Kapitel Siebzehn

Das Schiff der Arytol hatte sich wie ein riesiger Pfeil durch die CEMA gebohrt, und obwohl es auf seinem Weg Dutzende Hochhäuser mit sich gerissen und sogar die Trägerkonstruktion einer Landefläche gefällt hatte, schien es selbst weitestgehend intakt geblieben zu sein. Einige Aufbauten waren zwar abgerissen, die Hülle selbst jedoch nahezu unbeschädigt. Ein Koloss von Hunderten Metern Länge und dreieckig-asymmetrischer Grundform, dessen bläuliches Metall wie ein Kristall inmitten des allgegenwärtigen Graus der toten Stadt schimmerte.

Noch immer durchzuckte das Rattern vollautomatischer Geschütze in unregelmäßigen Abständen die Luft, und manche der Salven schossen dicht über dem Wrack hinweg, doch das waren bloß Fehlfunktionen. Systeme, die sich nach wie vor im Kampf glaubten, und deren Zielerfassungssensoren Phantomen nachjagten. Es war ein trauriges Echo der verblassten menschlichen Zivilisation, wenn ihre Kriegsmaschinen das Letzte waren, das noch funktionierte.

Genau dieser Umstand machte die Situation extrem gefährlich.

Obwohl die meisten Geschosse irgendwo am Himmel verschwanden, prallten immer wieder einzelne von ihnen an Trümmern und anderen Objekten ab, nur um als Querschläger durch die Luft zu zischen und jede Bewegung im freien Feld lebensgefährlich zu machen. Dazu kam, dass der Absturz des riesigen Schiffs die Statik der verbliebenen Gebäude quasi nichtig gemacht hatte. Wolkenkratzer mit Hunderten Stockwerken neigten sich bedrohlich weit zur Seite und ließen einen Regen aus Glasscherben zu Boden prasseln; aus manchen von ihnen stürzten sogar zentnerschwere Betonbrocken in die Tiefe.

Das Rattern der Geschütze und das schmetternde Knallen, mit dem die Brocken auf den Boden prallten, hätten genügt, um der Szenerie eine angemessene Klanguntermalung zu verschaffen, doch das mal leise, mal viel zu laute Knarzen, mit dem sich der Stahl der Hochhäuser verbog, hallte ebenfalls durch die Stadt, als wollte die Metropole einen Todesschrei ausstoßen. Dazu kamen die nach wie vor mit aller Kraft durch die Straßen peitschenden biochemischen Signale der Arytol.

William beobachtete die Szenerie aus dem relativen Schutz eines auf der Seite liegenden Transporters, hinter dem er in Deckung gegangen war. Er atmete schnell und schwer, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen, und es gelang ihm kaum, seine Hände ruhig zu halten. Immer und immer wieder ballte er sie zu Fäusten beim Versuch, nicht zu zittern. Seine Anspannung angesichts dessen, was ihm bevorstand, war schon schlimm genug, und die Signale der Arytol gaben ihm den Rest.

Er wusste, dass es Marissa und Ari nicht anders erging. Marissa umklammerte die Handgranate mittlerweile mit beiden Händen; vermutlich war es ihr zu riskant, sich nur auf eine zu verlassen.

Doch es half alles nichts: Ewig konnten sie sich nicht hinter dem Transporter verstecken. Sie mussten weiter – und das bedeutete in diesem Fall, genau auf das Schiff der Arytol zuzulaufen. Zwischen den einstürzenden Wolkenkratzern hindurch, durch den Regen aus Glas und Beton. Vielleicht hätte es einen anderen Weg gegeben, mit Sicherheit sogar, aber William sträubte sich instinktiv dagegen. Er konnte sich selbst nicht erklären, wieso; es war wie ein instinktiver Widerwille, aber selbst wenn es ihm gelungen wäre, diese Abneigung zu überwinden, hätte er nicht gewusst, wie lange er den Signalen der Arytol standhalten konnte. Schon jetzt kostete es ihn viel zu viel Kraft, sie zu ertragen.

„Weiter!“, knurrte er schließlich, stand auf und trat aus seiner Deckung. Sofort fühlte er sich, als würden die Signale um ein Vielfaches stärker auf ihn einschlagen, doch das konnte nicht sein. Einbildung, nichts weiter.

