Kapitel Sechzehn

So sah also ein Planet aus, der starb. Eine Zivilisation, die verging. In seinen Jahren als Raumfahrer hatte William bereits kleine Stationen gesehen, die verlassen worden waren, Schiffe, deren Besatzung verstorben oder verschwunden war. Auch die Erinnerung an das große Sterben auf dem Mars war ihm deutlich in Erinnerung, aber selbst das wurde klein im Angesicht dessen, was auf der Erde geschehen war und weiterhin geschah.

Der Weg zur CEMA war nicht weit, keine Stunde Flug, doch selbst auf dieser Strecke sah er so viel Leid und Zerstörung, wie er es kaum für möglich gehalten hätte. Zahlen und Informationen waren immer abstrakt; etwas persönlich zu sehen, war stets etwas ganz anderes.

Auch wenn er nichts Genaues wusste, war er sich sicher, dass die Erde bereits in den letzten Monaten gelitten hatte, seit die Krankheit erstmals auf dem Mars ausgebrochen war. Vielleicht hatte die Bevölkerung hier ein paar Tage oder gar Wochen Schonfrist gehabt. Letztlich war auch sie war dezimiert worden. Und die Ereignisse der vergangenen Tage hatte ihr den Rest gegeben.

Sie überflogen leere Städte, die sich wie die Gerippe eines verendeten Tieres in den Himmel erhoben, Wolkenkratzer, die wie bleiche Knochen aus der Erde ragten. Auf den Dächern einiger weniger konnte er behelfsmäßige Camps erkennen, die letzten verzweifelten Versuche von Menschen, dem unausweichlichen Schicksal irgendwie zu entrinnen, vielleicht geboren aus Nichtwissen, vielleicht aus Hoffnung. Überlebende waren nirgendwo zu sehen.

Viele der Gebäude standen in Flammen; oft genug keine großen Brände, da die automatischen Eindämmungssysteme nach wie vor arbeiteten, aber dennoch kam niemand, um die Feuer vollständig niederzukämpfen. Defekte von Elektronik und Geräten, alltäglich und unvermeidbar. Jetzt verdeutlichten sie, wie fragil dieses System war, wenn niemand mehr übrig war, um all die unentwegt anfallenden Arbeiten zu erledigen. Selbst die titanischen Brücken über eine Meerenge, die Ari als Ärmelkanal benannt hatte, waren bereits kollabiert.

William wusste, dass ihn das Ausmaß der Zerstörung und das Sterben, das ihm zwangsläufig vorausgegangen sein musste, hätte bedrücken müssen, doch das tat es nicht. Was er sah, stimmte ihn melancholisch, aber es ging ihm nicht so nahe, wie es sollte. Da war eine Art Barriere zwischen ihm und diesem Planeten. Nicht nur, weil er ihn nicht als Heimat bezeichnete und die Menschen hier den Großteil seines Lebens als Feinde betrachtet hatte, sondern … weil er sie nicht mehr als seine Art betrachtete.

Er senkte den Blick und betrachtete die Handgranate, die er nach wie vor fest umklammert hielt. Sie war sein Anker; das, was ihn in dieser Welt hielt und daran hinderte, dem Ruf der Mikroorganismen zu folgen. Die letzte Grenze zwischen sich und einer Zukunft, die zu bestimmen nicht in seinen Händen lag. Ob seine Drohung mit Selbstmord wirkte oder nicht, ließ sich nur schwerlich absehen, doch da seine Schwester noch lebte, bestand vielleicht Grund zur Hoffnung.

„Wie lange?“, fragte er irgendwann über das Dröhnen des Antriebs hinweg und sah zu Ari am Steuer.

