Kapitel Zwölf

Es waren schon fast zwei Wochen vergangen, seit William seiner Hinrichtung entkommen war. Zwei Wochen. Es fühlte sich nicht so an. In manchen Momenten war es, als wäre er schon eine Ewigkeit frei, und in anderen begann er plötzlich zu zittern, als die Erinnerungen über ihn hereinbrachen. Daran, wie knapp es gewesen war. Es war keine Angst, zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Vielmehr schien sein Körper das nachzuholen, wozu er damals keine Zeit gehabt hatte.

Seit Ari ihn rausgeholt hatte, befanden sie sich auf der Flucht. Nie blieben sie länger als ein paar Stunden an einem Ort; immer wieder wechselten sie die Schiffe. Mal flogen sie in winzigen Shuttles, mal in alten Transportern, mal über dicht besiedelten Gegenden und oft über die entlegensten Regionen dieses Planeten. Ständig in Bewegung, nie innehalten. Das war ihr bester Schutz. Und zumindest bislang schien diese Taktik Erfolg zu haben, aus dem einfachen Grund, dass sie noch lebten.

Aris Leute, die den Angriff auf den Militärkomplex überlebt und sie anfangs begleitet hatten, waren längst weg. Menschen, die kamen und gingen, Schatten und Schemen. Glücksritter vielleicht, Abenteurer, Gangster und Ganoven. Die Art von Menschen, die sich mit dem Wanderer einließen. Vielleicht, weil sie dachten, das Richtige zu tun, vielleicht, weil sie auf Geld aus waren.

Oder weil sie ihre Version seiner Geschichte durchlebten.

Vielleicht gerade deshalb, weil sie nur zu zweit unterwegs waren, erfuhr William immer mehr über das Leben seiner Schwester. Über die Art und Weise, wie sie die Geschäfte regelte, die zum Leben eines Wanderers gehörten. Über ihre Netzwerke und Kontakte, Arbeitsweisen, Möglichkeiten und Grenzen. Er erfuhr, dass es Dutzende Wanderer im Sonnensystem gab, wie sie miteinander interagierten, wie sie Allianzen schmiedeten, an welche Regeln sie sich hielten und was geschah, wenn sie es nicht taten. Er erfuhr vermutlich so gut wie alles.

Außer einer Sache: Darüber, wie Ari ein Wanderer geworden war, welche Chance sie damals ergriffen hatte und was sie dafür hatte tun müssen, darüber schwieg sie sich aus. Ob es das letzte Geheimnis seiner Schwester war, konnte William nicht sagen, aber das war okay, denn zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er wieder das Gefühl, seine Schwester zu kennen.

„Da vorne.“ Ari streckte die Hand aus und deutete aus dem Cockpitfenster des abgewrackten Kurierschiffs in Richtung einiger Berge, die sich in der Ferne wie eine Welle aus dem umliegenden Flachland erhoben. „Bring uns am Fuß des Gebirges runter.“

William nickte und leitete den Landevorgang ein. Auf den Systemen des Schiffs wurden ihm nur schwache und sporadische Signaturen auf dem Boden angezeigt, was bedeutete, dass diese Gegend nur dünn besiedelt war.

„Tatra“, sagte Ari.

„Was?“

„Das ist das Tatra-Gebirge in Osteuropa.“

„Du weißt, dass ich mich mit der Geografie der Erde nicht unbedingt auskenne.“

„Das musst du auch nicht. Vom Tatra-Gebirge sollte man so oder so etwas gehört haben. Hier ist 2138 die Vanquish abgestürzt.“

William spürte, wie seine Mundwinkel zuckten, erwiderte allerdings nichts. Das Tatra-Gebirge mochte nicht zu seinem aktiven Wissensschatz zählen, doch jeder Mensch wusste, was die Vanquish war – und was mit ihr geschehen war. Und was ihn anging, wusste er auch, was das für den Aufenthalt in dieser Region bedeutete.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert war die UEFS Vanquish , oder um ihr Präfix vollständig zu nennen, das United Earth Flag Ship Vanquish , noch der Stolz der Menschheit gewesen. Das erste Schiff, das aus eigener Kraft in der Lage gewesen war, die Grenzen des Sonnensystems ohne Zwischenstopp auf einer Kolonie oder Station zu erreichen, und das nicht mittels der schon lange verfügbaren, althergebrachten Antriebsarten, sondern durch einen kombinierten Ionen-Pulsantrieb, der die damals unerreichte Geschwindigkeit von fünf Prozent Lichtgeschwindigkeit ermöglicht hatte.

