam, oder?“
„Nein“, antwortete William und betrat als Erster die Schleusenkammer, in der ihm sofort von allen Seiten flüssiges Desinfektionsmittel entgegenschoss, während ihn intensive UV-Lichter blendeten. „Mein Name ist William Kyle. Steiner hat uns geschickt, um Daten aus dem Inneren der Station zu bergen.“
„William Kyle? Der Terrorist?“
„Mhm, genau der.“
Jetzt endlich endete der Desinfektionsvorgang und der vor ihm liegende Durchgang ins Innere des Zelts öffnete sich. William hob seine Arme, von denen noch immer zähflüssiges Desinfektionsmittel tropfte, wischte sein Visier frei, und betrat den winzigen Raum, achtete dabei jedoch darauf, nicht vor lauter Geschmiere auf dem Boden auszurutschen. Ein einzelner Mann in zerschlissener Uniform und mit einem Bart, der dringend eine Rasur gebraucht hätte, erwartete ihn.
„Ich bin Dr. Morrow“, begrüßte ihn der Mann und versuchte sichtlich angestrengt, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, doch es gelang ihm nicht wirklich. Schließlich zwang er sich zu einem kalten Lächeln, trat zurück und bedeutete ihm mit einer schnellen Handbewegung, sich zu setzen. „Ich hatte damit gerechnet, endlich abgelöst zu werden.“
„Das glaube ich Ihnen.“ William sah sich um. Das Zelt maß keine 20 Quadratmeter und ließ kaum genug Platz, sich zu bewegen. Jeder freie Zentimeter war mit Ausrüstung oder Versorgungsgütern belegt, und selbst die sanitären Einrichtungen bestanden aus nichts weiter als einer behelfsmäßigen Toilette und einer kleinen UV-Desinfektionsanlage. „Wie lange sind Sie schon hier?“
„Sieben Wochen.“ Morrow klang hörbar verbittert. „Sieben lange Wochen. Vor drei Wochen kam das letzte Einsatzkommando durch und sagte mir, dass ich abgelöst werden soll, aber seitdem ist nichts passiert.“
„Tut mir leid, Doc.“
„Das … Es ist schon in Ordnung. Steiner hat also neue Idioten gefunden, was?“
„Ja, es scheint so. Allerdings fürchte ich, dass das mit Idiotie nur wenig zu tun hat.“
„Und wieso das?“, fragte Morrow, während Marissa ebenfalls das Zelt betrat.
„Sagen wir, dass sich die Suche nach einem Heilmittel mittlerweile zu einer relativ existenziellen Angelegenheit entwickelt hat – und dass TerraSec nicht mehr wirklich gewillt scheint, diese Suche zu verfolgen.“
Morrow starrte ihn mit ungläubig offen stehendem Mund an und rang einige Sekunden lang sichtlich um Fassung, nur um schließlich die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und sich auf einen Stuhl sinken zu lassen.
„Er hat es wirklich getan, ja?“, flüsterte er. „Steiner hat mit TerraSec gebrochen?“
„Scheint so. Andernfalls wären wir vermutlich nicht hier, sondern tot.“
„Dieser Idiot!“, stöhnte der Doc und vergrub das Gesicht in den Händen. Derweil betrat auch Wulff das Zelt. „Dieser unfassbare Dummkopf!“
„Was ist los?“, wollte Marissa wissen. „Ist es nicht gut, dass er versucht, das Heilmittel zu finden?“
„Es gibt kein Heilmittel, weil es keine Krankheit gibt!“, brüllte Morrow so plötzlich, dass William unwillkürlich zusammenzuckte. „Es gibt keine und er weiß das!“
„Was soll das denn heißen? Natürlich gibt es eine! Auf dem Mars …“
„Das wäre selbst dann keine, wenn es auf der Erde geschehen wäre!“, unterbrach er sie. „Aber Steiner will das einfach nicht einsehen! Es war eine Sache, als er auf die Befehle der Erde gehört hat; da waren seine Ansichten zumindest nicht gefährlich, aber jetzt? Was muss noch geschehen, bevor er es einsieht?“
„Du hast den Verstand verloren, oder, Doc?“, hauchte Marissa fassungslos. „Keine 20 Meter vor dieser Schleuse liegen drei tote Soldaten! Wenn du uns nicht glaubst, dass das eine Krankheit ist …“
