KAPITEL 7

Hayley Cartwright war kurz vor der Mittagspause ins Büro von Tatiana Primavera gerufen worden. Tatiana Primavera hieß früher einmal Sharon Prochaska, hatte aber ihren Namen schon vor langer Zeit ändern lassen, genau wie andere, die vom Festland hierhergezogen waren und sich an die hipperen Seiten des Insellebens anpassen wollten. Sie war auch die Schülerberaterin für A–L der South-Whidbey-Highschool, und eine ihrer Aufgaben bestand darin, die Zwölftklässler, deren Nachnamen mit den entsprechenden Buchstaben anfingen, bei der Bewerbung für Studienplätze an Colleges und Universitäten zu unterstützen. Hayley hinkte mit ihrer Vorbereitung hinterher. Sie hatte sich nicht einmal über ihre Möglichkeiten informiert.

Sie versuchte gerade, Ms Primavera klar zu machen, dass sie nicht vorhatte, sich für ein Hochschulstudium zu bewerben, als es zur Mittagspause läutete. Das rettete Hayley zu ihrem Glück vor einem ausgewachsenen Streit mit der Schülerberaterin. Als Ms Primavera sie mit der Bemerkung gehen ließ: »Diese Diskussion ist noch nicht beendet, junge Dame. Also bis später«, flüchtete Hayley schnell in die Kantine der Highschool.

Die Kantine war an diesem Tag ziemlich leer. Das Wetter war immer noch schön, sodass fast alle draußen aßen. Das war auch der Grund, warum weder die Assis noch die Kiffer an den Tischen saßen. Dasselbe galt für die Sportskanonen und ihre Anhängsel, die draußen in der Sonne damit beschäftigt waren, ihre Muskeln spielen und sich dafür bewundern zu lassen.

Hayley wollte sich gerade zu ihren üblichen Tischgenossen setzen, als jemand sie am Arm packte. »Mann«, sagte Isis Martin. »Warum bist du nicht mit mir in Französisch? Wo essen wir?« Sie wartete nicht auf die Antwort, als Hayley sie zu dem Tisch führte, den sie immer mit ihren Freunden teilte. Sie redete einfach weiter und gab Hayley nicht einmal die Gelegenheit, sie den anderen vorzustellen. »Es war total übel«, teilte sie Hayley mit. »Du kennst doch Mr Longhorn? Aber wir müssen ihn natürlich Monsieur nennen, auch wenn ich mir niemanden vorstellen kann, der weniger wie ein Monsieur aussieht als er. Nach dem Unterricht hat er mich voll runtergemacht. Und warum? Also, tut mir ja echt leid, aber ich hab meine Tage. Und dann wollte er, dass ich ihm erkläre, warum ich erst nach dem letzten Klingeln im Unterricht war. Und ich sollte es ihm auch noch auf Französisch erklären! Jedenfalls hat er mich voll auf die Tour ›Mademoiselle, vous êtes sonst was‹ zugelabert, und ich hab versucht, es ihm zu erklären, aber dann hatte er offenbar plötzlich genug davon, mich vor allen zu blamieren, und hat mich gehen lassen. Oder zumindest hab ich das gedacht, aber als ich gehen wollte, hat er arrêtez gebrüllt, und ich dachte, er schreit jemand anderen an. Deshalb hab ich gesagt: ›Was, Mann‹, und er hat mir einen Verweis wegen unverschämten Verhaltens verpasst. Nicht zu fassen, oder?«

Schließlich holte Isis Luft und biss in ihr Sandwich. Hayley hörte Jenn McDaniels kichern. Jenn und Becca King saßen auch am Tisch, und Beccas Augen – die sie auf Isis richtete – waren so groß wie zwei Silberdollar. Als Hayley in ihre Richtung blickte, sah sie, wie Becca den Stöpsel ihres Geräts aus dem Ohr nahm. Jenn wandte sich vielsagend an Becca: »Ich würde es aufdrehen, nicht abschalten«, und Hayley warf ihr einen Blick zu, der ihr zu verstehen gab: Hey, reiß dich zusammen. Na schön, Isis redet viel, dachte Hayley. Aber sie ist meine Freundin, und seine Freunde akzeptiert man so, wie sie sind.

