Kapitel Achtzehn

Als William zu sich kam, stieg ihm der Geruch von Asche in die Nase, beißend und intensiv. Der Geruch verbrannter Zivilisation, zerstörter Träume und zerfallener Illusionen. Der Geruch, der zwangsläufig das Ende von allem einläutete. Er bemächtigte sich seines Körpers und drang so unbarmherzig in ihn ein, dass sich William mit jedem Atemzug fühlte, als würde er selbst zu Asche werden. Als würde sein Fleisch verkohlen, während er lebte.

Doch das tat es nicht.

Langsam und widerwillig öffnete er die Augen. Er wollte nicht sehen, was ihn erwartete, wollte nicht sehen, was um ihn herum war, doch er musste. Ob das eine willentliche Entscheidung war oder nicht vielmehr ein Drang, den zu unterdrücken er nicht imstande war, konnte er nicht sagen. Aber als er sie schließlich geöffnet hatte, sah er Grau.

Grau, wohin er auch blickte.

Zögerlich drehte er den Kopf in die Richtung, von der er glaubte, dass es unten war, und erblickte das Relief seines eigenen Gesichts in zentimetertiefer Asche, grau in grau und so detailliert, dass er meinte, sein eigenes, verbranntes Negativ vor sich zu sehen. Er streckte die Arme aus und drückte sich hoch, doch das Gewicht seines eigenen Körpers genügte, um ihn augenblicklich tiefer einsinken zu lassen.

Panik stieg in ihm auf, als die Asche unaufhaltsam näher kam, und er sah sich schon in ihr ertrinken und ersticken, als seine Finger endlich auf etwas Festes stießen und sein Absinken bremsten. Sofort zog er seine Beine an, bis auch sie Halt fanden, und setzte sich auf.

Doch obwohl er klar sehen konnte, verstand er nicht, was er erblickte. Alles um ihn herum war grau. Grau in Grau, einzig Konturen und Schatten hoben sich ab, doch die Asche war so allgegenwärtig, dass sie nah und fern verschwimmen und Dinge, die eigentlich voneinander getrennt waren, eins werden ließ. Selbst der Himmel über seinem Kopf, falls das denn der Himmel war, war grau.

Erst nach und nach wurde ihm klar, dass er Ruinen erblickte. Ruinen, die seit Urzeiten hier stehen mochten oder vielleicht erst seit gestern. Die Zeit schien diesen Ort verlassen zu haben, es gab keinen Fortgang und keine Veränderung, nur Stillstand. Ein Gemälde, in die Zeit selbst gebrannt, vom Rest des Universums getrennt und darauf wartend, dass die Atome selbst zerfielen, die das Mauerwerk der Existenz ausmachten.

Manche dieser Ruinen erhoben sich Hunderte oder gar Tausende Meter hoch in den aschgrauen Himmel,, mal geschwungen, mal gerade, mal in sich gedreht, verzerrte und verformte Zeugnisse einer längst vergangenen Ära. Ohne Fortgang und Bewegung, ohne Wind und Wetter, ohne Veränderung, gab es keine Kraft, die sie fällen konnte, und auch sonst nichts, was sie aus ihrem zeitlosen Dasein reißen konnte. Es war, als würde ein einziges herabrieselndes Sandkorn reichen, um alles hier zum Einsturz zu bringen.

Er war dieses Sandkorn.

William sah an sich hinab. Sein nackter Körper war durchgehend von einer dünnen Schicht Asche überzogen, die sich selbst dann nicht von ihm löste, als er die Hände hob und versuchte, sie abzustreifen. Sie untermalte das Gefühl, selbst zu Asche zu werden.

Aber irgendetwas war anders. Etwas stimmte nicht. Sein Körper fühlte sich deplatziert an, falsch, irgendwie unscharf. Er konnte das Gefühl nicht so recht fassen und es erst recht nicht in Worte fassen, aber es war da und dominierte jeden Gedanken und jeden Herzschlag. Was war mit ihm geschehen?

