Kapitel Vierzehn

William veränderte sich. Er spürte es jede Sekunde, mit jedem Herzschlag, mit jedem Atemzug. Es geschah tief in ihm, langsam, schnell. Er wusste nicht, was es war, wusste nicht, wie lange es dauern würde, aber er wusste, dass es geschah.

Und dieses Wissen machte ihm Angst.

Seit er zurückgekommen war, waren Tage vergangen. Wie viele es genau waren, konnte er nicht sagen. Einzig durch die Arytol, die ihn unablässig untersuchten, und die Nahrung, die sie ihm in regelmäßigen Abständen brachten, hatte er sich errechnen können, dass es gut eine Woche sein musste. Eigentlich eine lange Zeit, doch sie kam ihm so flüchtig und leer vor.

Es war ein seltsamer Zustand, in dem er sich befand. Er war bei Bewusstsein und bekam deutlich mit, was um ihn herum geschah; er sah die Arytol, erlebte ihre Untersuchungen, hörte die Fragen, die sie ihm über seine Schwester stellten. Nichts davon besaß für ihn irgendeine Relevanz. Es war, als hätte sich eine unsichtbare und gleichzeitig undurchdringliche Barriere zwischen ihn und die Welt um ihn herum geschoben. Er wusste, dass sie da war und wusste, dass er sie hätte durchbrechen können, wenn er nur gewollt hätte.

Er wollte nicht.

Womöglich war das eine Begleiterscheinung der Veränderungen, die er durchlief, eine Art Schutzmechanismus seines Verstands, vielleicht aber auch eine Blockade dessen, was diesen Zustand überhaupt erst ausgelöst hatte. Der Versuch, ihn davon abzuhalten, es zu verhindern oder zu unterbrechen. Es war einerlei.

Gerade erst hatte eine weitere Gruppe Arytol den kleinen Raum verlassen, in dem er sich befand, als er einmal mehr an sich hinabsah. Es gab nur wenige wirklich offensichtliche Veränderungen. Sein Körper war definierter geworden, seine Muskeln betonter, alte Verletzungen und Narben waren verschwunden. Nichts, was man nicht auch mit etwas moderner plastischer Chirurgie hätte erreichen können, doch seit Tagen geschah es von allein.

Er spürte seinen Körper auf eine Weise, wie er ihn nie zuvor gespürt hatte. Das war nicht nur die Fähigkeit, Muskeln und in der Folge Gelenke zu bewegen, und auch nicht nur das Potenzial, Wärme, Kälte, Berührung und Schmerz zu empfinden, nein. Sein Körper war wie ein … Netzwerk. Es war, als könnte William jede einzelne Nervenbahn spüren, die sich durch seinen Körper zog, und jedes Blutplättchen, das sich durch seine Adern bewegte. Sein Herz schlug nicht nur, sondern er fühlte, wie sich das Blut durch den Muskel hindurchbewegte; er fühlte, wie seine Lunge den Sauerstoff aus der Luft extrahierte. Er empfand alles – und die Masse an Empfindungen überforderte ihn nicht.

Ganz im Gegenteil: Es fühlte sich normal an.

William fasste an seine Brust. Das waren die weniger offensichtlichen Veränderungen. Unübersehbar hingegen waren die intensiven gelb-roten Akzente, die sich auf seiner Haut abzeichneten. Farben, zu denen die Pigmente menschlicher Haut nicht in der Lage waren, zumindest nicht auf natürliche Weise. Einer dieser Akzente befand sich auf Höhe seiner Brust, knapp neben seinem Herzen, und obwohl er nichts außer den fremden Farben erkennen konnte, wusste er, dass sich ein neues Organ unter seiner Haut befand. Er hatte gespürt, wie es in ihm herangewachsen war und sich mit seinem Nervensystem verbunden hatte. Ähnliche Akzente befanden sich links und rechts seiner Augen an seinen Schläfen. Unter ihnen waren zwar keine neuen Organe herangewachsen, doch auch hier hatte er miterlebt, wie sich sein Körper veränderte; wie neu gewachsene Nervenbahnen seinen Schädelknochen durchbrochen und sich direkt mit seinem Gehirn verbunden hatten.