„Zehn Minuten bis Bodenkontakt“, antwortete sie. „Danach … Wir werden sehen.“

„Weißt du nichts Genaueres?“

„Die CEMA erstreckt sich über einen halben Kontinent. Von Antwerpen im Norden bis nach Zürich im Süden und von Paris im Westen bis nach Nürnberg im Osten. Das ist eine riesige Fläche, eine einzige, gigantische Stadt. Ich habe Informationen, aber ich kann nicht absehen, wie sich die Situation auf dem Boden gestalten wird.“

William schwieg und blickte erneut aus dem Fenster. Wo genau sie sich gerade befanden, wusste er nicht, und angesichts des endlosen Meeres aus Stahl und Beton, das sich unter ihnen in alle Himmelsrichtungen erstreckte, spielte das vermutlich ohnehin keine Rolle. Er hatte Geschichten gehört über die Megastädte der Erde, über ihre unermessliche Größe und die architektonischen Wunder, die man darin fand, und über die Milliarden Menschen, die in ihnen lebten. Sie mit eigenen Augen zu sehen, war ernüchternd. Vielleicht, weil er bereits erlebt hatte, zu welcher Schönheit dieser Planet in der Lage war, wenn man ihn nur ließ, und welche Wunder die Natur so selbstverständlich hervorbrachte.

War das vielleicht der Grund, warum die Menschen starben?

Schließlich setzte Ari zum Landeanflug an und steuerte das Schiff in Richtung eines der vielen Flugfelder, die die riesige Stadt immer wieder überragten. Landeflächen aus Stahl, die sich über Dutzende Kilometer erstreckten und von kolossalen Säulen getragen wurden, durchbrochen einzig von unscheinbaren Gitterstrukturen, die natürliches Licht zu den darunterliegenden Hochhäusern ließen.

Einige Dutzend kleiner Zivilschiffe befanden sich auf diesem Flugfeld, die meisten davon in Warteposition für den Start. Nur ein paar wenige sahen aus, als wären sie abgestürzt oder von ihren im Sterben liegenden Piloten mit einer Notlandung zu Boden gebracht worden. Sogar zwei große militärische Transporter befanden sich hier. Letzte Versuche einer Evakuierung?

Mehr unwillkürlich als absichtlich schüttelte William den Kopf. Das Sterben der Menschen und, wenn man Ari glaubte, auch der Arytol, war sinnlos. Ein willkürlicher Akt der Vernichtung, der keinen höheres Ziel mehr haben konnte. Er und Marissa waren bereits erschaffen worden, ihre Körper verändert und ihre Geister unter das Joch fremder Beeinflussung gespannt. Der Mikroorganismus hätte leichteres Spiel gehabt, hätte er all das nicht getan.

Also stellte sich die Frage, wieso es trotzdem geschehen war.

„Ich habe keine Ahnung, was uns da draußen erwartet“, sagte Ari schließlich, während sie die Triebwerke des Shuttles offline nahm. Anstatt ihre Gurte zu lösen und aufzustehen, beugte sie sich nach vorne und legte die Stirn auf die Armaturen. „Ich kann nicht mehr.“

„Ich weiß.“ William trat zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Ich wollte das alles nie“, hauchte sie. „Es tut mir so leid. Ich hätte nie …“

„Ich denke nicht, dass du etwas hättest ändern können. Was passiert ist, wäre mit dir oder ohne dich geschehen. Du hattest immer die besten Absichten und … ganz ehrlich? Ich habe dir immer wieder Vorwürfe gemacht. Ich dachte, du hast es so richtig versaut. Aber jetzt, nach allem, was geschehen ist? Ich glaube nicht, dass irgendjemand das hätte verhindern können. Es wäre passiert, auf die eine oder andere Weise. Wir haben versucht, das Richtige zu tun.“

„Macht es das besser?“

„Ich hoffe es.“

Sie lachte tonlos.

„Na, komm schon, steh auf.“

Sie holte tief Luft, nickte und folgte seiner Aufforderung. Gemeinsam verließen sie das Shuttle, nur um augenblicklich von drückender Hitze und beißendem Gestank begrüßt zu werden. Unwillkürlich schnappte William nach Luft, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, sich auf der Stelle zu übergeben oder zu versuchen, es zurückzuhalten. Die Hitze allein war schon schlimm genug, doch der Gestank von Millionen in den Häuserschluchten verrottender Leichen war unerträglich.