Er sah sich um und suchte die Weite dieses Ortes nach einem Anzeichen für Marissa ab. Er hatte gesehen, dass sie die Sphäre just in dem Moment berührt hatte, als auch er seine Hand in ihre unendliche Schwärze geführt hatte, und auf seiner Reise durch die Dunkelheit hatte er auch gespürt, dass sie ihn begleitete, so, wie er damals Hope gespürt hatte.

Aber dennoch war sie jetzt weg.

Unsicher stand er auf und ging ein paar Schritte. Der Boden unter seinen Füßen gab bei jedem Schritt nach, und er sank bis weit über die Knöchel in die Asche ein, doch jedes Mal traf er unter ihr auf festen Boden. Bald schon fühlte er sich sicher genug, um schneller zu gehen.

Dieser Ort war ihm vollkommen fremd, aber trotzdem fühlte er sich bekannt an, vertraut sogar, wie eine lange hinter sich gelassene Heimat, in die man zurückkehrte, nur um sich plötzlich wieder an jede Straße und jede Ecke zu erinnern. Es war ein seltsames Gefühl, aber was wunderte ihn das? Dieser Ort selbst war seltsam, genau wie alles, was geschehen war, und die Art, wie er hergekommen war.

„Hallo?“, rief er schließlich in die Zeitlosigkeit hinein, nur um augenblicklich erschrocken zurückzuweichen. Er war so fest davon ausgegangen, seine eigene Stimme als Echo zu hören, doch die Asche dieser Welt verschluckte sie so schnell, dass es sich anfühlte, als würden die Worte verstummen, noch bevor er sie aussprach.

Wo war er hier?

William sah sich um und versuchte, irgendwo eine Wegmarke oder etwas anderes zu finden, an dem er sich orientieren konnte; etwas, das Abwechslung in die allgegenwärtige Monotonie brachte, doch da war nichts. Ganz gleich, wohin er auch blickte, alles sah gleich aus.

War er deswegen hergebracht worden?

War dafür Ari gestorben?

Er lief los. Wohin er ging, spielte keine Rolle, und auch nicht, was ihn erwartete oder was er sich erhoffte. Aber es war alles, was er tun konnte, wollte er nicht an Ort und Stelle verharren, zu Asche werden und wie alles andere in dieser Welt das Ende der Zeit erwarten.

Während er ging, wurde ihm zum ersten Mal das wahre Ausmaß der Monumente bewusst, die sich rings um ihn erhoben. Das waren nicht nur Säulen, sondern aschgraue Titanen, die Dutzende und oft sogar Hunderte Meter im Durchmesser maßen und ein Vielfaches davon in der Höhe. Aus was sie bestanden, wusste er nicht, denn wenn er die Hände ausstreckte, um sie zu berühren, fasste er nur in Asche. Asche, von der er befürchtete, dass sie herabstürzen und ihn unter sich begraben würde, wenn er zu energisch versuchte, eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Immer wieder stieß er auch auf Vertiefungen in der Asche, manche davon unförmig und willkürlich, andere so gleichmäßig, dass sie den Eindruck erweckten, Spuren zu sein. Spuren von denen, die vor ihm hier gewesen oder vielleicht sogar hergekommen waren. Wer das war, wann das gewesen war oder ob er sie treffen würde, war nicht abzusehen, einzig das Wissen, dass er nicht allein das Schicksal dieser zu Asche gewordenen Welt teilte, bereitete ihm ein bisschen Trost.

War das hier vielleicht die Heimat des Mikroorganismus? Der Ursprung der Krankheit?

William blickte abermals an sich hinab. Sein Körper fühlte sich fremd und unscharf an. Nur langsam ließ das Gefühl nach. Damals, als er mit Hope zusammen durch die erste Sphäre gereist war, war er in einem neuen Körper aufgewacht, oder hatte sich zumindest so gefühlt. Auch diesmal war es nicht anders, doch auf seiner Brust sah er nach wie vor die farblichen Akzente, die die Veränderungen seines Körpers belegten.