Das waren dieselben Farben, die auch die Arytol auf ihrer Haut trugen, und die Organe, die in ihm herangewachsen waren, glichen denen, über die sie kommunizierten. Er spürte, wie er mit jedem Tag mehr und mehr bewusste Kontrolle über sie erlangte, ohne sie bewusst zu trainieren, und mit dieser Kontrolle ging ein zunehmendes Verständnis einher. Noch verstand er die Arytol nicht so präzise wie einen Menschen, der mit ihm redete, doch er begriff grob, was sie von ihm wollten, und mit jeder Stunde, die verging, wurde dieses Wissen ausdifferenzierter. Wie eine Fremdsprache, die man lernte, indem man einfach nur zuhörte.

Interessanterweise bereiteten ihm die Veränderungen an sich keine Angst. Sie geschahen zwar unvermittelt, doch er spürte, dass ihm von ihnen keinerlei Gefahr drohte. Was ihn allerdings beschäftigte, war, zu welchem Ziel sie kommen mochten, und welchem Sinn sie wohl dienten. Verwandelte er sich gerade in einen Arytol? Er wusste nicht, wie das irgendwie möglich sein sollte, und zumindest im Moment deutete auch nichts darauf hin. Aber es war dieses Nichtwissen, das ihn unablässig beschäftigte, die Unsicherheit, was ihn erwartete.

Aber wäre das so schlimm gewesen?

William öffnete seinen Mund zu einem stummen Seufzen, als er die Hände hob und sich langsam übers Gesicht strich. Vielleicht wäre es okay für ihn gewesen, ein Arytol zu werden, vielleicht nicht. Was seine Menschlichkeit anging, war aktuell vermutlich sowieso nicht mehr besonders viel davon übrig. Selbst wenn es anders gewesen wäre, besaß die Menschheit in ihrem derzeitigen Zustand nicht mehr viel, was eine Spezieszugehörigkeit wünschenswert machte.

Nutzlose Gedanken, sinnlose Überlegungen. Was geschehen würde, würde geschehen, ganz gleich, ob er es wollte oder nicht. Er hatte längst begriffen, eingesehen und akzeptiert, dass das, was mit ihm passierte, jenseits seines Einflussbereichs lag, und dass das, was er bei der Sphäre erlebt hatte, keine Rücksicht auf ihn als Lebewesen nahm. Der Maßstab war größer. Vielleicht war er es schon immer gewesen.

„Du bist anders geworden.“

Plötzlich war da eine Stimme. Oder? Nein, das war keine Stimme. Das waren Informationen, an seinen Verstand gesendet und nach ihrer Bedeutung entschlüsselt. Direkte Adressierung, Ansprache, gefolgt von einer Information im zeitlichen Rahmen, dazu der Abschluss als Aussage. Es war nur sein Verstand, der diese Informationen entschlüsselte und ihm vorgaukelte, dass jemand mit ihm sprach.

Er sah zur Seite. Der Arytol, der sich seit Tagen mit ihm in dieser Kammer befand, starrte ihn an. Der Arytol, den er gesehen hatte, als er die Sphäre berührt und das Unbeschreibliche erlebt hatte. Mittlerweile wusste er, dass es Hope war, genau wie er von seinen Verletzungen und Wunden geheilt.

„Du bist anders geworden“, wiederholte Hope und erneut fühlte William, wie sein Körper die biochemischen Signale empfing und an seinen Verstand weiterleitete, wo sie als übersetzte Informationen verständlich wurden.

„Ja“, antwortete William. Es war das erste Mal, seit er zurück war, dass er redete. „Ja, ich spüre es. Du auch?“

„Ja.“

„Und wie? Kannst du sprechen wie ich?“

„Nein. Die Art, wie ich kommuniziere, wurde anders. Ich habe es in den vergangenen Tagen ausprobiert. Ich kann die anderen Arytol kontrollieren. Mein Wort ist ihnen Befehl.“

„Verstehst du, was mit uns geschehen ist?“

„Nicht ganz, aber ich könnte mir vorstellen, es soll so sein. Spürst du, wie der Mikroorganismus mit jedem Schlag deines Herzens durch dein Blut schwimmt?“

„Ja.“ William nickte. „Wie Blätter auf fließendem Wasser. Es fühlt sich anders an als früher, aber ich weiß nicht, ob ich es einfach nur deutlicher empfinde oder es wirklich anders ist.“

„Ich vermute, es ist beides. Ich lerne noch, aber ich denke, ich kann mit dem Organismus kommunizieren. Ich fühle, wie er auf mich reagiert. Es ist ein langsamer Prozess, aber ich werde es lernen.“