„Das hat damit nichts zu tun.“ Erneut fiel er ihr ins Wort, doch diesmal klang er nicht mehr wütend, sondern resigniert. „Das Ergebnis spielt kaum eine Rolle. Wichtig ist, dass die Auffassung, es mit einer Krankheit zu tun zu haben, überhaupt erst dazu geführt hat, dass all das geschehen konnte! Wir Menschen sind praktisch veranlagte Lebewesen. Wir begreifen die Welt um uns herum in Kategorien. So stellen wir Verbindungen her. Die Arytol sind uns in dieser Hinsicht extrem ähnlich. Und der Gedankengang ist klar: Eine Krankheit ist eine negative Abweichung vom Normalzustand. Das, was uns schwächt, uns Schmerzen bereitet oder uns tötet; ganz gleich, ob Viren, Bakterien, Pilze, Mutationen, Gifte oder sonst etwas der Auslöser sind. Aber das Gefährliche an dieser Auffassung ist, dass wir glauben, es behandeln oder heilen zu können. Die Arytol haben diesen Fehler gemacht, und wir wiederholen ihn.“
„Wenn das keine Krankheit ist, was ist es dann?“, fragte William.
„Evolution.“
„Evolution?“
„Ja. Was mit den Arytol geschehen ist und nun auch uns ereilt, ist das Wirken von Mikroorganismen, die sich jedweder gängigen Definition entziehen. Wir haben es weder mit einer Infektion zu tun noch mit einem Parasiten oder Symbionten. Was mit uns geschieht, ist kein ‚natürlicher‘ Vorgang, kein zwangsläufiges Ergebnis von Befall und Immunantwort, sondern eine willentliche Entscheidung. Dieser Mikroorganismus betritt unsere Körper, untersucht sie und entscheidet, ob wir leben sollen oder sterben. Nach außen hin mag das aussehen wie eine Krankheit, wie die Reaktion unseres Immunsystems, aber wir haben keine Chance. Dieser Mikroorganismus tötet uns willentlich.“
„Und wie? Wie kann man so etwas überhaupt nachweisen?“
„Einfachste Untersuchungen an Befallenen.“ Der Doc winkte ab. „Die Mikroorganismen kommunizieren miteinander. Schließt ein stinknormales EEG an einen Patienten an, nicht an seinen Kopf, sondern an seinen Körper, und ihr seht ähnliche elektrische Aktivitäten und Spannungsschwankungen, wie man es von den Gehirnaktivitäten höherer Tiere kennt. Dazu wird der Körper mit Botenstoffen geflutet – und letztlich getötet oder nicht.“
„Das kann nicht stimmen“, raunte Marissa. „Eine Freundin von uns liegt in diesen Stunden auf der Krankenstation von Object Zero ! Sie wurde infiziert, befallen oder was auch immer, aber obwohl es ihr schlecht ging, bessert sich ihr Zustand! Wir können sie behandeln!“
„Ihr glaubt, dass ihr das könnt, aber das kann niemand. Wenn sie überlebt, dann, weil der seltene, aber nicht unmögliche Fall eingetreten ist, dass der Mikroorganismus sie als lebenswert einstuft, obwohl sie es nicht war. Vielleicht hatte sie Krebs, der bekämpft werden muss, oder eine singuläre zelluläre Mutation. Sollte sich ein Behandlungserfolg einstellen, ist das bloß eine willkürliche zeitliche Überschneidung.“
„Das … Das … Und was ist mit uns? Wir wurden geimpft! Wir wurden auf Basis genau der Daten immunisiert, die wir hier bergen sollen!“
„Und das glaubt ihr, ja?“ Morrow grinste. „Los, gib mir deine Hand. Ich brauche einen einzigen Tropfen Blut und zeige dir, dass du genauso befallen bist wie jeder andere. Diese … Impfung und das Heilmittel, für die Steiner seit Wochen seine Leute opfert, ist nur eine Illusion. Der Versuch, Kontrolle zu wahren. Letzten Endes bewirkt diese ‚Impfung‘ nur, dass das Unvermeidbare sofort eintritt und nicht erst nach Kontakt mit dem Mikroorganismus. Damit imitiert sie die Arytol: Wer von ihnen lebt, ist genetisch wertvoll und somit geeignet, um die Evolution voranzubringen – in eine Richtung, von der ich nur annehmen kann, dass sie dem Organismus nützt. Alle anderen sterben nach wie vor. Vor allem im Mutterleib. Wenn ihr hier also als angeblich immunisiert vor mir steht, bedeutet das, dass ihr genetisch gesehen taugt, und der einzige Vorteil, der sich meines Erachtens bietet, ist, dass ihr nicht ansteckend seid. Ansonsten seid ihr genauso befallen wie jeder andere – und das wird keinen von uns retten. Steiner ist nur zu dumm, das zu erkennen.“
* * *
Erneut blickte William auf den Helm in seinen Händen. Im Inneren dieses Zelts war er sicher, so oder so, aber glaubte man Morrow, machte das ohnehin keinen Unterschied. Genau wie die Immunisierung, für die sich Ari mit dem Wanderer eingelassen hatte. Alles, was sie getan hatten, alles, was geschehen war – umsonst. Sie hätten nie etwas ändern können, selbst wenn sie Erfolg gehabt hätten.