Er war hergebracht worden. Nicht, weil er ein Mensch war oder einmal gewesen war, und auch nicht, weil er den selbstmörderischen Mut und die wirklichkeitsverneinende Dummheit besessen hatte, die Sphäre mit Hope zu entschlüsseln, sondern weil er verändert worden war. Weil er war, was er war, geschaffen und geformt von den Mikroorganismen. Aber wozu? Es gab hier keinerlei biochemische Signale und auch sonst nichts, mit dem er in irgendeiner Hinsicht hätte interagieren können. Einfach nur Asche.

Wurde er verrückt?

Nein. Nein, das konnte er sich nicht vorstellen, oder zumindest fühlte es sich nicht so an. Wahrscheinlich genau das, was er glauben würde, wenn er tatsächlich den Verstand verlor. Trotzdem. Er glaubte nicht, dass er das Problem war, sondern die Welt um ihn herum. Vielleicht war das doch nicht die Heimat des Mikroorganismus. Vielleicht war er einfach gestorben, so willkürlich, wie er auf diesen Pfad und in diese verfluchte Odyssee gezwungen worden war, und das hier war seine persönliche Hölle. Der Ort, an dem er für alle Ewigkeit büßen musste für alles, was er getan hatte. Oder vielmehr für alles, was er nicht verhindert hatte.

Er hatte gerade eine Hunderte Meter hohe Säule umrundet, als er vor sich plötzlich eine aschgraue Steppe erblickte, eine bis an den Horizont reichende Ebene, grau in grau wie alles andere, ein Meer aus Asche, von dem er genau wusste, dass es ihn verschlingen würde, setzte er auch nur einen Fuß hinein. Er wollte sich schon umdrehen und einen anderen Weg gehen, als er auf einmal eine Gestalt erblickte, weit weg, irgendwo da draußen. Eine Silhouette, die sich langsam durch die Asche bewegte.

Das konnte nur Marissa sein.

So schnell er nur konnte, rannte er los und kämpfte sich durch das graue Meer, doch wie in einem richtigen Ozean versank er auch jetzt, kaum hatte er sich den Fluten der Ascheebene überantwortet. Er sank bis zu den Knien ein, stürzte vornüber, tauchte mit seinem ganzen Körper in die graue Masse, nur um sich sofort wieder nach oben zu kämpfen und um jeden Atemzug zu ringen. Doch als er auftauchte, war die Gestalt verschwunden.

Genau wie die Säule, an der er gerade noch vorbeigegangen war.

„Nein!“, entfuhr es ihm. „Nein, nein, nein!“

Hektisch, panisch, drehte er sich um, wieder und immer wieder, starrte verzweifelt in jede Himmelsrichtung und versuchte, irgendetwas am Horizont zu erkennen, doch da war nichts. Nur das unendliche Grau eines Meeres aus Asche.

Nein.

Nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Das war unmöglich. William hielt sich beide Hände vor den Mund und schrie in seine Handflächen. Er wusste, dass er klar bei Verstand war, dass es keinen Grund gab, warum er plötzlich verrückt geworden sein sollte. Und das konnte nur bedeuten, dass er wirklich gestorben war. Dass das seine Hölle war. Dass er bezahlen und büßen musste. Er …

Plötzlich schnürte sich seine Kehle zu. Nein, nicht nur seine Kehle. Sein Mund verschloss sich, genau wie seine Nase. Haut wucherte über die Öffnungen, ließ Lippen und Nasenlöcher gleichermaßen verschwinden. Seine Lunge verlangte weiter nach Luft. Luft, die er nicht mehr atmen konnte. Panisch fasste er an sein Gesicht, aber es gab nichts mehr, was er ertasten konnte, nur glatte Haut. Er versuchte, seine Fingernägel durch sie hindurch zu graben und ein Loch in sein Gesicht zu reißen, doch es gelang ihm nicht, denn auch seine Finger verschmolzen auf einmal miteinander, bis nur noch flossenartige Auswüchse an beiden Seiten seines Körpers übrig blieben.