Ihr Jungfernflug war geglückt. Die Vanquish hatte als erstes Großschiff den Neptun nicht nur aus eigener Kraft erreicht, sondern ihn umflogen und war zur Erde zurückgekehrt – und das in weniger als acht Tagen. Sie hatte gezeigt, wozu die Menschheit in der Lage war. Dass der Eroberung des Alls keine technischen Grenzen mehr gesetzt waren. Sie sollte der Auftakt sein zu Expeditionen jenseits der Heliopause. Doch dann, als sie zum Triumphflug die Erde umrundete, war sie abgestürzt und am Fuß des Tatra-Gebirges zerschellt.

„Ich hatte es mir immer anders vorgestellt“, sagte William, während er die Sensoren nach einem geeigneten Landeplatz scannen ließ. „Es gibt gar keine Trümmer.“

„Nicht mehr, nein.“ Ari schüttelte den Kopf. „Bis vor ein paar Jahren wurden alle Überreste geborgen, gesichert und abtransportiert. Der Sarkophag liegt ein paar Kilometer südlich von Krakau. Die Sperrzone umfasst mittlerweile nur noch einen Radius von 60 Kilometern.“

„So viel? Ist es überhaupt sicher für uns, da zu landen?“

„Schiffe halten das relativ problemlos aus. Was uns angeht … ein oder zwei Stunden an der Luft bringen uns nicht um.“

„So viel Optimismus.“

„Mhm.“

„Und was wollen wir ausgerechnet hier?“

„Ich suche einen alten Freund. Wobei die Bezeichnung ‚Freund‘ schon sehr weit gegriffen ist. Eher ein Bekannter. Er war damals maßgeblich daran beteiligt, uns die Informationen von TerraSec zuzuspielen, durch die wir überhaupt erst Wind von Object Zero bekommen haben.“

„Und der Kerl lebt hier?“

„Die extreme Strahlenbelastung, die hier nach wie vor herrscht, gleicht den Bedingungen mancher Planeten. Entsprechende Forschungen und Feldtests bieten sich daher an.“

„Das klingt nach einer TerraSec -Beteiligung.“

„Finanziell, ja, praktisch … auch, zumindest offiziell. TerraSec bezieht das Equipment von privaten Zulieferern. Raumschiffwerften und Rüstungsschmieden unterhalten eigene Forschungsprojekte. Manchmal hat Raubtierkapitalismus doch etwas Gutes. Es ist verworren, aber wir können meinem Bekannten vertrauen.“

„Mhm.“

„Ist etwas?“

„Ich …“ Er seufzte und initiierte den Landevorgang. Die Systeme hatten eine Wiese vor einem kleinen Wald als tauglichen Landepunkt ausgemacht. „Ich muss dich noch etwas fragen.“

„Schieß los.“

„Alles, was wir zusammen erlebt haben, seit wir damals in Richtung Mars aufgebrochen sind … Das Alien, CustPol , die Krankheit, Vesta, Helios-2 . Ich hatte kein einziges Mal das Gefühl, dass du … Ich weiß nicht einmal, wie ich es ausdrücken soll. Ich war mir die ganze Zeit über sicher, dass du mir nicht alles erzählst, dass du irgendetwas vor uns verheimlichst. Aber dass du der – oder eher ein – Wanderer bist …“

„Du meinst, weil ich so oft nicht wusste, was wir tun sollen?“

„Vielleicht.“

„Weil der Teil echt war.“

„Wirklich?“

„Mhm. Ich war nie ein Vorzeigewanderer , um es mal so auszudrücken. Wie gesagt: Es gab eine Chance, und ich habe sie ergriffen. Das Kollektiv war nützlich, aber ich hatte nie Interesse daran, selbst so ein Strippenzieher zu werden. Über verschiedene Kanäle hatte ich schon vor ein paar Jahren von den Arytol erfahren, und als ich selbst fast an der Krankheit gestorben bin … Es war ein Weckruf. Vielleicht sogar etwas wie Bestimmung. Aber rückblickend …“