Es wäre leicht gewesen, Morrow nicht zu glauben und ihn stattdessen als Lügner zu bezeichnen. Ihn, den Mann, der seit Wochen mutterseelenallein inmitten einer außerirdischen Station festsaß, verlassen und vergessen von seinen Kameraden, eingepfercht auf ein paar Quadratmeter und wissend, dass der kleinste Riss in der Hülle des Zelts, das ihn umgab, seinen Tod bedeuten würde.
Falls er nicht ohnehin längst infiziert war.
Trotzdem gab es einen Grund, warum William es nicht tat. Warum er ihn nicht als Lügner betrachtete und sogar geneigt war, ihm zu glauben: Morrow versprach weder Hoffnung noch Heilung. Er baute keine Luftschlösser, für die Menschen starben, und machte keine Versprechen, denen die Mächtigen hinterherjagten. Er beschrieb einen Ist-Zustand in all seiner Konsequenz und damit das Universum, wie es war. Ein Ort von Zufall und Willkür. Ein Ort, an dem Menschen klein waren und an dem es nur Glück zu verdanken war, dass ihre Spezies so weit gekommen war. Morrow verlangte nichts von ihnen, bot keine Deals an, wollte sie nicht instrumentalisieren.
Aber da war noch mehr. Damals, als er mit Marissa auf den Mars zurückgekehrt war, um nach Ari zu suchen, hatte er zwei Arten von Überlebenden angetroffen. Die einen, die sich wie lebende Tote über die Straßen geschleppt hatten und von denen vermutlich keiner den Tag überstanden hatte, und die anderen, von denen ihm schon damals aufgefallen war, wie … gesund sie aussahen. Der Mensch mochte sich im Lauf der Zeit weit von seinen Instinkten entfernt haben, aber das bedeutete nicht, dass er sie nicht mehr besaß. Jeder erkannte auf den ersten Blick, ob sein Gegenüber gesund war, und war es nur durch ein Bauchgefühl. Es war dieser Instinkt, der verriet, ob sich die Fortpflanzung lohnte oder nicht, auch wenn viele Menschen das gerne von sich wegschoben.
Er und Ari waren gesund, Wulff war gesund, und auch Marissa war es, sah man einmal davon ab, dass der Krebs ihre Kehle zerfressen hatte, aber Kettenrauchen war weder angeboren noch ein genetischer Defekt. Arbeitete dieser Mikroorganismus tatsächlich nach solchen Kriterien, war es zu erwarten gewesen, dass sie überlebten, zumindest solange sie keine unerkannten Krankheiten in sich trugen.
Wahrscheinlich war es genau dieser Gedanke, der Morrows Aussagen so sehr unterstrich. Die menschliche Gesellschaft hatte über Jahrhunderte nur deshalb floriert, weil sie kranke Individuen eben nicht aufgegeben hatte. Weil Menschen zu Mitgefühl in der Lage waren und dazu, einander zu pflegen, selbst unter widrigsten Umständen und entgegen der Logik der Evolution. Als Spezies hatten sie davon profitiert, denn oft waren es die körperlich Schwächsten einer Gesellschaft gewesen, die sie am weitesten vorangebracht hatte. Denen Erfindungen zu verdanken gewesen waren, große Kunstwerke, philosophische Leitsätze und viele weitere Fortschritte.