Das alles, während seine Beine zerrissen und sich in unzählige einzelne, dünne Stränge aufteilten; wild peitschende Anhängsel, über die er keinerlei Kontrolle besaß. Sie ließen ihn abermals das Gleichgewicht verlieren und vornüber in die Asche eintauchen. Diesmal versank er nicht in ihr, weil er es nicht mehr konnte. Dafür spürte er, wie sich sein Körper vorwärtsbewegte, und das mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Wie ein Pfeil glitt er durch die Asche, angetrieben von einem Körper, der nicht länger der seine war, und der sich seiner Kontrolle entzogen hatte.

Das war der Moment, in dem William jedweden Widerstand aufgab. Der Moment, in dem er akzeptierte, endgültig der Spielball von Mächten geworden zu sein, die er nicht verstand und womöglich niemals verstehen würde. Vielleicht war das ein Teil seiner ewig währenden Strafe, vielleicht bloßer Hohn. Es machte keinen Unterschied.

Von den Fäden eines unsichtbaren Puppenspielers gezogen, bewegte er sich durch die Asche. Er – oder vielmehr das, was aus ihm geworden war. Das Gefühl der Unschärfe und der Fremdheit war nicht mehr auszuhalten und doch musste er genau das tun, schlicht und ergreifend, weil es keine Alternative gab. Weil er die Kontrolle verloren hatte. Weil er sich selbst verloren hatte.

William wusste nicht, wie lange er unterwegs war; die Zeit hatte jedwede Bedeutung verloren, und mit seiner Akzeptanz dessen, dass er ohnehin nichts ändern konnte, verschwanden Reue und auch jede andere Emotion. Zurück blieb nichts als unendliche Leere. Eine Leere, von der er nur hoffen konnte, dass sie ihn irgendwann vollständig verschlang.

Irgendwann, nachdem er sich Tage, Wochen oder vielleicht sogar Jahre gereist war, spürte er, dass seine Reise zu Ende ging. Er tauchte aus der Asche auf, sah den grauen Himmel und spürte, wie Arme und Beine, Mund und Nase und letztlich auch die Kontrolle über seinen eigenen Körper zu ihm zurückkehrten. Wieso das geschah und warum ausgerechnet jetzt, vermochte er nicht zu sagen, doch bevor er über diese unerwartete Wendung der Ereignisse nachdenken konnte, sah er sich plötzlich einem riesigen Gebäude aus schwarz glänzendem Stein gegenüber. Ein Gebäude, das er nur als Tempel bezeichnen konnte. Vielleicht als Kathedrale. Jede andere Bezeichnung wäre nur Spott gewesen.

Riesige, flache Stufen, jede von ihnen Dutzende Meter breit und beinahe halb so tief, führten über Tausende von Metern auf einen Berg, auf dem sich der eigentliche Tempel befand. Der Weg wurde gesäumt von Statuen aus blutroter Asche, die unablässig ihre Form änderten. Götzen, zum Leben erweckt von uralter Technologie.

Das waren die gleichen Silhouetten, die er in der ersten Sphäre gesehen hatte.

Plötzlich ertönte neben ihm ein Geräusch. Ein ersticktes Würgen, ein verzweifeltes Keuchen. Sofort sah er sich um und erblickte Marissa, die zitternd aus der Asche kroch. Ihr Körper zuckte und bebte; vor seinen Augen setzten sich ihre Beine neu zusammen und knöcherne Auswüchse auf ihrem Rücken verschwanden in ihrem Leib, bis sie schließlich vollständig menschlich aussah.