„Großer Gott“, entfuhr es ihm.

Marissa stützte sich keuchend an der Hülle des Shuttles ab und hielt sich mit der anderen Hand den Bauch, sank dann jedoch auf die Knie und übergab sich. William hätte es ihr am liebsten gleichgetan, doch er spürte längst, dass ihm diese Erleichterung nicht vergönnt war.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ihm zu verstehen gab, dass nichts mehr in ihrem Magen übrig war, was sie hätte erbrechen können, und als sich William vergewissert hatte, dass auch Ari abmarschbereit war, machte er sich auf den Weg zum nächstgelegenen Terminal. Er wusste zwar nicht, wie diese Landeflächen aufgebaut waren, aber irgendwo musste es einen Weg nach unten geben.

Er hatte sich erst wenige Meter vom Shuttle entfernt, als er auf einmal intensive biochemische Signale spürte, die vollkommen unvermittelt auf ihn einprasselten. Instinktiv schnappte er wieder nach Luft und wappnete sich gegen die Wucht, mit der sie gleich über ihn hereinbrechen mussten, doch nichts dergleichen geschah. Er spürte die Signale zwar durchgehend und so intensiv, als würde ihn ein Mensch aus nächster Nähe anschreien, aber gleichzeitig waren sie nichts weiter als undifferenziertes Hintergrundrauschen. Wie ein Bienenschwarm vielleicht.

„Ihr spürt das auch, oder?“, wollte er wissen und sah sich nach Marissa und seiner Schwester um. „Die Signale?“

„Ja“, antwortete Ari. „Versteht ihr sie?“

„Nein. Marissa?“

„Nein.“

William biss sich auf die Lippe. Er hatte längst eine Vermutung, woher diese Signale stammten: All die Toten in dieser Stadt waren infiziert. Jeder von ihnen trug den Mikroorganismus in sich; jeder war von ihm getötet worden. Dadurch verloren diese Organismen ihren Wirt und damit ihre Lebensgrundlage. Wenn sie also ein solches Opfer erbrachten, musste es einen guten Grund dafür geben.

Die Supersphäre, von der Ari gesprochen hatte.

„William?“, fragte sie plötzlich mit vorsichtiger Stimme.

„Ja?“

„Bevor wir das Schiff der Arytol verlassen haben, hat mir Wulff von eurem Gespräch berichtet.“

„Und?“

„Ich … will nicht, dass es so endet. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du es bereuen wirst. Er ist dein bester Freund. Er hat es nicht verdient, dass du ihn so … negativ in Erinnerung behältst. Es ist zu spät, um etwas daran zu ändern, wie ihr auseinandergegangen seid, aber ich will nicht, dass du den Rest deines Lebens wütend auf ihn bist.“

„Ich bin nicht wütend.“

„Sondern?“

„Ari, das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um …“

„Doch, William. Das ist es, und du weißt es.“

Er seufzte.

„Und du weißt auch, dass ich nicht lockerlasse.“

„Manche Dinge ändern sich nie, was?“

„Weich mir nicht aus!“

„Ich bin nicht wütend“, wiederholte er. „Aber ich hätte mir gewünscht, dass er einfach mit mir redet. Seit wir ihn auf Object Zero wiedergetroffen haben, weiß ich, dass etwas anders ist. Dass etwas passiert ist, während wir weg waren. Er war verschlossen und … aufbrausender als früher. Dann wurden wir wieder getrennt und das nächste Mal, als ich ihn sehe, steht er plötzlich in terranischer Uniform vor mir, und das, nachdem ich erfahren habe, dass er die Heimat der Arytol angegriffen hat.“

„Du kennst seine Beweggründe.“

„Ja, aber das ist nicht er, verdammt!“, zischte er. „Das ist nicht der Wulff, den ich kenne! Ich will nur wissen, was passiert ist!“

„Ich denke, es ist nicht diese eine Sache passiert“, antwortete Ari zögerlich. „Dieser eine Auslöser, den gab es nicht.“