Dieser Mikroorganismus zerstörte diese Gewissheit. Er zerstörte die Illusion, durch Nächstenliebe über die Kälte des Universums erhaben zu sein. Er zerstörte den Glauben daran, als Spezies über eben jene Naturgesetze zu obsiegen, denen man alle anderen Geschöpfe unterworfen sah. Er machte die Menschen nichtig und reduzierte sie auf Tiere, von denen nur die gesündesten überlebten.
„Wie kann das sein?“, hörte William Marissa fragen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern, ein unsicherer Hauch, so leise, dass er sie kaum hörte, und das, obwohl er direkt neben ihr saß. „Wieso passiert das? Gibt es Beweise?“
„Beweise gibt es genug“, antwortete Morrow. „Alles, was ich gesagt habe, beruht auf Informationen, die Terra zur Verfügung stehen. Und zwar bereits seit Monaten. Der Mikroorganismus ist nichts Neues; er tritt seit Jahren immer wieder auf. Was jetzt anders ist, ist lediglich die Intensität der Ausbreitung. Ich bräuchte nichts weiter als einen Befallenen, um jedes meiner Worte selbst mit meiner bescheidenen Ausrüstung zu belegen.“
„Und was ist dann mit dieser Station?“, wollte Wulff wissen. „Warum klammert sich Steiner an ihr fest?“
„Steiner ist Karrierist. Das war er schon immer. Er hat Terra seine Degradierung nach der Katastrophe bei den Saturn-Stationen nie verziehen, und ich denke, er glaubt, mit diesem angeblichen Heilmittel zu altem Ruhm zurückkehren zu können. TerraSec hat diese Station jedoch aufgegeben, nachdem die Erkenntnisse über die Art dieses Befalls die entsprechenden Stellen erreicht haben. Die Schlüsse, die man auf der Erde daraus gezogen hat, sind denkbar simpel: Wir können nichts dagegen tun, also nutzen wir das Chaos und das Leid der anderen, um uns für die Zukunft in eine bessere Position zu manövrieren.“
„Aber die Arytol scheinen trotzdem an ein Heilmittel zu glauben.“
„Das ist richtig.“
„Und?“
„Ich bin kein Experte für Xenophysiologie, doch was ich bisher über sie erfahren habe … Müsste ich einen Tipp abgeben, würde ich auf ihre biochemischen Eigenschaften verweisen. Womöglich sind sie damit tatsächlich in der Lage, den Befall zu beeinflussen oder ihn hinauszuzögern. Allerdings würde ich eine derartige Aussage aufgrund der Natur des Organismus sehr kritisch sehen. Dass sie jedoch sinnbildlich händeringend nach jedem Hoffnungsschimmer suchen, ist angesichts des desolaten Zustands ihrer Population nicht verwunderlich. Rationalität und Hoffnung vermischen sich zu einer mehr als nur verführerischen Versuchung.“
„Also …“ Williams Stimme brach. Er räusperte sich. „Also gibt es etwas an Bord dieser Station oder nicht?“
„Welche Informationen hat Steiner euch gegeben?“
„Dass ein Arytol künstlich immunisiert wurde“, antwortete er. „Ohne direkten Kontakt zu diesem Mikroorganismus. Und dass sich irgendwo in Object Zero entsprechende Daten befinden.“
„Das ist nicht einmal falsch.“
„Aber?“
„Die Arytol, die wir hier angetroffen haben – vor Jahren schon – beharren darauf, dass ihnen dieses Kunststück gelungen ist. Trotzdem konnten die Ergebnisse bislang selbst mit menschlicher Unterstützung nicht reproduziert werden. Ich persönlich halte das für unwahrscheinlich bis unmöglich, aber ich habe keinen abschließenden Beweis dafür. Um also deine nächste, noch unausgesprochene Frage zu beantworten: Es ist möglich, dass sich in dieser Station Datensätze befinden, die entsprechende Forschungen ermöglichen, aber selbst wenn sie existieren, werden sie nichts am Befall der Menschen ändern.“
„Das wissen wir nicht“, flüsterte Marissa.