„Marissa.“

William kniete sich zu ihr, fasste sie an den Armen und half ihr hoch. Er traute sich nicht, seine Stimme über ein einfaches Flüstern zu heben. Angesichts der Totenstille an diesem Ort klang selbst das wie ein Donnerschlag.

„William.“ Sie sah ihn an, doch in ihrem Blick lagen weder Erleichterung noch Freude, sondern nur abgrundtiefes Bedauern. „Du bist hier.“

„So wie du.“

„Ich hatte gehofft, allein zu sein.“

„Und ich hatte es befürchtet.“

„Dann ist das also nicht die Hölle?“

„Wenn sie es ist, teilen wir sie uns.“

Sie entzog sich seinem Griff und sah hoch zum Tempel. „Dahin müssen wir also gehen?“

„Ja.“

„Denkst du, dann nimmt dieser Albtraum ein Ende?“

„Ich hoffe es“, antwortete er. „Ich … habe dich gesucht, als ich zu mir gekommen bin.“

„Ich weiß. Ich dich ebenfalls. Was glaubst du, wie lange wir bereits hier sind?“

„Es fühlt sich an wie Jahre.“

„Ja. Aber ich fürchte, es sind erst Tage. Ich … verstehe das nicht, William.“

Er sah auf das unendliche Meer aus Asche, das hinter ihm lag. „Ich auch nicht, aber ich hoffe, wir finden in diesem Tempel Antworten.“

* * *

Wieder veränderten sich ihre Körper, wieder wurde ihr Fleisch von unsichtbaren Mächten verformt, wieder wurde ihnen die Kontrolle über sich selbst genommen, und doch war es anders als im Aschemeer. Diesmal kamen die Veränderungen nicht überraschend und waren sie auch nicht so umfassend wie beim letzten Mal. Und vor allem verstand William nun, dass das nicht geschah, um ihn und Marissa zu quälen, sondern um ihnen den Weg zu ebnen und es ihnen zu ermöglichen, die vor ihnen liegenden Herausforderungen zu meistern.

Seine Lunge, gequält von der Asche, die er mit jedem einzelnen Atemzug in sie sog, wurde stärker; er spürte, wie sie sich wappnete für den Weg, den er bewältigen musste, und er spürte auch, wie sich sein restlicher Körper auf das Erklimmen der Stufen vorbereitete. Es gab nichts, was er dagegen tun konnte, und so ließ er es zu, genau wie Marissa, die mit fest geschlossenen Augen neben ihm stand und versuchte, sich ihren Ekel nicht anmerken zu lassen. Doch sie scheiterte.

„Es wird vergehen“, sagte er, als er spürte, dass die Veränderungen nachließen.

„Wird es das?“, erwiderte sie und öffnete die Augen, ehe sie über ihren nackten Bauch tastete und tief Luft holte. „Ich glaube nicht. Wir sind bloß Knetmasse, William, atmender Lehm. Sobald wir getan haben, weswegen wir herkommen mussten, werden sie uns endgültig zu ihren Spielbällen machen.“

„Dann lassen wir das nicht zu.“

„Und wie? Ich habe schon alles versucht, als ich nach dir gesucht habe. Bevor ich in das Aschemeer gestürzt bin. Ich habe mir selbst die Kehle aufgerissen, nur um zu sehen, wie meine Haut heilt. Ich habe eine Säule erklommen und mich in die Tiefe gestürzt, aber dann sind Klauen aus meinen Händen gewachsen und haben sich an ihr festgekrallt. Wir können nicht sterben, und sobald wir es versuchen, übernehmen sie die Kontrolle.“

Sie sah zum Tempel. „Wir sind weniger als Tiere, und ich glaube, je früher wir das begreifen, desto besser.“

Mit diesen Worten lief sie los und überwand die ersten Stufen mit wahnwitziger Geschwindigkeit. William folgte ihr und schloss binnen Sekunden zu ihr auf. Seine Beine trugen ihn mit unvergleichlicher Kraft, und ein einzelner Atemzug genügte ihm, um Dutzende Meter zurückzulegen. Trotzdem würde der Aufstieg viele Stunden kosten. Selbst mit den Veränderungen war der Weg beschwerlich und weit.

