KAPITEL 6

Nachdem Aidan und seine Großmutter weggefahren waren, kümmerte sich Becca um das Abendessen, und Seth blieb und aß mit ihnen. Er wollte ganz offenbar nicht gehen und konnte es gleichzeitig nicht abwarten, dass Ralph endlich ins Bett ging oder zumindest den Raum verließ, was ihm gar nicht ähnlich sah. Irgendetwas stimmt nicht, dachte sie.

Als er Becca die Titelseite des Record zeigte, den er in der Küche der Cartwrights abgestaubt hatte, verstand sie, warum er gewartet hatte, bis sich Ralph in sein Zimmer zurückzog. Da war sie, gestochen scharf auf einem Foto, und Becca King gestochen scharf auf der Titelseite einer Zeitung … das war nicht gut. Seth war der Einzige, der das wusste. Sie war auf der Flucht. Ihre Mom war auf der Flucht. Und die Person, vor der sie flüchteten, war bereits einmal auf Whidbey Island aufgetaucht, um sie zu suchen, doch ohne Erfolg.

Damals war Jeff Corrie auf der Suche nach seiner Frau und seiner Stieftochter gewesen: Laurel Armstrong und ihrer pummeligen Tochter Hannah. Aber Laurel versteckte sich jetzt in British Columbia und Hannah Armstrong hatte sich schon vor längerer Zeit in Becca King verwandelt, und die war seit einem Jahr kein bisschen fett. Nur die falsche Brille, das starke Augen-Make-up, der dunkle Lippenstift und die schwarze Kleidung blieben noch von dem Mädchen übrig, das sie auf der Flucht vor Jeff Corrie geworden war.

Dennoch hatte Becca mindestens einmal die Woche im Internet gesurft, um zu überprüfen, ob ihr Stiefvater bei seiner Suche nach ihr Fortschritte machte. Er wollte sie zurück, weil er ihre Gabe brauchte, um sie für seine Geldgeschäfte zu nutzen. Aber er hatte selbst ernste Probleme: Nicht nur seine Frau und seine Stieftochter waren verschwunden, sondern auch sein Geschäftspartner, und die Ermittlungen in diesen beiden Vermisstenfällen liefen schon seit gut sechs Monaten. Damit war er erst einmal in San Diego beschäftigt. Das würde ihn jedoch nicht unbedingt davon abhalten, im Internet Whidbey Island zu googeln und auf den Record zu stoßen, was ihn auf die Idee bringen könnte, sich die Zeitung genauer anzusehen, und das wiederum könnte dazu führen, dass Jeff Corrie einen Blick auf die Titelseite warf. Und das könnte letztendlich bedeuten, dass Jeff Corrie wieder hier auftauchte, wobei er diesmal ein Bild von Becca King und Fragen für das Büro des Sheriffs parat haben würde.

Das durfte nicht passieren, Becca wusste das. Und Seth ebenso.

Becca stieß zwei Wörter hervor: »Oh nein.«

Seth sagte: »Ich dachte, du solltest das wissen. Sieh dir die Bildunterschrift an, Beck.«

Sie las sie. Der Fotograf hatte sie nicht nach ihren Namen gefragt, weil nur wenige Leute am südlichen Ende der Insel lebten und sich die meisten Leute kannten. Als sie »Derric Mathieson, Becca King und Jennifer McDaniels beweisen gesunden Menschenverstand, indem sie vor dem Feuer weglaufen« las, ging sie daher davon aus, dass ihm jemand von der Zeitung gesagt hatte, wer sie waren. Bei Derric war das einfach, vor allem, weil er, in Uganda geboren und von einer Familie auf der Insel adoptiert, der einzige Afrikaner an der South-Whidbey-Highschool war. Und Becca war Derrics Freundin und Jenns Familie lebte schon seit Generationen auf der Insel. Es war also keine große Kunst, ihre Identität herauszufinden. Sie musterte das Bild, um zu überprüfen, ob Becca King Hannah Armstrong noch auf irgendeine Weise ähnelte.

Sie glaubte nicht. Aber sie konnte nicht sicher sein. Sie brauchte ein altes Foto von sich, um es mit dem Foto in der Zeitung zu vergleichen.