„Als wir bei der Sphäre waren …“

„Wir waren nicht bei der Sphäre“, unterbrach ihn Hope. „Ich denke, wir waren in ihr.“

„Das Gefühl hatte ich ebenfalls, aber ich wollte es so nicht aussprechen.“

„Wieso nicht?“

„Weil es nicht sein kann. Es widerspricht sämtlicher Logik.“

„Ich glaube nicht, dass es der Logik widerspricht“, erwiderte der Arytol. „Vielmehr glaube ich, dass wir nur nicht verstehen, wie es funktioniert. Wo auch immer wir waren und ganz gleich, wie wir dorthin gekommen sind, wir waren nicht mehr an Bord dieses Schiffs.“

„Da war diese Gestalt.“

„Ich habe keine gesehen.“

„Aber sie war da.“ William nickte. „Ich habe sie deutlich gesehen. Sie war humanoid, aber ich konnte sie nur in Umrissen erkennen. Aber bevor ich mehr herausfinden konnte, waren wir schon wieder weg –, und ich glaube, auf dem … Rückweg bin ich bei einer der anderen Sphären herausgekommen. Zumindest kurzzeitig.“

„Das ist möglich. Ich habe zwar nichts dergleichen empfunden, aber auch ich habe eine Art … Abweichung gespürt. Als wäre ich an einer Weggabelung kurzzeitig ins Taumeln gekommen.“

„Meinst du, das ist ein Hilferuf?“, fragte William.

„Ein Hilferuf?“

Er nickte. „Ja. Vielleicht ist diese Krankheit, dieser Mikroorganismus, ja nur der Versuch einer fremden Spezies, auf sich aufmerksam zu machen. Eine Art der Kommunikation, die für uns auf den ersten Blick weder verständlich noch nachvollziehbar ist. Ich bezweifle, dass sie so mit uns kommunizieren würde, hätte sie eine andere Wahl, und da ihr diese Krankheit in vielen Sternensystemen gefunden habt …“

„Ich verstehe, worauf du hinauswillst“, antwortete Hope zögerlich. „Kommunikation durch Biologie.“

„Ähnlich wie ihr.“

„Ähnlich wie unsere beiden Spezies“, gab der Arytol zurück. „Ich vermute, es gibt einen guten Grund, warum wir in Jahrtausenden der Koexistenz mit diesem Mikroorganismus niemals Ereignisse erlebt haben, die mit dem vergleichbar sind, was seit unserer Ankunft in eurem Sonnensystem geschieht. Womöglich war dieser Kommunikationsversuch zielgerichtet, aber nicht auf Menschen und Arytol, sondern …“

„… auf unsere Eigenschaften“, vervollständigte William seinen Satz. „Deswegen vielleicht auch diese Veränderungen? Wir werden angepasst, damit wir auf diesen Kontaktversuch reagieren können.“

„Nur wie?“

„Ich bin davon überzeugt, dass du der Schlüssel bist. Der Arytol, den wir damals an Bord unseres Schiffs hatten, konnte mit dem Mikroorganismus kommunizieren. Wie das möglich war, weiß ich nicht, aber ich vermute, es war ebenfalls eine Sphäre im Spiel. Du durchläufst gerade die gleichen Veränderungen. Und da ich als Mensch diesmal dabei war … Na ja, ich denke, ich erfülle meinen Teil.“

Hope schwieg.

„Was ist los?“

„Ich fürchte mich vor dem, was kommt.“ Seinen biochemischen Signalen haftete unverhohlene Angst an. „Kein Arytol sollte zu dem fähig sein, was ich kann –, und sieh dir an, wie leichtfertig deine gesamte Physiologie umgearbeitet wird. Die Organe, die meine Spezies zum Senden und Empfangen unserer Nachrichten entwickelt hat, sind das Ergebnis von Milliarden Jahren der Evolution. Und jetzt plötzlich wachsen sie in dir heran und du lernst, damit umzugehen? Deine Schwester vereint die modernsten Forschungen und Technologien von Arytol und Menschen in sich, und die Art unserer Kommunikation hat sie buchstäblich getötet.“

„Eine entsprechend fortschrittliche Technologie und entsprechendes Wissen über Genetik …“