Die Statuen aus blutroter Asche, die die Stufen zu beiden Seiten flankierten, beobachteten sie. Wächter einer längst verlorenen Zeit, Riesen, geboren aus dem, was von einer Zivilisation übrig geblieben war. Jeder von ihnen drehte den Kopf zu ihnen, wenn sie sich ihm näherten, folgte ihnen mit toten Augen, während sie ihn passierten, und sah ihnen noch lange nach, nachdem sie weitergegangen waren.

Sie waren die Abbilder einer uralten Spezies. Jene, die William in der ersten Sphäre gesehen hatte. Humanoide Wesen, groß und schlank, mit langen Armen und noch längeren Beinen, die Gesichter breit und flach, die Köpfe gehörnt wie bei Stieren. Androgyne Kreaturen, weder männlich noch weiblich, und trotzdem – oder vielleicht sogar deswegen – von einer nicht zu leugnenden Ästhetik.

„Sie beobachten uns“, sagte Marissa.

„Es sind nur Statuen.“

„Das ist kein Widerspruch.“

„Meinst du?“

„Wir werden enden wie sie.“ Sie hielt einen Moment lang inne und betrachtete eine der roten Statuen.

William antwortete nicht, sondern legte bloß eine Hand auf ihre Schulter, um sie zum Weitergehen zu bewegen. Er wusste genau, was sie meinte: Wie kam eine Spezies, die offensichtlich eine unfassbare Glanzzeit erlebt hatte, dazu, als parasitärer Mikroorganismus zu enden, der nur überlebte, indem er sich über die gesamte Galaxie ausbreitete und seit unzähligen Jahrmillionen versuchte, einen passenden Wirt zu finden? Was musste geschehen, um eine solche Degeneration zur Folge zu haben?

Er kannte die Gründe für diese Entwicklung nicht, war sich aber vollends bewusst, wie das möglich war: Diese Wesen besaßen eine unerreichte Kenntnis über Genetik. Sie konnten Lebewesen infizieren und nach Belieben töten, konnten den evolutionären Werdegang ganzer Spezies beeinflussen und sogar individuelle Körper binnen weniger Augenblicke nach ihren Bedürfnissen verändern. Waren sie vielleicht ihrer eigenen Forschung zum Opfer gefallen, ihrem eigenen Griff nach einer besseren Zukunft?

Im wahrsten Sinne des Wortes unermüdlich erklommen sie Stufe um Stufe und kamen dem Tempel dabei immer näher. Warum der Weg so lang war, konnte sich William nicht erklären, doch er vermutete, dass es eine religiöse Komponente gab; dass diejenigen, die ihn gegangen waren, vielleicht sogar eine Art von Demut lernen sollten, dass sie an den Rand des Machbaren und darüber hinaus gebracht werden sollten, um sich dem, was sie im Inneren des Tempels erwartete, nur kraftlos und erschöpft stellen zu können.

Vielleicht war es auch eine Prüfung. Er und Marissa konnten diesen Weg nur bewältigen, weil sie abermals verändert worden waren, genau wie sie diesen Ort überhaupt erst hatten finden können, nachdem sie gegen ihren Willen durch das Aschemeer gebracht worden waren. Vielleicht konnten nur diejenigen den Tempel erreichen, in deren Körper die Saat der Veränderung gepflanzt worden war, und die das Opfer brachten, sich dieser Technologie auszusetzen.

Schließlich erreichten sie den Tempel, und erneut musste William feststellen, dass die Zeit, die er mit Marissa während des Aufstiegs zu diesem Ort verbracht hatte, vollkommen bedeutungslos wurde. Zwischen ihrem Aufbruch und dem jetzigen Zeitpunkt hätten ein paar Sekunden oder Äonen vergehen können und es hätte für sie oder diese Welt keinen Unterschied gemacht.