Becca ging nach der Schule zum South-Whidbey-Gemeindezentrum. Es befand sich auf der Second Street im Zentrum von Langley, einer Gemeinde mit etwa tausend Einwohnern, deren bunte Fischerhäuschen auf der Klippe hoch über dem Gewässer der Saratoga-Passage gebaut waren. Einige dieser Häuser waren umgebaut worden, und man fand hier alles Mögliche von Boutiquen bis hin zum örtlichen Museum. Zu diesen Umbauten gehörte auch das senfgelb gestrichene Gemeindezentrum mit einem Vorgarten, in dem Sommerblumen noch spät in Blüte standen, sowie einem Buchladen, einer Kunstgalerie und einem Café im Innern. Ganz hinten befand sich ein Zimmer, das für Spiele und als Aufenthaltsraum genutzt wurde. Hier standen auch die Computer. Als Becca ankam, war Seth bereits da.

Aus irgendeinem Grund war auch Aidan Martin zusammen mit einem Dutzend anderer Jugendlicher und den beiden anderen Mitgliedern von Seths Trio Triple Threat im Zentrum. Die Musiker spielten ein beschwingtes Gypsy-Jazz-Stück für Mandoline, Kontrabass und Gitarre. Die Zuhörer beobachteten völlig gebannt die unglaubliche Fingerfertigkeit der Musiker.

Nicht jedoch Aidan Martin. Sein Skateboard lag umgekehrt auf seinem Schoß, und er drehte mit den Fingern an den Rädern. Er blickte sarkastisch drein, als amüsiere ihn alles, was um ihn herum vor sich ging. Mitten im Stück setzte er sein Skateboard auf den Boden und griff nach einem Kartenspiel auf dem Tisch in seiner Nähe. Er gähnte übertrieben und fing an, die Karten zu mischen.

So ein Blödmann, dachte Becca.

Alle Computer waren frei, weil die Jugendlichen sich die Band ansahen. Becca loggte sich ein. Sie googelte in Sekundenschnelle Jeff Corries Namen. Er war nicht mehr so oft in der Zeitung wie am Anfang, als Becca und ihre Mom vor ihm geflüchtet waren. Damals hatte er mit mehreren Ermittlungen zu kämpfen. Da er bis zum Hals in juristischen Problemen steckte, hatte er das Schlaueste getan, was er tun konnte: Er hatte sich einen Anwalt genommen. Von dem Moment an übernahm dieser das Reden für ihn. Und die Zeitungen druckten Wort für Wort, was der Anwalt sagte: Es gäbe keine Hinweise darauf, dass dem Verschwinden dieser drei Personen ein Verbrechen zugrunde läge. Es gäbe lediglich eine Geldspur, die zu Connor und Jeff anstatt zu ihren Investoren führe, und selbst das, so behauptete der Anwalt, sei von Connor inszeniert worden, um Mr Corrie die Schuld in die Schuhe zu schieben. Warum also konzentrierten sich die Ermittlungen dann auf ihn? Bis zur mexikanischen Grenze sei es von San Diego nur ein Katzensprung, und vielleicht sollte die Polizei eher ihre dortigen Kollegen anrufen, da es viel logischer wäre, dass Connor West sich nach Mexiko abgesetzt hatte, als dass Jeff Corrie ihn aus dem Weg geräumt hätte, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.

Jeff ist nicht dumm, folgerte Becca. Solange sie Connors Leiche nicht fanden oder sie selbst sich nicht meldete und erklärte, wie sie den beiden Männern geholfen hatte, Geld zu erschwindeln, indem sie die Gedanken der Investoren belauschte, um ihre Schwächen herauszufinden, würde Jeff ein freier Mann bleiben. Außerdem würde er weiter nach ihr suchen, und Becca gefror das Blut in den Adern, als sie einem Link zu einem Leitartikel in der Zeitung von San Diego folgte und ihr Blick auf zwei Wörter fiel: Whidbey Island.

»Corrie hat von Anfang an darauf beharrt, dass das Handy seiner Frau auf Whidbey Island gefunden wurde«, las sie, »und da das Büro des Sheriffs in Coupeville, Washington, das bestätigt hat, muss man sich fragen, ob seine Behauptungen, man würde ihn grundlos verfolgen, nicht zum wiederholten Male beweisen, dass die Arbeit des San Diego Police Departments zu wünschen übrig lässt.«

Mein Gott, dachte Becca, er zieht die Zeitung auf seine Seite! Schon bald würde er wieder hier auftauchen und nach ihr suchen.

Sie ging im Internet noch einmal in der Zeit zurück. Sie musste die erste ernsthafte Erwähnung des Verschwindens von Laurel und Hannah Armstrong finden. Denn da waren Fotos von ihnen abgebildet, wobei ihr eigenes ein Schulfoto aus der fünften Klasse war.

