KAPITEL 5
Becca und Derric küssten sich lange. Er hatte die Hände in ihrem Haar, und der Hörer der AUD-Box fiel aus ihrem Ohr, sodass sie nicht noch länger … möchte wirklich … von ihm aufschnappte. Sie war nicht überrascht, da sie sich das auch schon gedacht hatte. Aber sie war noch nicht so weit.
Für sie war die Sache einfach. Wenn sie sich jemandem hingeben würde, dann nur Derric. Jedoch nicht auf dem Rücksitz eines Autos, bei jemandem auf dem Sofa, draußen im Wald oder nachts an einem Strand, während sie sich halb zu Tode froren. Sie wollte … ja, was wollte sie? Das hatte sie noch nicht herausgefunden. Sie wusste nur, dass es noch nicht der richtige Moment war.
Sie hatten auf dem Wochenmarkt eingekauft und waren dann in ein Wald-Café namens Mukilteo Coffee gefahren, wo der Duft von gerösteten Kaffeebohnen die Luft erfüllte und sie sich draußen auf der hinteren Terrasse mit Blick auf den Wald für ein paar Dollar ein Mittagessen teilen konnten. Jetzt saßen sie in Derrics Subaru Forester auf Ralph Darrows Parkplatz. Zwei weitere Wagen standen neben ihnen: Seths hergerichteter Käfer und ein rostiger, klapprig aussehender VW Bus, der alles andere als hergerichtet war. Die Anwesenheit dieser Fahrzeuge sorgte dafür, dass sie die geplante Knutsch-Session verschieben mussten. Mit Derrics Hand unter ihrem T-Shirt erwischt zu werden … Das wäre einfach zu peinlich gewesen.
»Muss los«, sagte Becca zu Derric, der sie gerade küssen wollte, während sie ihm über seinen perfekten, kahl geschorenen Schädel strich.
»Dann bis morgen?«
»Nur, wenn wir auch Hausaufgaben machen.«
»Du machst mich fertig«, erwiderte er, sagte es aber mit seinem strahlenden 100000-Volt-Lächeln.
Ein letzter langer Kuss, und sie nahm die Einkaufstüten vom Rücksitz. Sie sah ihm nach, bis sein Auto den Hügel hinunter verschwunden war. Dann drehte sie sich um und steuerte auf Ralph Darrows Haus zu.
Sie sah die Fahrerin des VW-Busses sofort, als sie die Kuppe des Hügels erreichte. Unten im Garten stand eine ältere Dame und unterhielt sich mit Ralph, der nach Seth rief, sobald er Becca erblickte. Kurz darauf tauchte Seth auf. Er kam mit Gus, der um ihn herumsprang, und einem merkwürdig aussehenden Jungen vom Teich. Es war der Anblick des Jungen, der Becca veranlasste, den Hörer der AUD-Box nicht wieder einzustöpseln. Er strahlte etwas aus, bei dem es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief.
Während sie auf das Haus zulief, nahm sie von niemandem irgendwelche Gedanken wahr. Erst als sie näher kam, sickerte das erste lautlose Raunen durch die Luft. Und dann drang verdammt, nicht was ich gedacht hatte … zu ihr, was wohl von der älteren Frau kam, da sie Becca unverblümt abschätzte, wie jemand, der ein zum Verkauf stehendes Pferd begutachtet. Darauf folgte vom Becca-Gong gerettet … könnte gut sein für den Jungen, aber weiß Gott, nichts hat bisher geholfen, um ihn … ich darf nicht vergessen, ihr von dem Foto zu erzählen … sie behält mit diesem jungen Mann einen klaren Kopf … wäre total cool gewesen … was soll die Kriegsbemalung … was für eine Möchtegern-Grufti-Schlampe … das war ja zu erwarten … manchmal der totale Vollpfosten … außer ihn zu zwingen, zum verdammten Strand zu joggen.
Obwohl sie eine Menge auf einmal verarbeiten musste, freute sich Becca über die Länge der unzusammenhängenden Gedanken. Zwar wurde das, was zu ihr drang, immer noch von dem unterbrochen, was andere Leute als Rauschen bezeichnet hätten, aber es zeigte Becca, dass sie Fortschritte machte und immer mehr von dem Flüstern, wie sie es nannte, hören konnte. Ganz am Anfang waren ihr die Gedanken anderer nur als einzelne Wörter zugeflogen. Dann wurden diese zu Satzfetzen, bei denen sie nicht identifizieren konnte, von wem sie kamen. Und jetzt fing sie an, ganze Sätze aufzuschnappen. Sie war sich nicht immer sicher, wer was dachte, aber oft konnte sie es aus dem Zusammenhang ableiten.
Allerdings war es ihr bisher nicht gelungen, das Flüstern ohne die Hilfe der AUD-Box auszublenden. Das war ihr endgültiges Ziel: die vollständigen Gedanken von jedem in ihrer Nähe zu hören, jedoch nur, wenn sie sie hören wollte.
»Sag unseren Gästen Hallo, Miss Becca«, rief Ralph und winkte ihr zu, damit sie sich zu ihnen gesellte. Er stellte sie vor und fügte hinzu: »Sie sind aus Kalifornien, genau wie du. Zumindest Aidan.«
Becca grüßte beide und hob die Tüten, die sie bei sich trug, in die Höhe. »Magst du mit reinkommen?«, fragte sie Aidan. »Ich muss die Einkäufe einräumen und ein Rezept finden, bei dem man den Naturreis nicht schmeckt, sonst isst es Mr Whidbey-Vanilleeis hier nicht.«
»Wir essen das Eis einfach selbst«, erklärte Seth und nahm ihr zwei der Einkaufstüten ab.