„Rückblickend war das keine so gute Idee?“

Sie kicherte. „Nein, nicht wirklich. Ich hätte nie gedacht, dass wir so schnell die Kontrolle verlieren würden.“

„Da sind wir schon zwei.“

Ein kurzer Ruck durchfuhr das Schiff, als es auf der Wiese aufsetzte, und das leise Knarzen der Landekufen verriet William, dass die feuchte Erde nachgab und es ein paar Zentimeter in den Boden einsinken ließ. Dennoch zeigten die Systeme an, dass es stabil stand und verlassen werden konnte, auch wenn die Umgebungswarnungen angesichts des nicht unerheblichen Strahlungsniveaus davon abrieten.

„Und … wie finden wir deinen Freund?“

„Er findet uns.“

Ari warf ihm einen kurzen, dafür umso vielsagenderen Blick zu, löste ihre Gurte und stand auf. William verdrehte die Augen und tat es ihr gleich. Obwohl er in den letzten Tagen genug Gelegenheiten gehabt hatte, sich an die allgegenwärtige Schwerkraft zu gewöhnen, tat er sich noch immer schwer damit. Seit er Raumschiffpilot geworden war, hatte sich sein Körper daran gewöhnt, fast ausschließlich in der Schwerelosigkeit zu leben; ein Instinkt, den man nicht so leicht loswurde. Deshalb war es nach wie vor ungewohnt, zu spüren, wie die Füße ohne Magnete auf dem Boden aufsetzten.

Falls Ari der Umgebungsstrahlung überhaupt Beachtung schenkte, schien sie für sie kein nennenswertes Hindernis darzustellen, denn sie entriegelte die Luftschleuse, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, und marschierte die Rampe hinab.

Vor dem Schiff erwarteten sie strahlender Sonnenschein und kühler, aber nicht zu kalter Wind. William wusste nicht so recht, womit er gerechnet hatte, aber er hatte sich nicht vorstellen können, dass ein derart stark kontaminiertes Gebiet so … lebendig aussehen würde.

„Wie oft warst du schon auf der Erde?“, fragte er, als sich seine Schwester gerade nach einer kleinen Blume bückte und sie pflückte. Ihre Blüten besaßen eine intensiv-violette Farbe, doch William hätte sie selbst dann nicht mit Namen benennen können, hätte sein Leben davon abgehangen.

„Öfter, als mir lieb ist“, antwortete Ari beiläufig, während sie ein paar andere Blumen pflückte, von denen er ebenfalls keinen blassen Schimmer hatte, wie sie hießen. „Leider bislang immer nur geschäftlich.“

„Ich hätte nie gedacht, dass du mal herkommst.“

„Ich auch nicht. Aber ich hoffe, dass ich eines Tages einfach hier sein kann, ohne etwas tun zu müssen. Marissas Geschichten faszinieren mich, seit ich sie kenne.“

„Sie enden fast immer damit, dass sie um ein Haar von einem wilden Tier gefressen wird.“

„Ja, sage ich doch: faszinierend.“

William zog die Augenbrauen hoch, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihr weiter dabei zu, wie sie Blumen pflückte. Gerade war er sich nicht sicher, ob sie es ernst meinte oder ihn nur auf den Arm nehmen wollte, doch was ihn anging, war es egal. Früher, als sie in der stählernen Hölle aufgewachsen waren, die man Merkur nannte, hatte er sich die Erde immer genauso vorgestellt, wie er sie jetzt vor sich sah. Ein lebendiger Planet, der keiner ausgeklügelten Maschinen bedurfte, um zu leben, sondern dem dieses Wunder aus eigener Kraft glückte.