Beccas Blick wanderte zu Hayley. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Es war jedoch kein fieses Lächeln, sondern wirkte viel mehr ermutigend. Oder als wäre sie selbst ermutigt. Oder sonst was, Hayley war sich nicht sicher. Und dann kam Isis wieder in Fahrt. Sie hatte ihren Bissen Sandwich heruntergeschluckt, von ihrer fettfreien Milch getrunken und wollte gerade etwas sagen, als sich Derric auf einen der beiden leeren Stühle an ihrem Tisch fallen ließ.

Er sagte an den ganzen Tisch gewandt: »Hey, was geht?«, aber außer Isis wussten alle, dass er eigentlich mit Becca sprach.

Isis sah aus, als hätte es ihr die Sprache verschlagen. Das liegt wohl an Derric, dachte Hayley. Er war groß, dunkel und exotisch. Er trug ein T-Shirt, das seinen attraktiven Körperbau zur Geltung brachte: Brustmuskeln, Bauchmuskeln, Bizeps, Trizeps, und was es da sonst noch so gab, und auf Isis’ hübschem Gesicht stand lecker geschrieben. Derrics Status musste also eindeutig klargestellt werden.

In jeder anderen Situation hätte das die Freundin eines solchen Prachtexemplars von einem Mann übernommen. Aber Hayley war bereits aufgefallen, dass Becca nicht die Art Mädchen war, die sich große Mühe gab, irgendjemandem gegenüber irgendetwas klarzustellen.

Schließlich übernahm es Derric selbst, wenn auch nicht direkt. Er nahm einen Bissen von Beccas Sandwich, sagte: »Schon wieder Erdnussbutter und Marmelade? Schatz, wann sorgst du mal für ein bisschen Ab-wechs-lung?«, und fuhr dann fort mit: »Ich hab das mit dem Heimfahren verbockt. Ich hab nach der Schule eine Verabredung mit Josh – du weißt schon, großer Bruder und so –, die ich total vergessen habe. Ich könnte seine Großmutter anrufen und sagen, dass mir was dazwischen gekommen ist, aber das mache ich nur ungern.« Er verschränkte seine Finger in ihre, während er sprach.

Hayley beobachtete, wie Isis das Ganze verfolgte und den Blick von Derric zu Becca schweifen ließ. Sie bemerkte auch, wie Jenn McDaniels ein Lächeln unterdrückte. Isis erklärte fröhlich: »Ich hab ein Auto. Falls jemand eine Mitfahrgelegenheit braucht, kann ich euch überallhin fahren.«

Derric sah Isis an. Seine leicht gerunzelte Stirn zeigte, dass er nicht wusste, wer sie war. Isis verstand offenbar seinen Gesichtsausdruck und hielt ihm über den Tisch die Hand hin. »’tschuldige. Isis Martin«, stellte sie sich vor. »Aus Palo Alto, gleich neben der Universität von Stanford. Mein Bruder und ich wohnen bei Nancy Howard. Die Kettensägenkünstlerin? Sie ist unsere Großmutter. Mein Bruder …« Isis stand halb auf und blickte sich in der Kantine um. Sie fand offenbar, wen sie suchte, denn sie zeigte mit dem Finger auf jemanden: »Er ist da drüben. Meine Güte, warum sitzt Aidan ganz allein da? Hey, entschuldigt ihr mich mal kurz?« Und schon war sie weg und bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch zum anderen Ende der Kantine und dann an der Wand entlang bis in die Nähe der Tür. Dort in der allerhintersten Ecke saß ein Junge mit dem Rücken zu den restlichen Schülern über einen Tisch gebeugt da.

»Boah«. Derric meldete sich als Erster zu Wort.