„Doch, das wissen wir. Der Grund nennt sich Wissenschaft . Bevor eine Übertragung dieser hypothetischen Forschungsergebnisse auf unsere Spezies möglich ist, gelingt es euch vermutlich eher, euch mit einem Arytol zu paaren. Aber wenn ihr unbedingt wollt, kann ich euch die aktuellsten Informationen zur Verfügung stellen. Ihr seid aber nicht die Ersten, die Steiner schickt, und ihr werdet nicht die Letzten sein. Kein Team ist bislang zurückgekehrt.“
„Das ist mir egal“, erwiderte Marissa, stand auf und zog sich ihren Helm über. „Jungs, steht auf. Wir gehen. Doc, schick die Infos auf unsere Helmdisplays.“
Morrow zog die Augenbrauen hoch. „Ist das euer Ernst?“
„Ja. Los jetzt, verdammt!“
William legte die Stirn in Falten und versuchte, Blickkontakt zu ihr herzustellen, was aufgrund der Spiegelungen in ihrem Visier vollkommen unmöglich war. Nichtsdestotrotz stand auch er auf und zog sich seinen Helm über, wo ihm ein kleiner Hinweis von seinem Visier aus entgegenleuchtete, der die Übertragung einiger Datenpakete anzeigte. Warum Marissa plötzlich so vehement reagierte und weshalb sie in der Lage war, trotz des gerade Gehörten einen solchen Entschluss zu rechtfertigen, wusste er nicht, doch er vertraute ihr. Und selbst wenn nicht, war es wahrscheinlich besser, es zumindest zu versuchen, als sich in abgrundtiefe Verzweiflung zu stürzen.
Wenig später hatten sie Morrows Zelt durch eine zweite Schleuse verlassen und sahen sich einem Teil der Station gegenüber, der, anders als zuvor, nicht von Menschen erschlossen worden war. Zwar waren auch hier vereinzelte Spuren entsprechender Bemühungen zu erkennen, doch diese reichten kaum über einige wenige längst defekte Flutlichter, Positionsbarken und Funkverstärker hinaus. Abgesehen davon gab es nur Dunkelheit.
Dennoch marschierte Marissa augenblicklich los, schaltete ihr Helmlicht auf Maximum und bedeutete William und Wulff mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Sofort schlossen sie zu ihr auf, doch keiner von ihnen sagte ein Wort. Noch befanden sie sich in Com-Reichweite zu Morrow – und dass Marissa vermeiden wollte, dass er zuhörte, war unübersehbar.
Erst nachdem sie einige Korridore und Kreuzungen hinter sich gebracht hatten, blieb sie stehen und drehte sich zu ihnen um.
„Auf die Erklärung bin ich gespannt“, brummte Wulff. „Marissa Brennan, die Söldnerin mit Durchblick.“
„Klappe“, entgegnete sie, klang dabei jedoch deutlich weniger angriffslustig als sonst. „Ich glaube das nicht.“
„Was genau?“
„Dass wir das einfach akzeptieren müssen.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Dass es nichts geben soll, was wir tun können. Dass der Wanderer so blind sein soll.“
„Er ist nicht allwissend.“
„Genauso wenig wie Morrow. Vielleicht hat er recht und wir dürfen diesen Mikroorganismus nicht als Krankheit auffassen, aber es muss etwas geben, um ihn zu bekämpfen!“
„Und was soll das sein?“, erwiderte Wulff. „Dass man irgendeine Immunisierung nicht so leicht von den Arytol auf Menschen übertragen kann, kapiere sogar ich!“
„Ich glaube nicht, dass es das war, was der Wanderer mit dem Arytol auf dem Mars vorgehabt hat.“
„Und was dann?“
„Na ja, ich …“ Sie seufzte. „Ich bin keine Ärztin und ich behaupte nicht, dass ich irgendetwas besser weiß, aber … Okay, hört mir zu, ja? Wäre es bloß um eine Immunisierung gegangen, um einen Impfstoff oder ein Heilmittel, hätte man den Arytol niemals persönlich auf den Mars bringen müssen. Wenn der Wanderer in der Lage gewesen wäre, das zu schaffen, wäre es Terra hundertmal gelungen. Warum also musste der Arytol persönlich den Planeten erreichen?“
Wulf verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.