„Genau darauf will ich hinaus!“ Die Intensität der Signale ließ William zusammenzucken. „Genau das meine ich! Du und ich, wir sind nichts weiter als Werkzeuge für diese … Organismen. Wir werden benutzt und niemand kann absehen, wie weit das geht. Vielleicht lässt man uns fallen, wenn man uns nicht länger benötigt, aber was, wenn das nicht reicht? Du und ich, wir sind die ersten, die diese Veränderungen gemeinsam durchleben. Was, wenn wir weiter benutzt werden? Wenn diese Veränderungen nicht ausreichen?“

„Du meinst, wir …“

„Ich meine nichts Konkretes, aber ich halte alles für möglich. Ihr Menschen seid eine extrem auf Technik fokussierte Spezies und ihr meistert eine solche Vielzahl unterschiedlicher Technologien, dass ihr uns von der schieren Masse her spielerisch in den Schatten stellt. Auch wir benutzen Maschinen, doch durch unsere Art, unsere Umwelt zu verstehen und mit ihr zu interagieren, können wir vieles ausgleichen und haben uns auf einige wenige Schlüsseltechnologien konzentriert. Aber falls dieser Mikroorganismus nur über … organische Komponenten arbeitet … Was, wenn wir irgendwann nichts weiter sind als Computer? Dolmetscher? Wenn sie uns zwingen, an Ort und Stelle festzuwachsen?“

„Die Frage ist, was wir dagegen tun sollen“, erwiderte William tonlos. „Was du sagst, ist möglich, aber bisher haben wir keinen Hinweis darauf, dass es so kommen wird. Es ist also zumindest im Moment allein unsere Entscheidung, wie wir damit umgehen. Ich denke, Angst bringt uns nicht weiter.“

William spürte, wie Hope zu einer Erwiderung ansetzte, doch dann hielt er plötzlich inne. Keine Sekunde später öffnete sich auch schon die Schleuse zu ihrer Kammer und vier Arytol traten ein, begleitet von zwei Menschen in Uniform. Es dauerte einen Moment, bis William begriff, wen er vor sich hatte, doch als es ihm klar wurde, öffnete er unwillkürlich den Mund.

Es waren Wulff und Carter.

* * *

„Sie haben nicht gelogen“, raunte Wulff und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sieh dir das an.“

„Die Sphären-Testreihen haben keine Hinweise auf eine solche Mutation ergeben.“ Carter trat langsam auf William zu und sah ihm dabei unablässig in die Augen. Das leise Surren seines Exoskeletts begleitete jede seiner Bewegungen. „Und er ist nach wie vor katatonisch, sagen Sie? Auf mich wirkt er nämlich ziemlich wach.“

„Keine Reaktion“, antwortete eine feminine Computerstimme, eine wie jene, mit der Hope immer gesprochen hatte. Einer der Arytol trat vor. Er trug einen ramponiert aussehenden und unverkennbar provisorisch reparierten Kommunikations-Harnisch. „Bislang keine Reaktion.“

„Ich verstehe.“ Carter nickte. „Und Sie sind sich sicher, was die Ergebnisse anbelangt?“

„Ja.“

„Die Arytol sagen, dass dieser Zustand erst nach dem Versuch mit der Sphäre aufgetreten ist“, sagte Wulff leise. „Die Mutation ist also im Verlauf der letzten Woche aufgetreten.“

„Spielt das eine Rolle?“

„Unsere Testreihen brachten kein solches Ergebnis.“

„Irrelevant. Wir werden herausfinden, was anders ist. Gut. Damit haben wir uns persönlich davon überzeugt, dass die Konditionen erfüllt wurden. Wulff, machst du Meldung? Botschafter, ich denke, wir können nun zur Unterzeichnung des Vertrags übergehen.“

William starrte Wulff an, doch der Hüne wich seinem Blick angestrengt aus. Er wusste zwar nicht, wie das möglich sein sollte, aber er verstand genau, was hier geschah: Menschen und Arytol hatten Frieden geschlossen – oder standen zumindest kurz davor, es zu tun. Das bedeutete dann wohl, dass es den Aliens gelungen war, ausreichend viele irdische Anführer aus dem Verkehr zu ziehen und das alte System kollabieren zu lassen. Nur: Bedeutete das im Umkehrschluss, dass Carter und Wulff jetzt die Guten waren? Angesichts ihrer terranischen Militäruniformen schien ihm das nicht sehr wahrscheinlich.