Bald schon gab Ari das Blumenpflücken auf, und obwohl sie sich sichtlich Mühe gab, es vor ihm zu verbergen, sah William, dass sie zunehmend unruhiger wurde. Ihr Freund hatte es wohl doch nicht so eilig, zu ihnen zu kommen. Ein Umstand, der ihn tatsächlich nicht so sehr wunderte, wie er es vielleicht hätte tun sollen.

Schließlich drehte er sich um und ging zurück an Bord des Schiffs. Während des Anflugs hatte er keinen Grund gehabt, detailliertere Sensorabtastungen zu initiieren, doch vielleicht war es an der Zeit, das nachzuholen. Signaturen hatte es schließlich einige gegeben. Womöglich war eine davon ja der Unterschlupf von Aris Bekanntem.

„Er wird nicht kommen“, ertönte hinter ihm plötzlich die Stimme seiner Schwester, kaum hatte er den ersten Scan initiiert. „Spar dir das.“

„Woher weißt du das?“

„Weil er längst hier sein müsste. Er lebt nicht mehr.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Doch.“ Sie ließ sich neben ihn auf einen Sitz fallen. „Und es gefällt mir zwar nicht, aber wir müssen in sein Labor und nachsehen, was passiert ist. Das klingt jetzt theatralischer, als ich es meine, aber er ist buchstäblich meine letzte Hoffnung.“

„Was hätte er denn getan?“

Ari antwortete ihm nicht. Stattdessen beugte sie sich über das Navigationsinterface, gab eine Koordinate ein und ließ die Systeme einen Weg berechnen. Der Punkt, der angezeigt wurde – vermutlich der Unterschlupf oder das Labor ihres Kontakts – lag keine zwei Kilometer von ihrer derzeitigen Position entfernt.

„Bring uns dahin“, befahl sie.

„Was willst du von diesem Kerl?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du … was?!“

„Ich weiß es nicht“, wiederholte sie, bevor sie aufstand und die Luftschleuse schloss. „Ich würde lügen, würde ich behaupten, noch besonders viele Optionen zu haben. Ich habe dir gesagt, dass die meisten Wanderer untergetaucht sind; das Kollektiv ist kollabiert. Und die wenigen Ressourcen, die mir bleiben, arbeiten daran, Marissa und Wulff zu befreien. Alles andere … Na ja.“

„Das heißt, wir …“

„Das heißt erst einmal gar nichts!“, fauchte sie. „Ich schwöre dir, dass ich dich nicht belüge. Aber mein Freund verfügt über gute Kontakte und ist meistens besser informiert als ich, zumindest was TerraSec angeht. Wenn uns jemand helfen kann, dann er.“

„Hat dein Freund auch einen Namen?“, fragte William, während er das Schiff in die Luft brachte und eine lang gezogene Kurve ansteuerte. Transorbitale Schiffe wie dieses, die grundsätzlich auch zum Raumflug fähig waren, waren für derart kleine Distanzen nicht unbedingt gemacht.

„Dr. Thomas Wulff.“

„Warte!“ Er starrte sie an. „Das ist Wulffs Vater, oder?“

„Jup.“

„Und warum zum Teufel hast du das nicht früher gesagt?“

„Weil es keinen Unterschied gemacht hätte“, antwortete sie. „Und weil das eine Angewohnheit ist, die man nicht so leicht loswird. Sorry.“

„Scheint so.“

„Thomas ist ein zweischneidiges Schwert“, sagte sie plötzlich mit seltsam unsicherer Stimme. „Er steht hinter den Zielen der Erde wie kaum ein anderer. Manchmal neigt er beinahe zum Fanatismus; wenn es nach ihm ginge, hätte Terra schon vor Jahren einen Krieg gegen die freien Kolonien entfesselt. Seit Wulff in hohem Bogen aus der Flotte geflogen ist, ist das Verhältnis zwischen ihnen … zerrüttet. Gleichzeitig gibt es aber niemanden auf der Erde, der außerirdischem Leben wohlgesonnener gegenübersteht. Seit dem Erstkontakt mit den Arytol ist er einer der glühendsten Verfechter von Freundschaft und Kooperation.“

„Klingt nach einem Dilemma.“

„Ja.“ Ari seufzte. „Das ist es.“

* * *

Es gestaltete sich deutlich schwieriger als erwartet, den Unterschlupf von Wulffs Vater zu erreichen, was in erster Linie daran lag, dass er sich nicht irgendwo im Freien befand oder auch nur in der Nähe einer geeigneten Landefläche, sondern in den höher gelegenen Ausläufern des Tatra-Gebirges. Unter Aufbietung sämtlichen fliegerischen Könnens war es William gelungen, das Schiff knapp 200 Meter vom Eingang entfernt zu landen, und das, obwohl praktisch jedes Bordsystem einen Absturz vorausgesagt hatte.