Als sie den Eintrag fand, holte sie die Titelseite des Record aus ihrem Rucksack. Sie sah sich im Raum um und vergewisserte sich, dass alle weiterhin gebannt Seths Musik lauschten. Dann faltete sie schnell die Seite auseinander und verglich sich als nunmehr Sechzehnjährige mit dem Mädchen, das sie in San Diego zur Zeit des Fotos gewesen war: elf Jahre alt, mit etwa zwanzig Kilo zu viel auf den Rippen.

So viel Übergewicht bei einer Körpergröße von weniger als 1,65 m machte einen Riesenunterschied, und sie konnte das sofort auf dem Bild erkennen. Damals hatte sie Hamsterbacken und ein grauenhaftes Doppelkinn gehabt, und wenn es ein Ganzkörperbild gewesen wäre, hätte man auch die massigen Oberschenkel und einen Hintern so groß wie West Virginia gesehen. Außerdem trug sie lange Haare, einen Pony und eine Spange. Das war jetzt alles nicht mehr da, vor allem das Gewicht. Als sie das Zeitungsbild neben den Bildschirm hielt, um es mit dem anderen Foto zu vergleichen, konnte sie keine Ähnlichkeit erkennen.

Vielleicht ist das aber auch nur Wunschdenken, sagte sie sich. Seth muss sich das unbedingt ansehen, weil …

»Was machst du da?«

Sie wirbelte herum und stellte fest, dass Aidan Martin zu den Computern herübergekommen war. Er stand direkt neben ihr mit freiem Blick auf ihren Monitor und betrachtete ihn und die Titelseite der Zeitung. Becca wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als den Hörer ihrer AUD-Box aus dem Ohr zu ziehen, in der Hoffnung, irgendeinen seiner Gedanken aufzuschnappen.

Ein Typ mit Ohr-Plugs ist so was von nicht mein Fall … echt sexy … gestimmt, denn wenn sie es ist, kann ich mitspielen … Gott sei Dank geht es wenigstens nicht um mich … die Kleine hat einen süßen Arsch … wenn ich nicht für den Physik-Test lerne, habe ich ein Problem … supersexy … nicht schwanger, ich schwör’s … ich kann sie auf den Tod nicht ausstehen, sie ist so eine Lügnerin … oh Mann, als ob die das Zeug zur Cheerleaderin hätte … Essen heute Abend, weil ich nicht dran bin, und ich werde nicht kochen, egal, was sie …

Keine Chance, dachte Becca. Da waren zu viele Leute. Es war ein Fluch, nichts kontrollieren zu können, weder die Gedanken anderer noch ihr eigenes Leben. Sie zwang sich zu einem Lachen, sagte: »Ups«, und steckte den Hörer wieder ins Ohr. Dann erklärte sie: »Damit kann ich besser hören. Es hat was mit meinem Gehirn zu tun. Entschuldige. Was hat du gesagt?«

Er zog den Stuhl neben ihr zu sich heran. »Hab nur gefragt, was du da machst.« Er zeigte wieder mit dem Kopf auf den Computer. Obwohl er recht freundlich blickte, sah er sie auf eine ganz merkwürdige Art an, während seine Oberlippe krampfhaft zuckte.

»Hausaufgaben«, erwiderte sie, »für Kunst. Gesichtsformen. Ist nicht gerade meine Stärke.« Sie ging zurück auf die Google-Startseite, faltete die Zeitungsseite zusammen, steckte sie in ihren Rucksack und meinte: »Mathe ist das einzige Fach, in dem ich noch schlechter bin. Was ist mit dir?«

»Ich bin in allem schlecht.« Er drehte die Hinterräder seines Skateboards und fügte hinzu: »Außer hiermit und dem Snowboard.« Er beobachtete, wie sich die Räder drehten. Becca seufzte leise vor Erleichterung, dass sie das Thema gewechselt hatten, aber gerade, als sie dachte, sie wäre außer Gefahr, fragte Aidan plötzlich: »Also was ist mit den Gesichtsformen?«

»Wie schon gesagt. Ist nur eine Hausaufgabe.«

Er sah sie mit seinen blauen Augen durchdringend an, was etwas Bedrohliches an sich hatte. »Was für eine Hausaufgabe?«