„Weißt du mehr?“

„Nein. Er hat auch mit mir nicht gesprochen, und ich hatte weder Zeit noch Ressourcen, mich damit zu beschäftigen. Ich glaube, es wurde ihm zu viel, wie es uns allen zu viel wurde. Wulff war früher der Vorzeigeoffizier von TerraSec , der Strahlemann, wenn du willst, aber als es hart auf hart kam, ist er vor der Verantwortung weggelaufen und hat sich bei uns vor ihr versteckt. Vor ihr und der Vergangenheit. Ich denke, es ist einfach so viel passiert, dass er das nicht mehr rechtfertigen konnte.“

„Er hätte trotzdem einfach mit mir reden können“, erwiderte William. „Mehr wollte ich nie. Ich … Ari, falls wir diese Sache überleben und du ihn wiedersiehst, sag ihm das bitte. Sag ihm, dass ich nicht wütend bin, und dass ich seinen Mut respektiere, endlich für etwas einzustehen.“

„Warum sagst du ihm das nicht selbst?“

William senkte den Blick.

„Weil er nicht glaubt, dass wir weiter hier sein werden“, flüsterte Marissa.

„Ihr … Was?“

„Diese Sphären sind nicht nur irgendwelche kuriosen Phänomene“, sagte er tonlos. „Sie sind keine Anomalien oder bloße Objekte. Als ich mit Hope eine von davon … entschlüsselt habe, waren wir an einem anderen Ort. Ich weiß nicht, wie das funktioniert, verdammt, ich weiß nicht mal, wie das überhaupt möglich sein soll, aber …“

„… die Mikroorganismen wollten, dass wir herkommen“, führte Marissa seinen Satz zu Ende. „Sie wollen uns bei dieser Supersphäre wissen. Was dann geschieht, kann keiner von uns absehen, aber William glaubt nicht, dass wir hierbleiben werden. Und ich glaube es auch nicht.“

Ari blieb stehen. „Nein.“

„Ari …“

„Nein!“, wiederholte sie und schrie dabei beinahe.

„Ari, wir …

„Nein!“

„Lass mich reden, verdammt!“, brüllte Marissa zurück. „Denkst du, wir wollen das?! Denkst du …“

„Marissa“, fiel ihr William ins Wort und trat zu seiner Schwester. Tränen schossen ihr in die Augen. „Es reicht. Bitte.“

Die Söldnerin starrte ihn zornentbrannt an und sah aus, als hätte sie nichts lieber getan, als ihn anzuschreien, doch dann wurden ihre Gesichtszüge plötzlich weich, als ihr Blick auf die mittlerweile hemmungslos weinende Ari fiel. Ohne zu zögern ging sie zu ihnen und schloss sie beide in die Arme.

„Es tut mir leid, Ari“, flüsterte sie. „Ich würde mein Leben dafür geben, bei dir zu bleiben.“

„Ich will nicht, dass ihr geht“, wimmerte Ari mit erstickter Stimme. „Ich will nicht! Ich … Ich … Wieso habt ihr das nicht früher gesagt? Wieso … Aber … Ich …“

„Weil wir es selbst nicht wahrhaben wollten, glaube ich. Und …“ Marissa seufzte leise. „Und zumindest ich habe die Hoffnung noch nicht vollständig verloren, dass es vielleicht doch noch einen anderen Weg gibt.“

„Wieso kann ich das nicht?“

„Was?“

„Wieso verändere ich mich nicht? Wieso nehmen sie mich nicht? Ich … Ich will das nicht! Ich will nicht, dass ihr geht!“

„Wir auch nicht, Ari. Wir auch nicht.“

* * *

Der Weg durch die Häuserschluchten der CEMA fühlte sich an, als müsste William durch die Hölle gehen, um seiner eigenen Hinrichtung beizuwohnen. Eine nicht enden wollende apokalyptische Szenerie aus den schlimmsten Bildern, die sich ein Mensch vorstellen konnte. Die Barriere zwischen sich und seiner Umwelt, zwischen sich und der Spezies, als deren Angehöriger er einst geboren worden war, war längst kollabiert, sodass das Grauen ungefiltert an ihn heranreichte.