William öffnete gerade den Mund, um Wulff anzusprechen, als er auf einmal ein unglaublich intensives biochemisches Signal spürte. Es traf so unvermittelt und heftig auf ihn, dass er unwillkürlich nach Luft schnappte und die Augen zusammenkneifen wollte, doch bevor er dazu kam, endete es auch schon wieder – und zwei der Arytol stürzten sich plötzlich auf Carter und Wulff und drückten die beiden zu Boden, während die verbliebenen zwei ihn und Hope von den Fesseln befreiten.

Irgendetwas stimmte nicht. Die Arytol zitterten; ihre Köpfe zuckten ruckartig zur Seite, und eine dunkle Flüssigkeit trat aus ihren Augen aus. William meinte, Spuren von panischen Signalen zu spüren, doch wenn sie überhaupt da waren, dann waren sie so schwach, dass er sie nicht verstehen konnte. Aber das musste er auch nicht, denn was er sah, genügte, um seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Die Arytol, die ihn und Hope freigelassen hatten, sackten plötzlich in sich zusammen und trieben in die Schwerelosigkeit davon, und die anderen beiden rammten ihre Vorder- und Hinterläufe mit einer derartigen Kraft in den Boden, dass sie sich gewissermaßen selbst darin verankerten, bevor auch sie starben und Wulff und Carter unter sich begruben.

„Was soll das?!“, knurrte Carter und versuchte, einen der Arytol von sich wegzudrücken. Er hatte keine Chance. „Was geht hier vor? Was …?“

„Wulff“, sagte William leise und sah den Hünen an. „Wie … konntest du?“

„Dieser Wahnsinn musste enden“, antwortete er leise. Jetzt endlich sah er ihn an. Sein Blick war ausdruckslos und leer. „Du weißt, dass es so nicht weitergehen konnte. Dieser Krieg hätte uns alle vernichtet.“

„Und deshalb schließt du dich denen an, die …“

„Es geht hier nicht um alte Schuld, Will. Man kann das Sonnensystem nicht retten, indem man am Gestern festhält und sich gegenseitig zerfleischt. Ich habe getan, was nötig war, um diesen Krieg zu beenden.“

„Indem du die Arytol angreifst?“

„Indem ich die letzten irdischen Reserven vernichte“, wisperte er. „Terra hätte diesen Krieg noch Jahre weitergeführt. Ich habe mich der Erde angeboten. Ich, der einzige Mensch, der die Heimat der Arytol mit eigenen Augen gesehen hat. Ich habe ihre Flotte gegen sie geführt und dafür gesorgt, dass sie untergeht. Nur so konnte der Widerstand der Erde das alte Regime hinwegfegen und den Weg freimachen für Frieden.“

„Du lügst.“

„Das tut er nicht“, widersprach Carter mit fester Stimme. „Wulff sagt die Wahrheit. Der Vereinte Rat von Terra ist Vergangenheit. Jedes Ratsmitglied, jeder Minister, jeder General und Admiral, der noch übrig war, wurde gehängt. Wir sind hier, um die verbliebenen zurück zur Erde zu überführen und ihnen den Prozess zu machen. Ich habe einen Datenträger in der Tasche, der ihre Todesurteile beinhaltet.“

„Frag sie, was mit uns ist!“, verlangte Hope.

„Und was wollt ihr von uns?“

„Die Arytol haben gemeinsamen Forschungen zugestimmt, um den Zweck der Sphären zu entschlüsseln. Wir …“

„Wir haben ihn bereits entschlüsselt“, fiel ihm William ins Wort. „Und wir wissen, wieso das alles geschieht. Es braucht keine weiteren Forschungen.“

„Ist das so?“

„Ja. Und vor allem braucht es euch nicht“, fuhr er fort. „Ich bin fertig mit TerraSec , der Erde, den Kolonien und der Menschheit. Der Wahnsinn, der in den letzten Monaten entfesselt worden ist, sprengt jede Dimension, und selbst wenn ihr die Wahrheit sagt, ändert das nichts an dem, was geschehen ist. Ich dachte lange Zeit, dass ich den Geschehnissen nicht entkommen kann, und in gewisser Hinsicht war das auch so. Aber wo ich geglaubt habe, dass sie mich zermalmen würden, bin ich in Wirklichkeit daraus ausgebrochen. Und ich werde nicht zulassen, wieder in dieses Elend hineingezogen zu werden.“