»Sie ist neu.« Hayley wurde bewusst, wie bescheuert das klang. »Ich hab sie in Bayview kennengelernt. Auf dem Markt am Samstag. Wir sind ins Gespräch gekommen …«

»Wir sind ins Gespräch gekommen?«, unterbrach sie Jenn. »Du meinst wohl, ›sie ist ins Gespräch gekommen‹? Hört sie eigentlich auch mal zu

»Du untertreibst mal wieder«, erwiderte Derric mit einem Lächeln.

»Ich glaube, sie ist einfach nur nervös«, meinte Hayley. »Ihr wisst schon: lauter neue Leute, hat kurz vorm Abschluss die Schule wechseln müssen. Ich hab irgendwie den Eindruck, dass an ihrer alten Schule einiges abgegangen ist.«

»Was zum Beispiel?«, fragte Jenn lachend. »Ich meine, von ihrem Mundwerk mal abgesehen.«

»Sie hat dort einen tollen Freund. Ich glaube, sie vermisst ihn sehr. Sie schicken sich ständig SMS und so. Sie hat mir erzählt, dass sie jeden Morgen skypen. Aber das ist nicht dasselbe, und ich glaube …«

»Hayley, du bist viel zu nett«, unterbrach Jenn sie.

Becca sagte leise: »Sie hat nur Angst.« Sie blickte zu Isis und ihrem Bruder hinüber. Isis hatte ihren Bruder hoch gezogen und führte ihn zur Tür.

Hayleys Rettung durch die Mittagspausenglocke war, wie sich schnell herausstellte, nur von kurzer Dauer. Ms Primavera fing sie auf dem Weg in den Unterricht ab. Die Schülerberaterin kam mit einem Pappkarton auf dem Arm die Treppe hinunter, und Hayley war auf dem Weg nach oben in ihr Klassenzimmer. Ms Primavera sagte: »Einen Moment, Hayley Cartwright«, und Hayley machte sich auf einen weiteren Vortrag gefasst. Aber stattdessen stellte Tatiana Primavera den Pappkarton auf einer Stufe ab und fing an, den Inhalt zu durchwühlen.

Hayley sah, dass es College-Broschüren waren. Die Schülerberaterin zog eine für das Reed-College heraus. »In Portland«, erklärte sie Hayley. »Nicht zu weit weg, nicht zu nah. Nicht zu groß, nicht zu klein. Es ist ein privates College, aber es gibt Stipendien und Ausbildungsförderungen. Sie bieten auch berufsbegleitende Studiengänge an und ihre Wissenschaftsabteilung ist genau, was du brauchst. Du nimmst das jetzt, und wir unterhalten uns nächste Woche darüber. In der Zwischenzeit möchte ich, dass du dir noch neun weitere Colleges heraussuchst. Anfang November fängst du an, dich zu bewerben.«

Hayley kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, sich jetzt darüber zu streiten. Deshalb nahm sie die Broschüre für das Reed-College und noch eine weitere, die Ms Primavera ihr noch aufs Geratewohl reichte. Diese war für die Brown University. Rhode Island?, dachte Hayley. Äh … alles klar.

Sie ging zu ihrem Klassenzimmer und traf dort Isis, die vor der Tür wartete. Sie sah völlig niedergeschlagen aus. Einen Moment lang dachte Hayley, es wäre etwas Schreckliches passiert.

Isis nahm ihren Arm. »Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich kann einfach nicht die Klappe halten. Es tut mir leid, wie ich euch alle in der Mittagspause vollgelabert habe.« Sie sah sich auf dem Gang um. Er leerte sich schnell. Der Unterricht fing gleich an. »Ich wünschte, ich könnte dir mehr erzählen, Hayley. Es ist nur so, dass meine Familie eine Menge Probleme hat, und das macht mich total fertig. Mehr kann ich dir leider nicht sagen. Ich weiß, du musst in den Unterricht und ich auch, und ich wollte dir einfach nur dafür danken, dass du meine Freundin bist. Bitte sag, dass ich es in der Mittagspause nicht komplett verbockt habe.«

Hayley konnte nicht anders als lächeln angesichts der Aufrichtigkeit des Mädchens. »Du hast es absolut nicht verbockt«, beruhigte sie sie.