Mit einem kurzen Blick zur Seite vergewisserte er sich, dass Ari und Marissa ihm folgten, und lief los. So dicht wie nur möglich hielt er sich an der Fassade eines sich in die Straße neigenden Wolkenkratzers, um dem Regen aus Splittern und Trümmern zu entgehen. Jeder einzelne Schritt ließ Glas unter seinen Stiefeln knarzen.

Und jeder einzelne Schritt kostete ihn mehr Kraft als der vorherige.

Nein, das war keine Einbildung. Die Signale der Arytol wurden stärker, je näher er dem Schiff kam, und das in einem Ausmaß, das er niemals erwartet hätte. Die Anweisung, sofort stehen zu bleiben, peitschte ihm so vehement entgegen, dass es ihn alle Willenskraft kostete, ihr zu widerstehen.

„Warum tun sie das?“, presste Ari hervor. „Wieso wollen sie, dass wir aufhören?!“

William warf ihr einen kurzen Blick zu, antwortete aber nicht. Er wusste es nicht. Vielleicht hatten die Arytol gute Gründe, sie aufzuhalten, vielleicht nicht, aber er war zu weit gekommen, um ihrer Aufforderung zu folgen. Sie konnten nicht von ihm erwarten, dass er ohne Erklärung stehen blieb und nichts tat, konnten nicht von ihm verlangen, dass er noch mehr Zeit verschwendete.

Immer weiter arbeiteten sie sich voran. Bald lagen nur wenige Dutzend Meter zwischen ihnen und dem Schiff. William wusste, dass er weitergehen musste, wusste, dass die Supersphäre zum Greifen nah war. Das konnte kein Zufall sein. Die Arytol waren ihretwegen hergekommen. Wegen ihm und Marissa oder wegen der Sphäre. Vielleicht wegen allem. Aber wieso?

Er schnappte nach Luft. Jeder Atemzug fiel ihm schwer und jetzt, da er dem Schiff so nah war, konnte er fast nicht mehr klar sehen. Ari hinter ihm ächzte; er konnte sich kaum ausmalen, wie es für sie sein musste. Sein Körper hatte sich verändert, um diese Signale zu verstehen und mit ihnen umzugehen, doch Aris Implantate übersetzten sie nur. Sie durften hier nicht länger bleiben als unbedingt nötig, mussten weiter, bevor es zu spät war. Sie …

Plötzlich ertönte unmittelbar am Arytol-Schiff ein ohrenbetäubender Knall, dicht gefolgt von einem nicht minder lauten Zischen. Nur für wenige Sekunden, dann brach ein Teil der Hülle keine zehn Meter von ihnen entfernt aus dem Rumpf und schlug krachend zu Boden. Augenblicklich schoss die fremdartige Melasse der Arytol aus den verbliebenen Hüllensegmenten und versiegelte die Bruchstelle Meter für Meter, aber bevor sie vollständig verschlossen war, sprangen fünf Arytol aus dem Schiff.

Einer von ihnen war Hope.

„Stopp!“, verlangte das Alien und kam langsam auf sie zu, während die anderen vier rings um sie herum Position bezogen und drohend ihre Vorderläufe hoben. Hope selbst war verletzt; er hinkte und seine Rüstung wies einige tiefe Schrammen auf. „Keinen Schritt weiter!“

„Was soll das?!“ William ging ihm entgegen, auch wenn das bedeutete, sich dem Schiff zu nähern. „Ich will sofort wissen, was hier los ist!“

„Die Krankheit tötet uns!“ Hope bäumte sich vor ihm auf. „Sie hat die Heimat vernichtet! Sie hat mein Volk getötet! Das hier sind alle, die übrig sind! Ihr dürft nicht weitergehen!“

„Wenn wir es nicht tun, war alles umsonst!“

„Dann muss es umsonst sein!“ Hope spie diese Signale mit einer derartigen Kraft aus, dass William unwillkürlich zurückwich. „Sie darf nicht gewinnen! Ich dachte, es ist uns gelungen, sie zu verstehen; ich dachte, wir finden einen Weg zur Koexistenz, aber sie benutzt uns nur! Ich weiß, was mit euch geschehen ist, und ich spürte ihren Ruf genau wie ihr, aber ihr dürft das nicht tun! Die Toten müssen Gerechtigkeit erfahren!“

„Tun wir nichts, sterben unsere beiden Spezies.“ Ari trat vor und hob beschwichtigend die Hände. „Hope, niemand von uns wusste, was passieren wird, aber William und Marissa …“