Bereits aus der Ferne hatte der Tempel Ehrfurcht gebietend gewirkt; ein Monument, das alles überragte, nicht durch seine exponierte Position am Ende dieses langen Aufstiegs, sondern durch seine bloße Existenz. Und jetzt, aus der Nähe betrachtet, wurde selbst dieser Eindruck von seinen Superlativen in den Schatten gestellt. Nicht in Bezug auf seine Größe, sondern auf die Bedeutung, die seine Mauern stumm in die ewige Stille des Planeten hinausschrien.

Auch hier gab es blutaschene Statuen, doch anders als auf dem Weg nach oben standen sie nicht frei, sondern unmittelbar vor den schwarzen Mauern dieses Bauwerks, und die Gestalten, die sie abbildeten, hielten allesamt die Arme erhoben, um das sie überragende Dach abzustützen. Die Gesichter der dargestellten Wesen wirkten gequält und gepeinigt.

„Das Tor zur Hölle“, sagte Marissa und trat auf die erste der insgesamt fünf Stufen, die zu einem kreisrunden Durchgang führten, hinter dem bloß Dunkelheit auf sie wartete. „Hätte ich es jemals beschreiben müssen, hätte ich es nicht besser hingekriegt als das.“

„Es tut mir leid“, flüsterte William.

„Was?“ Sie sah sich nach ihm um. „Was tut dir leid?“

„Dass ich dich in diese Sache mit hineingezogen habe. Ich weiß, wie sehr du darunter leidest.“

„Die Alternative wäre gewesen, dass du allein hier wärst.“

„Ja.“

„Das wäre eine beschissene Alternative.“

„Finde ich nicht.“

„Doch, weil ich dann mittlerweile mausetot wäre.“ Etwas wie ein Lächeln huschte über ihre Lippen, aber es wirkte unehrlich und fragil. „William, ich … will nicht behaupten, dass ich keine Angst habe, denn das wäre gelogen, und von allen Dingen, die uns erwarten, halte ich den Tod für mit das Beste, was uns passieren könnte. Aber das bedeutet nicht, dass ich …“

Sie lachte leise.

„Was ist?“

„Ich wollte den Satz eigentlich mit ‚nicht hier sein will‘ zu Ende bringen, aber das wäre eine sehr ungeschickte Formulierung gewesen.“

„Ja, stimmt wohl.“

„Ich will nicht hier sein, aber ich wollte auch nicht, dass du das allein erleben musst. Deswegen denke ich, dass es okay ist. Also, wollen wir?“

William nickte und schloss zu ihr auf. Gemeinsam überwanden sie die letzten Treppenstufen und traten durch den kreisrunden, pechschwarzen Eingang. Bislang hatte diese aschene Welt keine Temperatur gekannt; es war weder warm noch kalt gewesen, sämtliche Existenz in einem gefühllosen Dasein gefangen, doch jetzt schlug ihnen eine Kälte entgegen, die William erschaudern ließ.

Es dauerte mehr als nur ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit angepasst hatten. Als er schließlich wieder etwas sehen konnte, erblickte er eine lange, vollkommen leere Halle vor sich. Die Wände ragten so hoch, dass er die Decke nicht sehen konnte, und ein seltsam farbloses Licht kroch über den Boden wie eine hauchdünne Wasserschicht. Es existierten keinerlei Formen oder Konturen; nicht einmal an den Wänden waren irgendwelche Unregelmäßigkeiten zu sehen. Alles bestand aus einer einzigen glatten Fläche –, und am Ende der Halle standen zwei schwarze Würfel.

