KAPITEL 8
Becca stand nach Unterrichtsende vor ihrem Spind, als Hayley Cartwright ihr anbot, sie im Auto mitzunehmen. Sie könne sie absetzen, wo sie wolle, sagte Hayley und fügte in Gedanken hinzu: weil ich wissen will, ob das, was sie sagt, etwas bedeutet …, was erstaunlich deutlich zu Becca herüberdrang. Sie hatte den Hörer der AUD-Box aus dem Ohr genommen, wie sie es oft am Ende des Tages tat, um zu üben, wie man, in den Worten ihrer Großmutter, »diese geistigen An-und-Aus-Knöpfe bedient, mein Schatz«. Es ging darum, das Flüstern bewusst immer mehr in den Hintergrund treten zu lassen, bis es – wie der Wind vor dem Haus – zu weißem Rauschen wurde. Meistens scheiterte Becca dabei kläglich, und der Lärm der geflüsterten Gedanken aller Leute um sie herum prasselte gnadenlos auf sie ein.
Aber Becca hatte Hayleys geflüsterte Gedanken so deutlich gehört, dass ihr die Überraschung darüber bestimmt ins Gesicht geschrieben stand. Denn Hayley fragte: »Was?«
Becca erwiderte: »Ich hab nur gerade darüber nachgedacht, wie ich da hinkommen soll, wo ich hin will, und du kannst offenbar meine Gedanken lesen.«
»Schön wär’s«, gab Hayley zurück. »Also. Soll ich dich irgendwo absetzen?«
»Ja. Bitte.« Becca suchte die Bücher heraus, die sie für ihre Hausaufgaben brauchte, und fügte noch hinzu, dass sie über Hayleys Angebot froh sei, weil sie nicht wie sonst, wenn Derric etwas anderes vorhatte, mit dem Fahrrad gekommen sei. Insofern saß sie an der Schule fest.
Sie steuerten auf den Pick-up der Cartwrights zu, als ihnen Isis Martin auflauerte. Sie war nicht allein, sondern hatte ihren Bruder im Schlepptau. Sie rief: »Hier ist er, Mädels. Ich möchte, dass ihr Aidan kennenlernt.«
Becca hatte mit dem Jungen nicht mehr geredet, seit sie ihn im South-Whidbey-Gemeindezentrum getroffen hatte. Sie belegten nicht dieselben Kurse, und beim Mittagessen mied er die anderen Schüler und saß immer allein in der Ecke, entweder am Tisch oder auf dem Boden. Jetzt zerrte ihn seine Schwester über den Parkplatz. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er sah aus, als würde er eine Maske tragen.
So was von armselig … kam offenbar von einem der beiden Martins. Gefärbte Haare wie komisch … schien ein Gedanke Hayleys zu sein wie auch hofft Derric zu ersetzen … nie im Leben … Mehr konnte Becca nicht aufschnappen, da Isis mit Volldampf voraus ins Gespräch einstieg.
Sie sagte: »Hier ist er«, als sie sich alle bei Hayleys Pick-up trafen. »Das ist Aidan. Wir fahren zum Haushaltswarenladen. Wie heißt er noch mal, Aidan? Ich habe irgendwo eine Liste. Oh, da ist sie. Sie lag in meinem Statistikbuch. Mann, ich hasse Statistik. Also wir fahren zu dem Haushaltswarenladen, weil ich ’ne ganze Menge Zeug für Nancy besorgen soll. Sie ist unsere Großmutter. Nancy Howard. Ich hab euch doch schon von ihr erzählt, oder? Sie kann es nicht ausstehen, wenn wir Großmutter zu ihr sagen, deshalb müssen wir sie mit ihrem Vornamen anreden. Mann, Aidan, jetzt sag doch was. Sei nicht so verpeilt.«
Bei diese San-Diego-Internetgeschichte … denn wenn sie sucht … lief es Becca eiskalt den Rücken hinunter. Ihr Blick ging zu Aidan, als ziehe er ihn magisch an. Er betrachtete sie mit einem undurchdringlichen Blick. Wie, fragte sie sich, hatte er es geschafft, diesen ausdruckslosen Blick zu perfektionieren? Sie strengte sich an, etwas von seinem Flüstern aufzufangen, aber Isis’ gedankliches Geplapper sprengte Beccas Schädel. Bitte, sie muss … es geht nicht anders … Freunde sein. Ja klar, als wäre das möglich … hätte nie auch nur darüber nachdenken sollen … es hat ihm gefallen und er liebt mich und selbst jetzt gibt es niemanden, der ihn … ich war immer da … wichtiger als alles andere … und so ging es in einer Tour weiter. Becca tastete nach ihrem Hörer, drehte die Lautstärke ihrer AUD-Box auf und spürte, wie sie die darauffolgende Explosion weißen Rauschens sofort besänftigte.
Sie sagte: »Deine Großmutter hat uns vorgestellt.«
»Echt? Nancy? Wann? Oh mein Gott! Warst du das Mädchen, das er kennengelernt hat, als er Seth Darrow getroffen hat? Komisch! Er hat nämlich gesagt … na ja, macht nichts. Aber Aidan, warum hast du mir nicht gesagt, dass du Becca schon kennst?«
»Du hast mir keine Chance gegeben.« Als sich Aidan schließlich zu Wort meldete, überraschte es sie ein wenig. Überdruss und Langeweile schwangen in seiner Stimme mit. Er sagte: »Gehen wir«, und ohne auch nur in Hayleys Richtung zu blicken, drehte er sich um und marschierte in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
Isis sagte: »Mann, er ist so was von unhöflich.«
Dann machte sie sich auch wieder über den Parkplatz davon. Hayley sah Becca an und zuckte mit den Schultern. Aber selbst mit der eingestöpselten AUD-Box, die das Flüstern ausblendete, konnte Becca Hayley ansehen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie fragte sich, ob es daran lag, dass der Name von Seth, ihrem Exfreund, gefallen war. Hayley stellte die Sache klar, als sie in den alten Pick-up stiegen, dessen Türen mit der verblassenden Aufschrift Smugglers Cove Blumenfarm versehen war.