„William und Marissa werden sterben, so wie wir alle, sobald sie ihre Nützlichkeit erfüllt haben!“, fiel er ihr ins Wort und machte mit seinem verletzten Vorderlauf eine zitternde, ausladende Bewegung. „Ihr seht die Toten! Unsere Heimat sieht genauso aus! Unsere Körper sind bloß Gefäße, in denen sich der Organismus vor seinem Ende versteckt hat! Wir standen zwischen ihm und dem Aussterben! Und jetzt erntet er uns! Wisst ihr, was die Sphären sind? Sie sind nichts weiter als Ansammlungen der Mikroorganismen! Billiarden über Billiarden von ihnen! Unsere Schiffe und die Heimat sind verloren; die Arytol wurden ausgelöscht wie die Menschen! Und das nur, weil sie es wollen! Wir dürfen das nicht zulassen! Ihr dürft das nicht zulassen!“

Noch während er redete, taumelten zwei der anderen Arytol plötzlich zur Seite; ihre Bewegungen waren unkoordiniert und erratisch; ihre Beine zuckten wie die einer sterbenden Spinne. Und dann, so plötzlich, wie es gerade erst angefangen hatte, rissen sie die Mäuler auf, brachen zusammen und blieben regungslos liegen. Eine dunkelgraue Substanz triefte zwischen ihren Zähnen hindurch. Auch die verbliebenen beiden Arytol ereilte wenig später das gleiche Schicksal, bis schließlich nur noch Hope übrig war.

„Als wir uns auf den Weg zur Erde gemacht haben, befanden sich 400 von uns an Bord dieses Schiffs“, sagte er. „Jetzt bin ich der Letzte. Meine Spezies ist tot. Ich werde nicht zulassen, dass der Mikroorganismus gewinnt.“

„Hope …“, flüsterte Ari nur.

„Geht“, befahl der Arytol. „Geht oder ich werde euch töten. Es ist besser, wenn unsere beiden Spezies sterben, als wenn der Mikroorganismus gewinnt.“

„Du verlangst Unmögliches.“ William schüttelte den Kopf. „Hope, wir haben so viel durchgestanden! Wir wissen nicht, was uns erwartet! Was, wenn es eine Rettung für Menschen und Arytol gibt?“

„Wen willst du retten, William? Ein paar Dutzend Menschen? Eure Spezies ist genauso verloren wie meine. Wir hätten niemals herkommen dürfen.“

„Hope, wenn wir jetzt gehen …“, setzte Ari an, doch noch während sie sprach, sprang er plötzlich auf sie zu und schnappte nach ihr. Kein Angriff – wenn er gewollt hätte, hätte er sie erwischt –, doch eine Warnung.

„Geht jetzt!“

„Nein!“

„Zwingt mich nicht, euch zu töten!“ Hope stieß ein drohendes Zischen aus. „Ich habe alles verloren, und ich will nicht auch euch verlieren, aber ich werde es tun, wenn es sein muss! Die Krankheit darf und wird nicht gewinnen!“

„Wir werden nicht gehen“, erwiderte William. „Wir haben auch alles verloren, aber Marissa und ich …“

„Ihr seid dumm, nichts weiter! Blind und dumm! Ihr weigert euch, zu sehen, was wirklich ist, und klammert euch an menschlicher Narren-Hoffnung fest!“

„Das hat keinen Sinn“, sagte Marissa auf einmal, stellte sich zwischen sie und hob die Handgranate. „Du gehst jetzt, Hope.“

„Ich fürchte den Tod nicht!“

„Geh!“

„Wie, denkt ihr, sieht eure Zukunft aus?!“, fragte der Arytol mit stechend intensiven Signalen. „Was, denkt ihr, wird geschehen? Diese Krankheit hat eure Spezies ausgelöscht und meine! Wollt ihr zwischen Toten und Ruinen leben? Als Könige über Trümmer? Selbst wenn sie euch leben lässt, was für ein Leben würdet ihr führen? Wollt ihr, dass eure Kinder Sklaven sind, bloße Wirte für eine Krankheit, die genau so lange leben dürfen, bis das Maximum ihrer Nützlichkeit erreicht ist, nur um dann geerntet zu werden wie alle anderen?!“