William wollte etwas sagen, aber obwohl er spürte, dass sich seine Lippen bewegten, verließ kein Laut seine Kehle – und als er den Kopf zu Marissa drehte, sah er, dass auch sie redete, ohne ein einziges Wort von sich zu geben. Ihre Blicke trafen sich, woraufhin sie vehement den Kopf schüttelte und die Schultern hängen ließ, bevor sie ihm mit einem Fingerzeig bedeutete, dass die beiden Würfel ihr Ziel waren.

Als ob das nicht klar gewesen wäre.

Als sie sich nun abermals auf den Weg machten, fühlte sich William, als wäre der freie Raum, durch den sie sich bewegten, zäh und undurchdringlich. Seine Bewegungen wurden nicht direkt behindert, aber es fiel ihm nicht so leicht wie früher, Arme und Beine zu bewegen, und auch beim Atmen hatte er deutlich größere Mühe, Luft zu bekommen –, das alles, während er sich nicht entscheiden konnte, ob tatsächlich völlige Stille herrschte, oder ob es in dieser Halle nicht eher so laut war, dass sein Verstand den Lärm nicht mehr begreifen konnte.

Dann endlich erreichten sie die beiden Würfel. Genau wie alles andere in dieser Halle bestanden sie aus einem schwarzen, vollkommen glatten Material und schienen mit dem Boden selbst verschmolzen zu sein. An der ihnen zugewandten Seite der Würfel befanden sich jeweils zwei Löcher, breit genug, um die Arme hineinzustecken, und ein Stück darüber eine Art Auflage, die nur für einen Kopf gedacht sein konnte.

William spürte, dass sich jeder Muskel seines Körpers anspannte, als eine kaum zu ertragende Angst über ihn hereinbrach, begleitet von einer instinktiven und schier urtümlichen Panik davor, sich diesem Objekt, dieser Maschine, zu überantworten. Es war offensichtlich, was von ihm und Marissa erwartet wurde, doch es tatsächlich zu tun, erforderte eine Willenskraft, von der er nicht wusste, wie er sie aufbringen sollte.

Erneut sah er zu Marissa. Auch in ihrem Blick lag eine unbeschreibliche Furcht, und obwohl sie die Hände bereits nach den Öffnungen ausgestreckt hatte, brachte sie es nicht über sich, in sie einzudringen. Stattdessen ballte sie die Hände zu Fäusten und zitterte. Immer und immer wieder riss sie den Mund auf und schnappte nach Luft; immer wieder setzte sie an, mit ihrem Würfel zu interagieren, doch es gelang ihr nicht.

Langsam ließ sich William auf die Knie sinken und legte seine Hände auf den Würfel. Er konnte nicht sagen, was das für ein Material war, aber es war kalt wie Eis und ließ seine Finger bei der leichtesten Berührung schmerzhaft kribbeln.

Aber er hatte keine Wahl.

Alles, was geschehen war, führte zu diesem Moment. Sein ganzes Leben kulminierte in diesen Sekunden. Die Menschheit war untergegangen, genau wie die Arytol. Ari war gestorben und bis auf Marissa jeder, den er je gekannt hatte. Und er war hier. Er musste es tun. Und so schloss er die Augen, neigte den Kopf nach vorne und legte ihn auf die Ablage auf der Oberseite des Würfels, bevor er seine Hände in die Vertiefungen an der Vorderseite einführte.

Marissa tat es ihm gleich –, und kaum hatten sie sich beide den Würfeln überantwortet, brachen genau jene Schmerzen über ihn herein, mit denen er so fest gerechnet hatte; das, wovor ihn sein Instinkt hatte warnen wollen. Doch was hier geschah, waren nicht nur Schmerzen. Nein. Das war Vernichtung. Er riss den Mund zu einem Schrei auf, weil es nichts anderes gab, was er tun konnte, und er sah, dass auch Marissa schrie. Irgendwann, vielleicht nach einer Sekunde, vielleicht nach einer Ewigkeit, verblasste der Schmerz.

Und dann kam Dunkelheit.