„Und was bedeutet das?“, fragte Wulff leise. „William, was hast du vor?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte er und sah an sich hinab. „Ich bin nicht mehr der, der ich war, und als ich die Sphäre berührt habe, habe ich Dinge gesehen, die ich mir nicht erklären kann. Aber ich habe akzeptiert, dass das mein Weg ist, ob es mir gefällt oder nicht. Und ich werde ihn zu Ende gehen, weil sonst alles, was geschehen ist, umsonst geschehen wäre. Ich werde nicht zulassen, dass ihr mich aufhaltet.“

„Also …“

„Unsere Wege trennen sich hier.“ William holte tief Luft. „Falls du daran glaubst, dass die Menschheit jetzt alles besser macht, und dass ihr und die Arytol in Frieden leben könnt, dann wünsche ich dir von ganzem Herzen Glück. Bestelle Henderson und Marissa meinen Gruß.“

„Marissa ist an Bord“, entgegnete er. „Sie ist mit mir hergekommen. Wegen dir. Verabschiede dich selbst von ihr. Das bist du ihr schuldig.“

William erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts. Wulff hatte sich verändert. Nicht erst jetzt, auch wenn es gerade unübersehbar wirken mochte, sondern schon vor langer Zeit. Es war ihm bereits aufgefallen, als er ihn auf Object Zero wiedergetroffen hatte. Bislang hatte er geglaubt, dass etwas geschehen war, etwas, das ihn negativ beeinflusst und womöglich sogar gebrochen hatte. Aber vielleicht hatte er sich getäuscht und Wulff hatte schlichtweg beschlossen, nicht länger vor der Verantwortung davonzulaufen und seinen Teil dazu beizutragen, dass der nächste Morgen nicht ganz so finster werden würde wie der letzte.

Schließlich verließ er den Raum und zog sich hinaus auf den Korridor des Schiffs, wo ihn wider Erwarten keine gähnende Leere erwartete, sondern ein halbes Dutzend Arytol in unterschiedlich gefärbten Rüstungen, die ihn regungslos anstarrten. Genau wie die, die Hope getötet hatte, wirkten sie seltsam abwesend und ihre Köpfe zuckten immer wieder zur Seite, doch das war weit weniger ausgeprägt als gerade eben.

„Sie werden sich erholen“, sagte Hope, während er ihm aus dem Raum folgte. „Was geschehen ist, war nötig.“

„Denkst du?“

„Ich musste eingreifen. Was ist mit dir?“

„Was meinst du?“

„Wirst du Marissa suchen?“

„Ja, ich denke schon. Ich …“

William hielt inne, als er sich mit einem Mal fühlte, als würde er aus einer Art Trance aufwachen. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf und atmete ein paarmal tief durch, doch es half nichts. Eine seltsam … unwirkliche Empfindung brach über ihn herein und einen Moment lang war er sich sicher, dass sich die Ereignisse der Sphäre wiederholen würden, aber nichts geschah.

Er biss die Zähne zusammen, zwang sich so gut wie möglich zur Beherrschung und schüttelte erneut den Kopf. Was war los mit ihm? Wann war er so … abweisend und kalt geworden? War das überhaupt er? War das seine willentliche Entscheidung? Wulff war einer seiner engsten Freunde und er hatte ihn einfach so abgefertigt. Und wenn er ehrlich war, hatte er sogar darüber nachgedacht, Marissa aus dem Weg zu gehen und zu versuchen, das Schiff zu verlassen, ohne mit ihr zu sprechen.

„Das bin nicht ich“, flüsterte er und starrte Hope an.

„Was meinst du?“

„Ich … Ich weiß es nicht. Ich fühle mich ferngesteuert, unbeteiligt, ich … Verdammt, ich kapiere es selbst nicht!“

„Denkst du, das ist eine Folge deiner Veränderungen?“

„Ja. Was, wenn die Mikroorganismen doch mein Verhalten beeinflussen? Ich … Hope, was tun wir hier eigentlich? Wo wollen wir hin, was haben wir vor? Was …“

Wieder hielt er inne. Diesmal spürte er noch deutlicher, dass etwas nicht stimmte. Seine Arme und Beine wurden mit einem Mal taub, seine Ohren begannen zu klingeln und seine Brust schnürte sich zu. Instinktiv hob er die Hände und fasste an seinen Hals, doch er wusste selbst nicht, wieso er das tat und was er sich davon erhoffte, aber bevor er in irgendeiner anderen Weise reagieren konnte, wurde alles um ihn herum schwarz. Das war nicht wie bei der Sphäre, sondern vielmehr damals in Object Zero . Eine Halluzination. Er verstand, dass das nur in ihm geschah, dass er sich das nur einbildete, auch wenn er nicht sagen konnte, wieso oder woher.