„Ich weiß es nicht!“, brüllte Marissa. „Ich weiß es nicht, verdammt! Ich habe seit Monaten keinen verfickten blassen Schimmer, warum ich überhaupt etwas tue, aber ich tue es, weil das Nichtstun noch viel beschissener wäre! Ich habe auch nur versucht, das Richtige zu tun! Wir alle haben das! Wir wusste nicht, was passieren wird, aber … Gott im Himmel, du kannst doch nicht ernsthaft verlangen, dass wir das alles jetzt einfach wegwerfen!“

Hope erwiderte nichts – und William sah sofort, dass er sich zum Angriff bereit machte. Winzigste Bewegungen seines Körpers verrieten ihn. Ohne zu zögern, stürzte er sich auf ihn, riss ihn mit sich zu Boden und versuchte, ihn unten zu halten, doch obwohl er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, gelang es Hope, sich aus seinem Griff zu befreien. Sofort schlug er nach ihm; William warf sich zur Seite und wich ihm aus, doch jetzt, da der Arytol frei war, sah er keine Chance, ihn zu überwältigen.

So schnell er nur konnte, kämpfte er sich auf die Beine und wich einen Schritt zurück, nur um kurz darauf erneut zur Seite zu springen, als sich Hope auf ihn stürzte und die Luft um ihn herum unter seinen rasenden Hieben zerriss. Hektisch sah sich William nach irgendetwas um, das er als Waffe benutzen konnte. Eine Metallstrebe, ein Betonbrocken, aber da war nichts. Verdammt, er …

Plötzlich ein Schrei. Ari entriss Marissa die Handgranate, ließ den Schlagbolzen los und stürzte sich auf Hope.

„Ari, nein!“, brüllte William, doch es war zu spät.

Die Wucht der Explosion riss ihn von den Füßen. Er schlug ungebremst auf, aber so gut er nur konnte, ignorierte er den Schmerz, kämpfte sich abermals auf die Beine und rannte zu seiner Schwester. Sie lag vor der Hülle des Schiffs, Arme und Beine abgerissen und mit offener Bauchdecke. Ihr Gesicht war verbrannt, und dunkelrotes Blut tropfte von ihren Lippen.

Sie war tot.

William blinzelte und sank zu Boden. Wie in Trance streckte er die Hand nach ihr aus, hatte aber keine Ahnung, wo er sie berühren sollte. Er wollte sie hochnehmen, wollte sie in seine Arme schließen und festhalten. Er konnte nicht. Schließlich fasste er einfach nur unter ihren Kopf, beugte sich nach vorne und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Vielleicht war es besser so.

Er sah zu Marissa, die mit versteinertem Gesichtsausdruck neben ihm stand, und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber auch das gelang ihm nicht. Es gab nichts, was dieser Situation oder seiner Schwester hätte gerecht werden können. Und er wusste, dass er auch nichts ändern konnte, wenn er trauerte. Er wollte weinen; selbst dazu fehlte ihm die Kraft.

Schließlich stand er auf und sah in den immer wieder von Geschützfeuer zerrissenen Himmel. Eine menschengemachte Hölle, ein Inferno bar jeden Sinns und jeder Beschreibung. Er wollte daran glauben, dass Ari jetzt irgendwo da oben war, in einer anderen, vielleicht besseren Welt, in einer Form der Existenz, die er nicht verstand. Er wollte von ganzem Herzen daran glauben, dass es so war. Dass alle dort waren, die bereits gestorben waren, und nur er und Marissa übrig waren, hier, auf diesem verlorenen Planeten.

Ein seltsames Gefühl kam über ihn. Keine Trauer, zumindest nicht im eigentlichen Sinn, eher eine Art von Melancholie. Die unausgesprochene Erkenntnis, dass er und Marissa jetzt wirklich die Letzten waren. Als Ari bei ihnen gewesen war, war sie der Anker gewesen, die Verbindung zwischen ihnen und der Menschheit. Sie war der Grund gewesen, darauf zu hoffen, dass auch andere überlebt hatten, doch dieser Grund war nun weg und mit ihm die Hoffnung.

Sie waren allein. Es gab keine Menschen mehr und keine Arytol. Nur ihn und Marissa. Vielleicht hatte Hope recht und es wäre wirklich besser gewesen, wären sie gestorben. Wahrscheinlich wäre das sogar der leichtere Weg gewesen, bedachte man, was ihnen noch bevorstand. Und vielleicht wäre es sogar richtig gewesen, die Krankheit nicht gewinnen zu lassen und ihr den letzten Triumph zu entziehen, sie mit sich in den Untergang zu reißen. William war versucht, diesen Weg zu gehen, und es hätte vermutlich nur wenige Minuten gedauert, eine Möglichkeit zu finden, sein eigenes Leben zu beenden.