Trotzdem war es alles andere als eine ideale Position. Nicht nur, weil das Schiff mehr als nur exponiert dastand, sondern vor allem, weil der Weg zum Eingang des Unterschlupfs über nackten Fels führte, der jeden einzelnen Schritt zu einem Wagnis machte. Insbesondere dann, wenn man wie William nicht besonders viele Erfahrungen mit der Schwerkraft hatte. Oder damit, sich in irdischen Gebirgen zu bewegen. Falls sie auf Probleme stießen oder aus welchen Gründen auch immer verschwinden mussten, würde sie das wertvolle Zeit kosten.

Der Eingang des Unterschlupfs lag schwer einsehbar zwischen zwei Überhängen. Eine simple, stählerne Automatiktür, über der in einigem Abstand zueinander mit Filtern versehene Be- und Entlüftungsschächte installiert waren. Die Tür selbst stand offen, und das allein war für William Grund genug zur Besorgnis.

Dennoch folgte er Ari nach drinnen und sah sich einem leicht ansteigenden und mit mehreren ebenfalls offen stehenden Schleusen versehenen Tunnel gegenüber. Es war unübersehbar, dass jemand vor ihnen hier gewesen war. Am liebsten hätte er seine Schwester gefragt, warum sie nicht früher hergekommen waren, aber er kannte die Antwort bereits. Während der vergangenen beiden Wochen hatten sie unablässig das Schiff gewechselt und ihre Spuren verwischt. Dadurch konnten sie halbwegs sicher davon ausgehen, dass es TerraSec oder den Geheimdiensten nicht gelang, sie zu verfolgen. Oder zumindest nicht so schnell.

Schließlich erreichten sie den eigentlichen Unterschlupf – wobei sich dieser wohl am ehesten als besserer Bunker beschreiben ließ. Ein fensterloser achteckiger Raum von etwas mehr als zwanzig Metern Durchmesser, der eher halbherzig von an die Decke gehängten Tücher in einzelne Bereiche eingeteilt wurde.

William sah sich aufmerksam um und lauschte gleichzeitig auf jedes noch so leise Geräusch. Zumindest auf den ersten Blick konnte er keine Zerstörungen oder Kampfspuren ausmachen und auch sonst nichts, was auf eine gewaltsame Auseinandersetzung hingedeutet hätte, aber das hieß nicht, dass es keine gegeben hatte. Irgendjemand war hier gewesen, zweifelsohne, aber wer auch immer es war, er war geschickt vorgegangen.

„Sackgasse“, brummte er, nachdem er sich sicher war, dass sie allein waren.

„Jup“, seufzte Ari und ließ die Schultern hängen. „Scheiße, verdammt. Wir … Oh.“

„Was ist?“, fragte William, bekam jedoch keine Antwort.

Er drehte sich zu ihr um, nur um gerade noch zu sehen, wie sie zu Boden sank und dabei die Hände an die Schläfen presste. Sofort rannte er zu ihr und stützte sie, doch kaum war er bei ihr, spürte er auf einmal einen heftigen Druck im Kopf, begleitet von einem nicht minder starken Schwindelgefühl. Unwillkürlich ließ er Ari los und versuchte, sich selbst abzustützen. Ohne Erfolg. Er sackte in sich zusammen und keuchte, als sich auf einmal alles zu drehen begann.