„Weil genau dieser eine Arytol anders war“, antwortete William langsam. „Weil es nicht um das ging, was in ihm war, sondern um ihn selbst.“
„Exakt. Und weiter?“
„Sag du es mir, Mari.“
„Morrow sagt, dass die Mikroorganismen miteinander kommunizieren – und dass man mit einem EEG bei ihnen ähnliche Aktivitäten feststellen kann wie bei einem höheren Tier. Was also, wenn diese Organismen eine Art Schwarmbewusstsein bilden? Wenn der Arytol in der Lage war, mit ihnen zu kommunizieren? Wenn wir für diese Organismen nur Wirte sind und sie durch uns versuchen, selbst zu überleben?“
„Und dieser Arytol hätte mit ihnen was verhandelt?“, schnaubte Wulff. „Einen Waffenstillstand?“
„So in etwa, ja. Ich … Verdammt, ich weiß, wie weit hergeholt das klingt, aber für mich macht das Sinn! Vielleicht suchen wir kein Heilmittel im eigentlichen Sinn, sondern eine Anleitung, wie die Arytol mit diesen Organismen kommunizieren können! Dass ein Mikroorganismus einen Menschen nicht hört, versteht sich von selbst, aber biochemische Signale? Vielleicht gibt es eine Überschneidung, die man ausnutzen kann!“
„Bitte sag mir, dass du das nicht wirklich glaubst, Marissa!“
„Sie hat aber recht“, sagte William, bevor sie etwas erwidern konnte. „Das bringt alles zusammen, was wir bislang erfahren haben.“
„Ihr seid davon überzeugt, oder?“
William nickte.
„Verdammt.“
„Was ist das Problem, Wulff?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so einfach sein soll!“
„Niemand hat etwas von ‚einfach‘ gesagt, Großer“, erwiderte Marissa. „Die Arytol leiden seit Ewigkeiten unter dieser Krankheit – oder wie auch immer wir es nennen sollen. Ich bin mir sicher, wären sie früher in der Lage gewesen, etwas dagegen zu unternehmen, hätten sie es getan. Und auch … Es ist nicht so, dass man einfach jede Sprache lernen oder entziffern kann. Die Menschheit konnte Hieroglyphen erst entschlüsseln, nachdem man den Stein von Rosette gefunden hat. Das war aber bloß Zufall. Vielleicht trägt dieser eine Arytol eine genetische Mutation in sich oder hat durch eine glückliche Fügung bemerkt, dass er über seine Biochemie eine Reaktion der Mikroorganismen provozieren kann. Ich weiß es nicht. Aber es ist definitiv nicht einfach.“
„Und selbst wenn wir diese Anleitung oder was auch immer finden, was dann? Steiner lässt uns erschießen, sobald wir rauskommen!“
„Vielleicht.“ William nickte. „Vielleicht auch nicht. Ich denke, wenn wir ihm einen Datenträger in die Hand drücken, hat er tatsächlich keinen Grund, uns am Leben zu lassen. Aber falls unsere Vermutung stimmt …“
„Und daran habe ich keine Zweifel“, fügte Marissa ein.
„… verfügen wir über Wissen, dass der Wanderer vielleicht ebenfalls besitzt, Steiner aber auf keinen Fall. Verhandlungsmasse. Genau wie früher.“
„Das ist verflucht riskant.“
„Ja. Ich werde dir auch nicht versprechen, dass es klappt, aber selbst wenn nicht … Wir würden ausnahmsweise mal nicht nur an uns denken, sondern etwas für den Rest der Menschheit tun – und für die Arytol. Steiners Absichten hin oder her, jeder noch so kleine Schritt in die richtige Richtung rettet Leben.“
Wulff schnaubte. „Selbst wenn wir dabei draufgehen.“
„Kopf hoch, Großer.“ Marissa trat auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. „Jetzt fühlst du dich mal ein paar Minuten lang wie Ari. Sei froh, dass es dir nicht immer so geht.“