Nur wäre dann wirklich alles umsonst gewesen.

* * *

Da war sie. Die Supersphäre. Der Grund für das Sterben zweier Spezies. Der Grund, warum sie hier waren. Der Grund, warum Ari und in letzter Konsequenz auch Hope gestorben waren. Der Grund, warum alles geschehen war. Keine 500 Meter von dem Krater entfernt, den das Schiff der Arytol bei seinem Absturz in den Boden gerissen hatte. Sie befand sich an keiner besonderen Stelle, nicht exponiert oder hervorgehoben. Sie thronte nicht über der toten Stadt und war auch an keinem in irgendeiner Hinsicht nennenswerten Punkt entstanden, sondern einfach inmitten einer Straße zwischen zwei Hochhäusern. Willkürlich, generisch.

William saß im Schneidersitz auf dem Boden und sah ihr entgegen, verlor sich in ihrer unendlichen Schwärze. Als Ari zum ersten Mal den Begriff ‚Supersphäre‘ ausgesprochen hatte, hatte er geglaubt, dass sie Dutzende oder vielleicht sogar Hunderte Meter messen würde, doch das tat sie nicht. Ihr Durchmesser betrug vielleicht zehn Meter. Wenn überhaupt. Der Gedanke daran, dass so viele Menschen ihretwegen gestorben waren, war kaum auszuhalten.

„Hier.“ Marissa reichte ihm eine Flasche Bier und setzte sich neben ihn. „Trink.“

„Ich will nicht.“

„Was haben wir noch zu verlieren?“

„Ich will wirklich nicht, Marissa.“

„So habe ich es mir immer vorgestellt. Das Ende.“

„So?“

„Also nicht so so, aber so. Ich wusste immer, dass ich die Letzte sein würde. Und dass ich dabei etwas trinken würde.“

„Das denkst du dir gerade aus.“

„Nein. Versprochen. Jetzt trink endlich.“

William seufzte und führte die Flasche an seine Lippen. Wie anders Bier auf der Erde doch schmeckte.

„Einmal.“

„Was?“

„Einmal“, wiederholte Marissa. „Einmal habe ich Ari betrunken gesehen. Vor drei Jahren. Auf Perseus . Ihr hattet euch mal wieder gezofft, und sie hat sich so volllaufen lassen, dass sie nicht mehr hätte gehen können, hätte es Schwerkraft gegeben. Ich war zufällig auf der Station.“

„Ich wusste nicht, dass sie sich jemals betrunken hat.“

„Sie hat mich schwören lassen, dir nichts zu erzählen.“

„Wieso erzählst du mir das dann?“

„Weil es sich richtig anfühlt. Weil ich glaube, dass wir unsere Lieben nach dem Tod feiern und in Geschichten bei uns halten sollten, anstatt sie zu vergessen. Menschen sind gut darin, den Gedanken an den Tod von sich wegzuschieben, aber wir nehmen uns damit so viel Freude. Trauer tut nur weh, wenn wir es zulassen. Wir haben so viel mehr von ihr, wenn wir die Freude und die Dankbarkeit empfinden, jemanden gekannt und mit ihm gelebt zu haben.“

„Ich hätte nie gedacht, so etwas einmal von dir zu hören.“

„Ich auch nicht.“

„Woher der Sinneswandel?“

„Nach allem, was geschehen ist, wäre ich dumm, nicht so zu denken.“ Sie deutete mit ihrer Flasche in Richtung der Sphäre. „Ich bin mir sicher, dass ich heute hier sein soll, aber ich weiß nicht, wieso.“

„Wie meinst du das?“

„Ich kann mir vorstellen, hindurchzugehen, aber auch, mir irgendwo jede Menge Sprengstoff zu suchen und sie in die Luft zu jagen.“

„Macht dir das keine Angst?“

„Die Explosion? Du weißt, wie sehr ich Explosionen liebe.“

„Nein, die Einsamkeit. Wir beide sind die letzten Menschen.“

„Wir sind keine Menschen mehr.“

„Du weißt, was ich meine. Weich mir nicht aus.“

„Nein, William.“ Sie machte eine kurze Pause und trank einen Schluck. „Nein, das macht mir keine Angst. Vielleicht bin ich aber auch einfach zu blöd dazu. Ich weiß es nicht.“