Da waren Stimmen, nah und fern, Signale der Arytol und auch Unterhaltungen von Menschen. Er hörte sie, verstand aber nicht, was sie sagten. Es war wenig mehr als Hintergrundrauschen, das die Stille verdrängte, aber es genügte, um ihn niederzudrücken und vollständig zu überfordern. Verzweifelt versuchte er, zu verstehen, was geschah und sich in diesem Wirrwarr zurechtzufinden. War das echt, bildete er es sich ein? Hatte es einen Sinn oder geschah es einfach nur?

Plötzlich war da etwas. Eine Gestalt, eine Silhouette, verzerrt und verschwommen, aber sie war da. Er sah sie, spürte sie, hörte sie sogar. Er sah ihre Bewegungen, sah, wie sie sich durch die Dunkelheit bewegte, als würde sie schwimmen. Nur langsam verstand er, dass es ein Mensch war, der sich durch die Schwerelosigkeit zog, und dass es keine Silhouette im eigentlichen Sinn war, sondern vielmehr eine Ansammlung unzähliger … Signale in Form eines Körpers.

Jeder Narr hätte verstanden, dass diese Signale sein Ziel waren. Das, was er erreichen musste, das, was ihm irgendeine höhere Kraft zu verstehen geben wollte. Was das war oder ob sie sich überhaupt an Bord des Schiffs befand, wusste er nicht, doch er spürte, dass etwas mit ihm geschah, als er sie wahrnahm. Eine unvergleichliche Euphorie brach über ihn herein und ließ sein Herz schneller und schneller schlagen. Adrenalin und Endorphine rissen ihn mit sich mit. Die Gestalt kam immer näher und näher, zog sich durch eine ferne Schwerelosigkeit, und dann …

„William?“

Er riss die Augen auf und erblickte Marissa vor sich. Ihre Mundwinkel waren zu einem breiten Grinsen verzogen, und ihre Augen leuchteten beinahe. Und bevor er in irgendeiner Weise reagieren konnte, schloss sie ihn in ihre Arme – und riss ihn damit zurück in die Trance der Halluzination.

Aber diesmal war es anders.

William fühlte sich, als wollte sein Blut aus seinen Poren herausschießen, angezogen von Marissa, stärker als von einem Magneten. Jede Faser seines Körpers, jeder Gedanke und auch sonst alles, was ihn ausmachte, richtete sich auf sie aus, und er spürte, dass es ihr genauso erging. Aber da war noch mehr. Ein Gefühl, das sich jeder Beschreibung entzog. Es war, als würden tausend Seile aus seinem Körper hervorschnellen und sich mit ebenso vielen Seilen verbinden, die aus Marissa schossen. Seile, die sie beide miteinander verbanden und aneinander fesselten.

Und dann zerrissen.

William schnappte nach Luft, riss die Augen auf und sah sich hektisch um. Rings um ihn gab es nur kaltes Metall, irgendwo flackerte ein Licht. Er wollte sich bewegen, wollte sich aufsetzen, doch es gelang ihm nicht. Sein Kopf hämmerte und dröhnte, nur langsam begriff er, dass ihn ein dickes schwarzes Band an Brust und Beinen fixierte, aber nicht an den Händen.

Er setzte schon an, nach einem Verschluss zu tasten und sich zu befreien, hielt dann aber inne, als ihm bewusst wurde, wo er sich befand und was er fühlte. Das war nicht mehr das Schiff der Artytol und auch sonst kein Objekt im All, sondern ein Ort, an dem Schwerkraft herrschte. Er musste sich auf einem Planeten befinden oder auf einer Station wie Object Zero .

Was zum Teufel war mit ihm passiert?