Die schiere Masse an Toten war nicht einmal das, was ihn so sehr mitnahm, und auch nicht die Leichenberge, die sich überall auftürmten. Nein, es waren die kleinen Szenen, die persönlichen Dramen, die sich abseits des großen Sterbens abgespielt hatten, unbemerkt von der Masse, vergessen vom Universum. Familien, die sich in Erwartung ihres Todes aneinanderklammerten, das Sterben von Alt und Jung, das selbst vor den Kleinsten nicht haltgemacht hatte. Sich auszumalen, welche Angst und Verzweiflung die Menschen in ihren letzten Stunden durchgestanden haben mussten, wissend, dass es kein Entkommen gab, war unerträglich. William schickte Stoßgebet um Stoßgebet zum Himmel, dass es den Menschen zumindest möglich gewesen war, ineinander eine Form von Trost zu finden.

Er hatte sich das Ende der Menschheit immer anders vorgestellt. Untergangspropheten hatten diesen Tag über Jahrhunderte hinweg und vielleicht sogar noch länger stets in den grellsten Farben und schrillsten Tönen ausgemalt. Das große Sterben, das fulminante Ende, das den Untergang der bis vor Kurzem einzigen bekannten intelligenten Spezies im Universum einläutete. Letzte, heroische Schlachten, ein Kräftemessen am Lebensabend der Existenz, ein letztes Aufbäumen und Aufbieten all dessen, worauf diese Spezies stets so stolz gewesen war.

All das hatte er nie geglaubt.

Er war stets davon überzeugt gewesen, dass es leise enden würde, unbemerkt von allem und jedem. Ein langsames Absinken in die Stille des Vergessens. Auf jede Hochphase und Blüte jedes noch so gigantischen Imperiums folgte seit Jahrtausenden ein langsamer Untergang, gespeist aus viel zu vielen Faktoren, um den einen Auslöser zu benennen. So hatte er es sich auch für sein Zeitalter ausgemalt. Der langsame Zusammenbruch der Systeme, das schrittweise Versagen all der so wichtigen Errungenschaften. Ein zwangsläufiger Vorgang, akzeptiert von den Menschen, wissend, dass die Welt so groß geworden war, dass ein Einzelner sie nicht mehr retten konnte.

Aber dass es so zu Ende gehen würde?

Wie viele Menschen noch lebten, wusste er nicht. Ari war hier, vielleicht lebten ja sogar Wulff und Henderson, sogar Hope und die Arytol? Womöglich redete er sich das nur ein, weil er sich nicht eingestehen wollte, dass das Ende tatsächlich schon da war; weil er nicht riskieren wollte, Ari allein in einem toten Sonnensystem zurückzulassen.

Doch selbst wenn es so gewesen wäre, selbst wenn es Überlebende gab und das Sterben endlich endete – reichte das, um eine neue Zukunft aufzubauen? Reichte das, damit sich die Menschheit als Spezies erholen konnte? Oder war das bloß ein letzter Atemzug vor dem unvermeidlichen Ende?

Was hier geschah, war der letzte Akt von Williams Geschichte. Zumindest der letzte auf diesem Planeten und in den Ausläufern des Lebens, das er einmal gelebt hatte. Vielleicht würde ein weiterer Akt folgen, nachdem er die Sphäre gefunden hatte, vielleicht auch nicht, aber was ihn anging, waren beide Szenarien okay. Nicht, weil er sich vollends mit ihnen abgefunden hatte, sondern weil er akzeptiert hatte, dass ihm keine Wahl blieb.

Wie ferngesteuert suchte er sich einen Weg durch die Häuserschluchten der CEMA , vorbei an unzähligen Toten. Er wusste, wohin er gehen musste, kannte den Weg, ohne ihn je zuvor gesehen zu haben. Das Hintergrundrauschen der biochemischen Signale war nach wie vor kaum zu verstehen, doch mittlerweile begriff er, dass er es gar nicht verstehen musste. Es war keine Aussage, keine spezifische Information, sondern vielmehr eine Art von Echolot, das ihn an sein Ziel führte. Millionen toter Körper als Leuchtfeuer inmitten eines Meeres aus Stahl und Beton.