Doch obwohl er es kaum schaffte, einen klaren Gedanken zu fassen, war da eine Gewissheit in ihm, die wie ein Schwert durch seinen vernebelten Verstand schnitt: Er kannte dieses Gefühl, diese Empfindung. Er hatte das schon einmal erlebt. Vor ein paar Wochen auf Object Zero . Das war die Halluzination, die nicht nur er erlebt hatte, sondern auch Marissa und Wulff. Und wenn das die gleiche war, dann bedeutete das, dass sie gleich wieder verschwinden musste. Irgendwie. Hoffentlich.

Aber nichts geschah.

William spürte, wie Panik in ihm aufstieg, und allmählich schlich sich auch die Erkenntnis in seinen Verstand, dass das doch nicht so war wie beim letzten Mal. Als er das letzte Mal diesen Halluzinationen erlegen war, war alles um ihn herum von ihm weggerückt; er hatte sich von der Welt gelöst und in einen Zustand zurückgezogen, den er selbst nicht beschreiben konnte. Aber jetzt? Jetzt sah er Ari neben sich, spürte seinen eigenen rasenden Herzschlag und die Panik, die wie ein Orkan durch ihn hindurchfegte.

„N-Nein …“, hörte er Ari plötzlich wimmern. „N-Nein, nein, nein, nein!“

Er versuchte, etwas zu ihr zu sagen, wollte die Hand nach ihr ausstrecken, aber er konnte nicht. Ganz gleich, wie sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht. Er war gefangen in sich selbst, paralysiert, hilflos.

William schnappte nach Luft, bot all seine Kraft auf und versuchte erneut, irgendetwas zu tun, aber er hatte keine Chance. Ari wimmerte unablässig vor sich hin und er sah, dass sie immer heftiger zu zittern begann –, und jetzt endlich verstand er, was mit ihr geschah. Das waren biochemische Signale der Arytol. Signale, die ihren Körper und ihren Verstand überforderten. Die sie vielleicht erneut töteten.

Das durfte nicht geschehen!

Verzweifelt versuchte William, aus der gewalttätigen Trance auszubrechen, um seiner Schwester irgendwie zu helfen, doch er konnte nicht. Er war gefangen. Und just in dem Augenblick, als er seine Hilflosigkeit in aller Konsequenz begriff, traf ihn auf einmal ein heftiger Schlag am Hinterkopf. Er spürte, wie der Schmerz durch seinen Kopf und seinen Nacken pulsierte, spürte, wie er instinktiv gegen die Ohnmacht ankämpfte, aber er wusste längst, dass er diesen Kampf verlieren würde.

Dann wurde alles schwarz.

„Nein … bitte nicht … nein.“

Ein Wirbel aus Farben und Formen hielt William gefangen. Wieder und immer wieder versuchte er vergeblich, aus ihm auszubrechen. Er war bei Bewusstsein und doch ohnmächtig, gefangen auf der Schwelle zur Bewusstlosigkeit, unfähig, einen Schritt in die eine oder andere Richtung zu machen.

„Wir wollen helfen, wir … wollen nur helfen … bitte …“

Er hörte Aris Stimme. Er hörte, wie sie wimmerte und flehte, hörte, wie sie immer wieder aufschrie. Zumindest eine Zeit lang. Dann herrschte Stille. Stille, die ihn unter sich begrub, schlimmer noch als die Paralyse seines Körpers. Zeit verging, das wusste er, doch er konnte nicht sagen, wie viel. Stunden, Tage, Wochen, Monate –, es spielte keine Rolle. Nicht mehr.

Irgendwann spürte William, wie er wieder zu sich kam. Langsam nur, in winzig kleinen Schritten, aber er spürte, dass etwas nicht stimmte. Dass etwas anders war. Der Druck in seinem Kopf war nicht verschwunden, sondern hämmerte mit jedem Herzschlag stärker. Es fühlte sich an wie ein Keil in seinem Gehirn, der mit gnadenlosen Hammerschlägen immer tiefer hineingetrieben wurde.

Und dann sah er sie.

Ari.

Seine Schwester hing an einer Wand, eingespannt in eine Maschine, ihre Arme und Beine vollständig umgeben von Metall. Schläuche gruben sich unterhalb ihres Kehlkopfs durch ihre Haut und erzitterten langsam und regelmäßig unter einem fremden Takt. Aris Augen waren weit geöffnet, doch vollkommen ausdruckslos, ihr Gesicht war bleich und eingefallen.