»Jemand im Unterricht hat gefragt …« Sie überlegte wie wild. Sie hatte nicht einmal Kunst in der Schule. Was in Gottes Namen hatte sie sich bei dieser Lüge gedacht? Sie lachte unsicher: »Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, was er gefragt hat. Ich hab vermutlich vor mich hin gekritzelt oder so was. Jedenfalls, das Ende vom Lied war, dass wir diese bescheuerte Aufgabe bekommen haben. Wir sollen ein Foto von uns selbst nehmen und dann ein Foto von jemand anderem finden, und dann … was weiß ich.«

»Mann. Wie hältst du es bloß in der Schule aus?« Er stellte die Frage ganz beiläufig, richtete aber seine Aufmerksamkeit weiterhin voll und ganz auf sie, als hätte er Laseraugen, mit denen er in ihren Kopf blicken konnte.

»Da ich nicht drum rum komme, mache ich lieber das Beste draus«, erwiderte sie.

Darauf antwortete er nicht. Stattdessen riss er den Blick von ihr los, sah zu den Musikern hinüber und nickte Seth zu. »Ich hab gehört, dass er die Schule geschmissen hat«, sagte er, und es klang wie ein Gedanke, mit dem er selbst spielte.

»Er hat seinen Abschluss auf dem zweiten Bildungsweg gemacht«, erklärte Becca ihm. »Er arbeitet jetzt für einen Bauunternehmer. Er ist ein ausgezeichneter Zimmermann. Und er hat seine Musik, die er selbst schreibt und …«

»Du klingst besorgt«, unterbrach Aidan sie und drehte sich wieder zu ihr. »Warum?«

Becca zögerte und spürte, wie ihr vom Hals aufwärts ganz heiß wurde.

Er sagte: »Oh. Bist du mit ihm …?« und zeigte mit dem Kopf in Seths Richtung.

»Nein!« Doch sie protestierte viel zu vehement. Er verunsicherte sie. Er war wie ein Boxer, der im Ring um sie herumsprang und sie mit Fausthieben durcheinander brachte. Die einzige Antwort, die ihr einfiel, war: »Ich hab einen Freund.«

Aidan grinste. »Hast du gedacht, ich will dich anbaggern oder was?«

»Nein! Ich meine … Du hast gesagt, ich und Seth …« Meine Güte, dachte sie, was ist los mit dir?

Wie aufs Stichwort legte Seth mit einem Solo los, und sie drehten sich um, um ihm zu lauschen und sein Spiel zu genießen. Es war Teil der Gypsy-Jazz-Darbietung. Ein Musiker nach dem anderen spielte ein Solo. Nachdem Seth mit seinem fertig war, klatschte das Publikum Beifall. Aber noch bevor der Mandolinenspieler mit seinem Einzelvortrag loslegen konnte, stand ein junger Mann im Publikum auf und hob eine Geige an seine Schulter. Er fing an, zu spielen, als hätte er mit dem Trio schon tausendmal geprobt. Das Trio grinste und begleitete ihn.

Becca hatte den jungen Mann noch nie gesehen, doch sie wusste, dass langsam die Musiker für das bevorstehende Gypsy-Jazz-Festival in Langley eintrafen, und vermutlich war er einer von ihnen. Im Gegensatz zu Seth und den anderen sah er wie ein waschechter Gypsy-Jazz-Musiker aus. Er hatte dichtes schwarzes Haar, das mit einem Lederband zusammengebunden war, dunkle Haut und nahezu kohlschwarze Augen, außerdem trug er goldene Ohrringe und eine Kette mit vier Eheringen daran um den Hals. Und er spielte Geige wie jemand, der das sein Leben lang getan hatte.

Das Beste war, dass er Aidan von Becca ablenkte. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, vor allem die der Mädchen. Er strahlte Gesundheit, Vitalität und Sex aus. Und als er bei dem Applaus, der seinem Solo folgte, lächelte, war Becca sicher, dass alle Mädchen im Raum einer Ohnmacht nahe waren.

Für sie war es Zeit, zu verschwinden, bevor Aidan Martin ihr noch weitere Fragen stellte. Sie wartete lange genug, um zu hören, wie Seth dem Geiger »Komm rüber, Alter!« zubrüllte, der sich daraufhin durch die Menge zwängte, um sich zu dem Trio zu gesellen. In dem Moment schlüpfte sie aus dem Raum.

Erst als sie draußen vor dem Gemeindezentrum stand, fiel ihr ein, dass sie den Computer nicht heruntergefahren hatte.