„Das denke ich nicht.“

„Dann habe ich einfach nur keine Angst. Willst du reden?“

„Wir reden doch schon, oder habe ich da etwas falsch verstanden?“

Sie lachte leise. „Ich meine, wegen Ari.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Ich habe bereits um sie getrauert und … Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich sowieso nicht daran geglaubt, dass sie mit uns kommt. Das ist nur eine andere Form des Abschieds. Ich …“

Seine Stimme versagte.

„Lass dir Zeit“, hauchte Marissa. „Ich gehe nirgendwohin.“

Er klammerte sich an seiner Flasche fest. „Ich glaube, sie wollte sterben.“

„Ja, das denke ich auch. Für uns. Damit wir unseren Weg gehen können ohne das Wissen, sie zurückgelassen zu haben. Ich … bin dankbar, dass ich so viel Zeit mit ihr verbringen durfte.“

„Ich auch.“

„Und Hope …“

„Hope hat getan, was er tun musste“, flüsterte er. „Ich hätte nicht gedacht, dass er noch lebt, aber nach allem, was die Arytol durchstehen mussten, seit sie das Sonnensystem erreicht haben, konnte er nicht anders. Ich kann ihn verstehen. An seiner Stelle hätte ich nicht anders gehandelt.“

„Ja, vermutlich.“

William blickte auf sein Bier. Er hatte erst die Hälfte davon getrunken, aber er brachte keinen weiteren Schluck hinunter. Also stellte er die Flasche ab und sah zur Sphäre.

„Wollen wir?“

„Wir müssen, oder?“

„Wir können noch hierbleiben.“

„Um was zu tun?“ Marissa seufzte. „Wir schinden nur Zeit.“

„Manchmal braucht man das.“

„Ja, aber vielleicht nicht ausgerechnet jetzt.“ Sie warf ihre Flasche gegen die Wand eines halb kollabierten Hochhauses, wo sie zersprang. „William, ich habe keine Ahnung, was uns erwartet, aber bevor wir gehen, will ich, dass du weißt, dass ich die letzten Monate nicht bereue. Mit niemandem hätte ich einen solchen Wahnsinn lieber durchgestanden als mit dir und Ari. Und falls wir sterben, denke ich, dass das ein würdiger Abschluss war. Für uns beide.“

„Gleichfalls, Marissa.“ Er nahm ihre Hand. „Es war schön, dich wiederzusehen. Komm.“

Er stand auf und zog sie mit sich hoch, nur um tief durchzuatmen und auf die Sphäre zuzugehen. Sie befand sich nur knapp 50 Meter vor ihnen, und gerne hätte er von sich behauptet, dass ihm der Weg deutlich länger vorkam, doch das tat er nicht. Die 50 Meter fühlten sich an wie fünf, und bevor er sich versah, stand er direkt vor ihr. Jetzt, da er sie direkt vor sich sah, wirkten ihre Ausmaße, die er vorhin noch als so winzig und unscheinbar empfunden hatte, mit einem Mal, als stünde er einem ganzen Planeten gegenüber.

Ein letztes Mal sah er zu Marissa und nickte ihr zu, ehe er die Hand ausstreckte und die Sphäre berührte. Er wusste, dass das eine Reise ohne Wiederkehr war, der letzte Abschnitt seines Weges. Und bedachte man, wie alles damals angefangen hatte, mit dem fremden Passagier an Bord seines Frachters, fiel es ihm schwer zu glauben, dass er heute tatsächlich hier stand und tat, was er tun musste.

Wie schon damals an Bord des Arytol-Schiffs spürte er auch jetzt, wie sich das Blut in seinen Fingern sammelte und wie sein gesamter Körper zu einem gewaltigen Magneten in Form dieser Sphäre gezogen wurde. Das gleiche Gefühl der Vollkommenheit kam über ihn, als ihn die Masse der Sphäre zermalmte und die Welt um ihn herum in sich zusammenfallen ließ. Erneut wurde sie binnen Sekundenbruchteilen alles, sie kam näher und näher, obwohl sie längst bei ihm war, baute sich zu immer gewaltigerer Größe auf und verschlang ihn vollständig.