Wie lange war er ohnmächtig gewesen?

„Sie bekommt nichts mit“, erklang neben ihm auf einmal eine leise Stimme.

Vorsichtig sah sich William um und erblickte einen alten Mann, der neben ihm mit Armen und Beinen an einem metallenen Pfahl festgebunden war – genau wie er selbst. Sein Gesicht kam ihm bekannt vor. Konnte es sein?

„Thomas Wulff?“

Der Mann nickte. „Du musst William sein.“

„Was ist hier los? Wo sind wir?“

„Auf einem Schiff der Arytol.“

„Was? Aber wie? Wir waren doch …“

„Auf der Erde, ja“, brachte Wulffs Vater seinen Satz zu Ende. „Das ist jetzt schon einige Zeit her. Sie haben auf euch gewartet.“

„Ich verstehe das nicht.“

„Lass dir Zeit. Wir haben keine Eile.“

William blinzelte. Erst jetzt begriff er, dass er sich tatsächlich auf einem Schiff befand. Die Bauweise dieser Kammer entsprach der Bauart der Arytol – und es herrschte Schwerelosigkeit.

„Die Arytol führen nicht Krieg wie wir“, sagte der Alte nun. „Es geht ihnen nicht um die Vernichtung ihres Gegners. Der desolate Zustand ihrer Spezies gibt groß angelegte Feldzüge nicht her. Ihre schlimmsten Kriege haben einige Dutzend Todesopfer gefordert, selten werden Multiindividuen vollständig ausgelöscht. Sie wenden diese Taktik nun auch bei uns an. Tausend Nadelstiche. TerraSec ist dagegen machtlos.“

„Warum sollten sie angreifen?“

„Weil wir sie angegriffen haben. Das ist der Vergeltungsschlag.“

„Aber …“

„Unser Tod bringt ihnen keinen Vorteil – aber indem sie uns in ihrer Gewalt haben, schaden sie der Erde. Vielleicht hoffen sie sogar auf einen Nutzen. Wie bei …“

Er sah zu Ari.

„Was haben sie mit ihr gemacht?“

„In gewisser Hinsicht haben sie ihr Leben gerettet.“

„Sie … Was?“

TerraSec hat in den letzten Monaten große Anstrengungen unternommen, die verbliebenen Kommunikationsoffiziere ihrer Spezies aufzuspüren und zu eliminieren, damit niemand mehr übrig ist, der davon berichten kann, wie wir sie verraten haben. Trotzdem existiert selbst im Krieg die Notwendigkeit, miteinander zu sprechen. Ari ist das Mittel dazu.“

„Und sie haben sie … sediert?“

„Was genau sie mit ihr getan haben, kann ich nicht sagen. Aber sie sprechen durch sie. Mit uns und mit den anderen Gefangenen. Und durch sie verstehen sie uns auch.“

„Es gibt andere?“

„Dutzende. Vielleicht Hunderte. Wissenschaftler, Industrielle, Militärs, Politiker. Es sind Präzisionsschläge. Sie besiegen die Menschheit, indem sie ihre Führer gefangen nehmen. Ich kann mir vorstellen, dass bislang kein einziger Schuss abgefeuert worden ist.“

„Und woher wissen Sie das?“

„Ich habe ihnen dabei geholfen.“

„Sie? Wieso sollten Sie das tun? Ich dachte …“

„Weil dieser Krieg enden muss“, fiel ihm der Alte ins Wort. „Und zwar sofort.“

„Ich dachte, der Krieg war vorbei? Wieso setzen die Arytol jetzt zum Gegenschlag an? Damit werden sie nur weitere Angriffe provozieren!“

„Und wer soll diese durchführen, wenn keine Admirale mehr übrig sind, um die Flotten zu befehligen? Keine Politiker, um das Töten und Sterben den Menschen zu erklären? Keine Industriellen, die Munition fabrizieren? Die Arytol mögen vom Verrat der Menschheit überrascht worden sein, aber sie sind nicht dumm. Sie verstehen sehr wohl, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Und sie wissen, dass wir erst nach dem Zusammenbruch des Alten bereit sein werden, etwas Neues zu versuchen.“

„Es geht um die Krankheit, oder?“

„Ja.“

William schnaubte.