»Vorher brech ich dir den Arm«, war Ralphs Antwort darauf. Dann führte er Nancy Howard auf die andere Seite des Gartens, wo sie ihr Gespräch über seine Pflanzen fortführten.
Dann haben sie mehr Zeit, sich kennenzulernen … informierte Becca darüber, was von ihr erwartet wurde. Sie lächelte Aidan an, aber er lächelte nicht zurück. Dann eben nicht, dachte sie und ging ihm voran ins Haus.
Aidan fragte sie, woher sie war, sobald sie drinnen waren. Sie antwortete nicht gleich, weil sie erst einmal herausfinden musste, woher er war. Seit einem Jahr erzählte sie allen, dass sie aus San Luis Obispo, Kalifornien, sei, und falls er aus irgendeiner nahegelegenen Stadt kam, würde sie in der Klemme stecken, wenn er sie so etwas fragte wie: »Hey, kennst du …«. Denn das hätte sie nicht beantworten können. Deshalb räumte sie Gemüse, Obst und Eier weg und tat so, als hätte sie ihn nicht gehört, bis Seth ihn fragte, woher er war. Palo Alto, wie sich herausstellte. Sie hatte also einen Spielraum von knapp über dreihundert Kilometern.
Sie wandte sich von der Arbeitsfläche ab. Aidan saß am Tisch. In der Mitte stand eine Kerze, mit der er spielte. Er zündete sie mit einem herumliegenden Streichholzbrief an und betrachtete die Flamme.
»San Luis Obispo«, sagte sie schließlich.
»Voll das Kaff«, gab er zurück. »Ich war da schon mal. Arschlangweilig.«
Becca und Seth tauschten Blicke. »Na ja«, erwiderte sie.
Aidan war offenbar nicht so verpeilt, dass er ihren Tonfall nicht bemerkte, weil er sofort »’Tschuldigung« hinterherschob und sich dann in der Küche umsah, als suche er nach Inspiration, was er als Nächstes sagen könnte. Er entschied sich schließlich für: »Also, was macht ihr hier so?« Mit der nächsten Fähre bin ich weg … verriet ihr, was er selbst am liebsten tun würde.
»Von der Schule abgesehen?«, fragte Becca. »Zu Football-Spielen, Tanzveranstaltungen, Partys gehen. Abhängen. Rüber zum Einkaufszentrum in Lynnwood fahren. Was sonst noch?« Die Frage richtete sie an Seth.
»Radfahren, wandern, Kajak fahren, zelten, jagen, Muscheln sammeln, fischen, Krebse fangen.«
Aidan betrachtete die brennende Kerze und sagte: »Toll«, als meine er eigentlich: »Vorher lass ich mich eher erschießen.« Dann fragte er: »Wie sieht’s mit Drogen aus?«
»Man kriegt hier alles, nehm ich an«, gab Becca zurück.
»Und … wo?«
»Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung?« Seine Frage unterstrich er mit Alle wissen Bescheid, sie will’s nur nicht sagen. Grufti-Schlampen haben immer Stoff, was soll also …
Becca wollte ihn aufklären, dass sie kein Grufti war, auch wenn ihr Make-up den Schluss nahelegte. Stattdessen sagte sie freundlich: »Nö. Keine Ahnung. Ich nehme keine Drogen.«
»Ach ja, alles klar. Ich wette, du hast auch ›gute Noten‹ in der Schule.« Er markierte »gute Noten« sarkastisch mit Anführungszeichen in der Luft. Hasse langweilige Schlampen, voll die ätzende Poserin … begleitete seine Aussage.
Seth warf ein wenig hitzig ein: »Weißt du, Becca ist eine …«
»Ist schon okay, Seth«, unterbrach ihn Becca. »Ich mag gute Noten. Du etwa nicht?«
»Gute Noten mögen mich nicht«, gab Aidan zurück. Er hielt die Handflächen an die Kerze, als wolle er sie aufwärmen. »Ich lass mich leicht ablenken. Deshalb bin ich hier. Damit mich nichts ablenkt.«
Seth setzte sich zu ihm an den Tisch, nachdem er Becca geholfen hatte, die Einkäufe wegzuräumen. Sie nahm ein Kochbuch heraus, brachte es an den Tisch und fing an, darin zu blättern. Sie fragte: »Warst du dieses Jahr schon in der Schule? Ich glaube nicht, dass ich dich gesehen habe. Bist du in der elften oder in der zwölften Klasse?«
Wie sich herausstellte, war er keins von beiden. Er ging in den Unterricht und wartete darauf, dass seine vorherige Schule sein Zeugnis schickte, damit die South-Whidbey-Highschool beschließen konnte, in welche Klasse er gehörte. Seine Schwester war in der Zwölften und das sollte er auch sein, aber wer wusste schon, was hier oben zählte.
»Du hast eine Zwillingsschwester?«, fragte Seth.
»Wir sind irische Zwillinge«, antwortete Aidan. »Ich bin der Ausrutscher.«
»Häh?«
Aidan schnippte das Streichholzbriefchen mit den Fingern auf. »Das ist ein beknackter Ausdruck dafür, wenn man zwei Kinder im selben Jahr bekommt. Meine Schwester ist nur zehn Monate älter als ich.«
»Wow. Eure Eltern hatten es wohl eilig«, kommentierte Seth.
»Ja, leider.« Aidan lehnte sich in seinem Stuhl zurück, gähnte und strich sich mit den Händen durch sein unnatürlich schwarzes Haar. Becca sah, dass er auf beiden Händen Tätowierungen hatte: ein Teufel- und ein Engel-Tattoo. Seine Fingernägel waren schwarz lackiert. Ihr kam der Gedanke, dass Aidan Martin aussah, als hätte er sich verkleidet. Genau wie sie rannte er vor etwas davon. Und sofort stellte sich ihr die Frage: Wovor?