Noch immer hielt er die Handgranate fest umklammert, bereit, sie beim ersten Anzeichen einer direkten Gefahr für seinen freien Willen oder das Leben seiner Schwester zu zünden. Wie lächerlich das war, war ihm vollauf bewusst. Nicht nur, weil der bloße Gedanke daran, so viel Macht angesichts des kollektiven Kontrollverlusts einer ganzen Spezies für sich in Anspruch zu nehmen, eine Anmaßung sondergleichen darstellte, sondern auch, weil ihm zunehmend Zweifel daran kamen, ob er dazu überhaupt in der Lage sein würde, wenn es darauf ankam.

Trotzdem. Diese Granate und die theoretische Möglichkeit, sein Leben zu beenden, gaben ihm Kraft, weiter durchzuhalten.

„Es ist nicht mehr weit“, sagte er schließlich. „Wir sind bald da.“

„Ich habe nachgedacht“, antwortete Marissa nur.

„Worüber?“

„Über alles.“ Sie schnaubte bitter. „Aber vor allem über uns. Über uns drei. Was Ari vorhin gesagt hat, lässt mich nicht los. Also, warum der Mikroorganismus sie nicht nimmt.“

William schwieg.

„Wenn wir es zurückrechnen, kommen wir nur auf dich als gemeinsamen Nenner.“

„Auf mich?“

„Es hat Menschen und Arytol gebraucht, die Sphäre zu entschlüsseln, aber danach waren unsere Alien-Freunde nicht länger nützlich. Hope hat sich ebenfalls verändert, aber nicht ansatzweise so gravierend wie du oder ich. Allerdings wart nur ihr beide in dieser Sphäre. Ich habe nichts getan, und trotzdem hat es mich erwischt. Das hatte also nichts unmittelbar mit diesem Ding zu tun.“

„Worauf willst du hinaus?“

„Ich denke, es war und ist eine willentliche Entscheidung der Mikroorganismen. Und damit sind diese Veränderungen bei Ari reproduzierbar. Es macht keinen Sinn, dass es nur uns beide treffen soll. Falls uns diese Scheißviecher tatsächlich zur Zucht einer neuen Spezies benutzen wollen, wäre es sinnvoller, hätten sie mehr Menschen umgewandelt. Nicht nur wegen der Zeit; was wollen sie denn tun, wenn einer von uns die Treppe runterfällt und sich das Genick bricht? Dann war’s das.“

„Das bedeutet, darum geht es ihnen nicht“, meinte Ari.

„Zumindest nicht ausschließlich, nein.“

„Wir spekulieren wieder“, warf William ein. „Das bringt nichts.“

„Das mag sein, aber … Warte mal!“

William blieb stehen und sah sich nach ihr um, nur um gerade noch zu sehen, wie ihre Hand knapp unterhalb seines Gesichts vorbeischoss und seinen Arm packte, während sie ihm mit der anderen die Handgranate entriss, den Stift zog und sie gegen ihren Kopf presste.

„Bist du vollkommen wahnsinnig?!“, rief er und wich instinktiv von ihr zurück. „Wirf das Scheißteil weg!“

„Solange ich den Schlagbolzen drücke, passiert nichts“, erwiderte sie. „Ich bin es leid, mich an der Nase herumführen zu lassen, und ich werde sicher nicht akzeptieren, Ari hier zurückzulassen, nur weil irgendwelche Weltraumbakterien meinen, mich verarschen zu können! Wir machen die Sache jetzt ganz einfach: Ich setze eine Frist von einer Stunde. Entweder sie verändern Ari, damit sie uns begleiten kann, oder ich puste mir den Schädel weg!“

„Wir wissen nicht einmal sicher, ob sie uns nicht auch als Mensch hätte begleiten können!“