„Hey“, ertönte neben ihm plötzlich eine schwache Stimme. Es war Marissa. Sofort drehte er den Kopf zu ihr. Genau wie er selbst war auch sie gefesselt, doch als er sie ansah, lächelte sie. „Na, wie geht’s?“

„Was ist hier los?“, fragte er, als er hinter ihr eine Reihe riesiger Maschinen erblickte, deren Zweck er nicht ausmachen konnte, doch die annähernd eine ganze Wand vereinnahmten.

Du bist los, denke ich“, antwortete sie leise. „Das war ein wilder Ritt.“

„Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Bist du dir sicher?“

Er kniff die Augen zusammen. „Was?“

Sie schwieg und drehte den Kopf weg – und obwohl das sicher nicht ihre Absicht gewesen war, spürte William auf einmal eine immense Verzweiflung über sich hereinbrechen. Was sollte diese kryptische Aussage? Warum redete sie nicht mit ihm? Verdammt, wo war er? Wie war er hierhergekommen? Wie …

Plötzlich Schmerz. Es fühlte sich an wie ein Keil, der zwischen seine Augen getrieben wurde und seinen Schädel innerhalb von Sekundenbruchteilen spaltete. Er schrie, wie er nie zuvor in seinem Leben geschrien hatte, warf sich gegen die Fesseln und hätte er gekonnt, hätte er seinen Kopf gegen die Wand geschlagen, wieder und wieder, einfach nur, um den Schmerz nicht ertragen zu müssen. Hunderte, nein, Tausende Bilder schossen durch seinen Verstand. Bilder, von denen er wusste, dass er sie nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, von denen er trotzdem verstand, dass sie real waren. Fremde Erinnerungen, die in seinen Verstand gehämmert wurden, Eindrücke, Schlussfolgerungen, Wissen. Eine Flut an Informationen brach über ihn herein, gnadenlos und grausam.

Und als er davon überzeugt war, keine Sekunde länger durchhalten zu können, als sein Verstand begann, in sich zusammenzufallen, hörte es auf. Zurück blieb nicht weiter als eine gähnende Leere, gefolgt von unvergleichlicher Taubheit.

„Jetzt können wir sprechen.“

Abermals schnappte William nach Luft. Das waren biochemische Signale der Arytol, doch es war kein Alien in der Nähe, das sie senden konnte. Ohnehin fühlten sie sich anders an als alles, was er bisher gespürt hatte. Hektisch sah er sich um, bis sein Blick schließlich abermals an Marissa hängenblieb. Jetzt erkannte er, dass sie ebenfalls gelb-roten Akzente an den Schläfen besaß.

„Marissa …“

„Hör einfach zu“, fiel sie ihm ins Wort, ohne ihn anzusehen. „Du wirst verstehen.“

„Es war ein langer Weg.“ Die Signale wurden stärker. Sie ließen ihn beinahe erzittern. „Aber wir waren noch nie so nah an unserem Ziel. Das haben wir euch zu verdanken.“

„Ich verstehe nicht“, flüsterte William und sah sich so gut um, wie er nur konnte. „Was …“

„Wir sprechen. Die Krankheit. Die Mikroorganismen. Wir möchten uns bedanken. Dafür, dass ihr das möglich gemacht habt. Dafür, dass du das möglich gemacht hast.“

Die Signale verblassten und William sagte nichts. Er wusste nicht, ob von ihm eine Antwort erwartet wurde oder nicht. Selbst wenn es so gewesen wäre, hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte.

„Die Suche nach kompatiblen intelligenten Spezies hat uns annähernd 200 Millionen Jahre eurer Zeit gekostet. Erst dann stießen wir auf die Arytol. Sie gaben uns zum ersten Mal seit so langer Zeit Hoffnung. Ihre einzigartige Physiologie ermöglichte uns die Kommunikation, doch sie haben nicht verstanden. Sie waren ein Werkzeug, aber nicht das, das wir uns erhofft hatten. Sie mussten fort von ihrer Welt, mussten weiterziehen und euch finden. Gemeinsam habt ihr die richtigen Schlüsse gezogen. Und ihr Menschen seid endlich in der Lage, uns zu verstehen.“

„Und … versteht ihr uns?“, flüsterte William.

„Das tun sie nicht“, antwortete Marissa leise. „Zumindest nicht so. William, diese Wesen, diese Mikroorganismen, sie haben dich und mich … verändert. Sie kommunizieren durch uns. Du empfängst meine Signale, ich deine. Was hier stattfindet, ist halb Monolog und halb Dialog. Du musst zuhören, dann wirst du begreifen.“