„Was ist los?“

„Ich frage mich, wie es sein kann, dass so viele Menschen etwas über Dinge wissen, die offiziell niemandem bekannt sind“, erwiderte er tonlos. „Allmählich bekomme ich das Gefühl, dass ich der einzige Mensch im Universum bin, der das alles nicht weiß.“

„Viele beschäftigen sich seit langer Zeit mit der Krankheit“, erwiderte Wulffs Vater. „Ich, zum Beispiel. Es ist Jahre her, seit die ersten Fälle aufgetreten sind, und viele der besten Ärzte und Wissenschaftler unserer Zeit haben sich dieses Problems angenommen. Die meisten davon im Dienst der Erde. Auch ich. Aber der Kontakt mit den Arytol und die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit sind … waren in der Lage, mir die Augen zu öffnen, ganz gleich, wie fest ich sie auch geschlossen gehalten habe. Der Mikroorganismus, der für diese Pandemie verantwortlich ist, will etwas von uns. Nicht von uns als individuelle Lebewesen, sondern als Spezies. Von unseren beiden Spezies. Vieles, was geschieht, kann nur so sinnvoll erklärt werden.“

„Den Schluss habe ich auch schon gezogen.“

„Und doch sagen Sie, Sie wüssten nichts?“

„Sie kennen Ari“, antwortete William und sah zu seiner Schwester. „Ich nehme an, Sie wissen, was wir in den letzten Monaten durchgemacht haben.“

„Das tue ich.“

„Also.“

„Also was?“

„Dann wissen Sie, was für eine gottverdammte Odyssee wir hinter uns haben. Wir sind blind und nichtwissend von einer Katastrophe in die nächste gestolpert.“

Der Alte erwiderte nichts, und auch William schwieg. Eine Odyssee. Ja, das traf es. Vielleicht hatte sich der Name seines alten Schiffs ja als unverhoffte Verheißung herausgestellt. Viele Raumfahrer waren mehr als nur abergläubisch, wenn es um den Namen ihrer Schiffe und die Umstände der Inbetriebnahme ging.

William hätte es nicht für möglich gehalten, doch dieser Vergleich spendete ihm etwas wie Trost. Zu wissen, dass man als Mensch letztlich keinen Einfluss auf die Geschehnisse hatte und manchmal der Willkür von Göttern und Kosmos ausgeliefert war … Es machte die letzten Monate vielleicht nicht leichter zu ertragen, doch es gab ihnen eine Art von Sinn, den er mittlerweile nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Er hatte so lange um Kontrolle gerungen, und ganz gleich, was seine unmittelbaren Ziele auch gewesen waren, letzten Endes war es ihm immer nur darum gegangen, sein Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen, nachdem es so gewaltsam aus der Bahn geworfen worden war. Vielleicht wären all die Hindernisse und Hürden der vergangenen Monate, all die Ängste und Sorgen ja leichter zu ertragen gewesen, hätte er sich eingestanden, keinen Einfluss mehr zu besitzen und ihn auch nicht zurückerlangen zu können. Das bedeutete nicht, dass er nicht versuchen sollte, das Richtige zu tun, aber letzten Endes war er nur ein Mensch. Ein einziger Mensch, der zwischen die Fronten des größten Wahnsinns geraten war, der je über das Sonnensystem hereingebrochen war.

Und vielleicht war es auch an der Zeit, zu akzeptieren, dass er nicht derjenige war, der die Entscheidungen traf. Nicht derjenige, der Dinge ans Tageslicht beförderte, Geheimnisse lüftete oder vergessenes Wissen erforschte. Aber trotzdem war er da. Er hatte weitergemacht, oft ohne zu wissen, wieso und warum, aber er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Ob zum Guten oder zum Schlechten, würde sich zeigen.

Und jetzt … Womöglich war das auch nur wieder eine Station auf seiner Odyssee.