„Willst du dieses Risiko tatsächlich eingehen?“

„Ich weiß es nicht! Das ist auf jeden Fall eine saublöde Frage von der Frau, die sich gerade eine scharfe Handgranate an den Kopf hält!“

„Hättest du sie wirklich hier zurückgelassen?!“

„Ich sage nicht, dass ich das will, aber ich will sicher nicht, dass sie ebenfalls zu einer Marionette dieser Scheißviecher wird!“

Ari trat zwischen sie und stieß sie grob voneinander weg. „Wie wäre es, wenn ihr einfach mich nach meiner Meinung fragt?“

„Ich … Sorry, Ari. Tut mir leid.“

„Schon okay, aber du kapierst, in was für eine beschissene Situation du nicht nur dich selbst, sondern uns alle gerade bringst, oder? Ich sehe es zwar wie du und denke, dass diese Mikroorganismen sehr präzise darüber entscheiden können, wer von uns wie verändert wird, aber gleichzeitig haben sie trotzdem einen Grund, ausgerechnet euch beide zu nehmen und nicht noch mehr Menschen. Jetzt zwingt ihr sie, von ihrem Plan abzuweichen und mich mit hineinzuziehen, ohne dass einer von uns weiß, welche Folgen das haben wird. Und wenn sie nicht darauf eingehen, pustest du dir entweder den Schädel weg, womit alles umsonst war, oder sie sehen, dass ihr eure Drohungen sowieso nicht wahr macht, was vermutlich schlecht für euch beide ausgeht.“

„Spitze, Mari“, raunte William.

Sie schwieg.

„Uns bleibt etwa eine Stunde“, fuhr Ari fort. „Ich weiß nicht, ob das genügt, aber vielleicht passiert davor ja irgendetwas anderes. Was mich angeht, würde mich mittlerweile nicht mehr besonders viel wundern.“

„Ich habe es nur gut gemeint“, flüsterte Marissa beinahe verzweifelt.

„Ich weiß“, antwortete Ari. „Glaub mir, ich weiß das. Weiter.“

Mit diesen Worten marschierte sie los. William folgte ihr, ebenso Marissa, deren Gesicht mit jedem Schritt bleicher wurde. Er konnte sie nur zu gut verstehen und wusste, dass sie diese Eskalation mit den besten Absichten herbeigeführt hatte, aber das änderte nichts an allem, was Ari gesagt hatte –, und daran, wie gering die Chancen standen, dass ihr Erpressungsversuch Erfolg hatte.

Er selbst fühlte sich seltsam … unentschlossen. Ein Teil von ihm wünschte sich von ganzem Herzen, dass es klappte und Ari ihn und Marissa weiter begleiten konnte. Dass er seine Schwester nicht zurücklassen musste, nach allem, was geschehen war, und sich mit ihr dem stellen konnte, was kommen musste. Aber ein anderer Teil hoffte, dass es nicht so weit kommen und ihr dieses Schicksal erspart bleiben würde.

Je weiter sie sich durch die CEMA vorarbeiteten, desto dichter lagen die Toten, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie ihrem Ziel immer näher kamen. Nahezu jeder von ihnen lag mit dem Kopf voraus in die Richtung, in die sie gingen, und viele von ihnen hatten sogar die Hände ausgestreckt, als hätten sie in ihren letzten Augenblicken versucht, irgendetwas zu erreichen. So, wie auch schon die Toten auf Object Zero , nur in viel größerem Ausmaß.

Aber da war noch etwas: Je weiter sie sich vorarbeiteten, desto undeutlicher wurde das Hintergrundrauschen der biochemischen Signale. William war eigentlich fest davon überzeugt gewesen, dass es immer intensiver werden würde; vielleicht sogar, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem er sich ihm nicht mehr entziehen konnte. Aber da war einfach gar nichts.

Sie hatten gerade eine zwölfspurige Kreuzung zwischen vier der größten Hochhäusern erreicht, die William je gesehen hatte, als auf einmal ein tiefes, pulsierendes Echo durch die Häuserschluchten hallte. Nachdem sie sich so lange Zeit durch fast völlige Stille bewegt hatten, kam dieses Geräusch plötzlich und unerwartet – und es ließ William auf der Stelle zusammenzucken. Es klang wie der Alarm eines Raumschiffs, nur viel kräftiger. Wie das Horn eines alten Containerschiffs vielleicht. Doch es war kein gleichbleibender Ton, sondern er wurde immer höher, bis er schließlich in dreimaligem, schrillem Piepsen endete und von vorne begann.

Diese Abfolge von Geräuschen ertönte dreimal, bevor sie so unvermittelt wieder verstummte, wie sie gerade eben ertönt war. Für ein paar Sekunden legte sich erneut Stille über die tote Stadt, doch William wusste, dass sie nicht bleiben würde. Und tatsächlich: Von überallher hallten jetzt ratternde Echos zu ihnen, ein mechanisches Knurren, dunkel und bedrohlich.

Dann brach die Hölle los.

Der schmale Streifen Himmel, der zwischen den Dächern der Wolkenkratzer zu sehen war, wurde von unzähligen Lichtblitzen erfüllt, die selbst das Tageslicht dunkel erscheinen ließen. Manche von ihnen sahen aus wie Tausende winziger Meteore, die in die Erdatmosphäre eindrangen, andere wie Schlangen aus Feuer, die ansetzten, das Firmament zu verschlingen. Es war ein unglaubliches Schauspiel, von dem William erst nach ein paar Sekunden begriff, dass es das Abwehrfeuer unzähliger automatischer Geschütze war, die irgendwo über den Dächern der Stadt installiert worden waren und nun etwas ins Visier nahmen, das er nicht sehen konnte.

Aber das er sehr wohl hörte.

Das Echo eines Objekts, das mit rasender Geschwindigkeit die Luft zerschnitt, hallte durch die Straßen, und was es auch war, es musste riesig sein. Ein Raumschiff, wahrscheinlich sogar ein Kreuzer oder ein vergleichbar großer Schiffstyp. Tausende und Abertausende Tonnen Stahl, die vom Himmel fielen. Mit jeder Sekunde wurde das Geräusch lauter, bedrohlicher, und bald schon übertönte es sogar das Heulen der Geschütze.

Jede Faser von Williams Körper verlangte, dass er sich in Sicherheit begab, dass er Schutz suchte, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Es war zwar schwer, durch all die Echos etwas Genaueres auszumachen. Trotzdem war er sich sicher, dass das Schiff über diesen Teil der Stadt hinwegschießen würde. Und selbst wenn nicht, hätte es hier unten reichlich wenig gegeben, um sich zu schützen.

Plötzlich erschien ein dunkler Schatten am Himmel über ihren Köpfen, groß genug, um alles um sie herum kurzzeitig in völlige Finsternis zu tauchen. Obwohl das Schiff nur für wenige Sekunden zu sehen war, erkannte William, dass es kein Bautyp der Menschen war – was bedeutete, dass es ein Schiff der Arytol sein musste.

Was um alles in der Welt hatten sie hier verloren?

Schließlich erstrahlte ein Lichtblitz am Himmel, heller noch als das Feuer der Geschütze, dicht gefolgt von einem tiefen Grollen und einer Druckwelle, die stark genug war, um William in die Knie zu zwingen. Instinktiv hielt er die Luft an und schlang die Arme um seinen Kopf, um sich vor all den Glassplittern zu schützen, die wie Schrapnelle durch die Luft schossen. Eine Staubwolke umfing ihn, begleitet vom unverkennbaren Gestank von Feuer und Qualm.

Er hörte, dass Ari irgendetwas schrie und Marissa zurückbrüllte, doch was sie sagten, verstand er nicht. Denn just in diesem Augenblick brach eine Kaskade an biochemischen Signalen über ihn herein, die ihn vor Intensität keuchen ließ, obwohl er alles daransetzte, nicht zu atmen. Sie besaß eine solche Wucht, dass ihm schwarz vor Augen wurde und seine Ohren zu dröhnen begannen.

Trotzdem verstand er die Signale: ‚Stopp‘.