Sie fuhren auf der kurvenreichen Straße, die von der Highschool nach Langley führte. Der Wald reichte bis zum Straßenrand, und Hayley hielt konzentriert nach Rehen Ausschau. Sie sagte zu Becca, ohne in ihre Richtung zu sehen: »Es muss wegen Aidan sein. Ich hab darüber nachgedacht, es muss wegen ihm sein.«
»Was?«
»Du hast doch gesagt, dass sie Angst hat.«
»Hab ich das?«
»Ja. Du hast gesagt, Isis hätte Angst. Hat Angst. In der Mittagspause.«
Becca senkte den Blick auf ihren Rucksack auf dem Boden des Pick-ups. Dann antwortete sie vorsichtig: »Oh, das hatte ich ganz vergessen«, und nahm sich fest vor, nichts von dem Flüstern zu verraten, das sie aufgeschnappt hatte, während Isis in der Kantine vor sich hin geplappert hatte.
»Ich wollte dich fragen, warum du das gesagt hast. Zuerst habe ich gedacht, Isis will, dass wir sie mögen, und hat Angst, dass wir es nicht tun«, erklärte Hayley. »Aber schon beim Mittagessen schien mehr dahinter zu stecken. Und ich wollte dich fragen, ob du dasselbe gedacht hast. Ob … ob du gedacht hast, dass irgendwas mit ihr nicht stimmt, weil du das gesagt hast. Nur … Jetzt denke ich, dass es wegen Aidan ist.«
Becca warf Hayley einen Blick zu. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest und ließ die Straße nicht aus den Augen, weshalb sich Becca bei ihr sicher fühlte. Aber sie traute diesem Gefühl nicht. Das konnte sie sich nicht leisten. Deshalb schöpfte sie aus ihrer eigenen Erfahrung und sagte: »Auf die Insel zu ziehen, wenn man, na ja, kein Kleinkind mehr ist, ist total schwer. Alle hier kennen sich seit der Vorschule. Zu versuchen, Freunde zu finden, kann einem ganz schön Angst machen, weil alle Leute schon in festen Cliquen zu sein scheinen.«
Hayley sah kurz zu ihr herüber. »Du hast es doch auch hingekriegt. Es läuft gut für dich.«
»Nach außen hin vielleicht. Aber innerlich nicht wirklich.«
»Du hast Derric und Seth. Du hast Jenn. Du kennst mich, zwar nicht so gut, wie du sie kennst, aber trotzdem, und jetzt sitzen wir hier zusammen im Pick-up, und ich jage dir doch keine Angst ein, oder?«
Becca lächelte. Das Letzte, wozu Hayley Cartwright in der Lage wäre, war, irgendjemandem Angst einzujagen. Sie war viel zu nett. Und auch Becca spürte, dass etwas von Isis Martin ausging. Es schien Angst zu sein, aber sie wusste nicht, wovor. Sie fragte: »Warum Aidan?«
»Wie? Oh. Du meinst, warum ich glaube, dass Isis’ Probleme mit Aidan zu tun haben? Habe ich zuerst gar nicht. Aber heute in der Mittagspause … wie sie versucht hat, ihn aus der Kantine zu bugsieren? Und dann gerade eben. Ich meine, wow, könnten die zwei noch verschiedener sein? Und da ist noch was anderes: Wo sind ihre Eltern? Sie redet wie ein Wasserfall, aber bisher hat sie ihre Eltern mit keinem Wort erwähnt.«
Becca wollte auf dieses Thema nicht eingehen, weil sie auf keinen Fall über ihre eigenen Eltern reden wollte. Doch der Gedanke an ihren eigenen Widerwillen, über ihre Mom und ihren Stiefvater zu sprechen, brachte sie dazu, Hayleys Worte in einem anderen Licht zu betrachten. Sogar das Flüstern, das von Isis und ihrem Bruder ausging, hatte nichts mit ihren Eltern zu tun, und das war eigenartig.
Sie sagte: »Ich weiß nicht, Hayley. Sie wird dir bestimmt irgendwann erzählen, was mit ihr los ist. Wenn du über deine Familie redest, wird sie wahrscheinlich auch über ihre sprechen. Und falls sie sich so merkwürdig verhält, weil ihre Familie Probleme hat …« Beccas Stimme verstummte, als sie sah, wie sich Hayleys Gesichtsausdruck veränderte. Sie hatte etwas gesagt, das das andere Mädchen getroffen hatte. Aber sie wusste nicht, was es war. Sie lockerte beiläufig den Hörer in ihrem Ohr, sodass er ihr auf die Schulter fiel, ohne dass Hayley es mitbekam. Sofort hörte sie nach der Gehhilfe … umso schlimmer wird es, und wenn er erst im Rollstuhl sitzt … muss mich darum kümmern, denn Mom kann auf keinen Fall … und jetzt, wo Brooke voll rumnervt … es ist mir egal, es ist mir egal, nur lüg nicht, Hayley, das tust du nämlich, und du weißt es … halt die Klappe halt die Klappe halt die Klappe.
Becca war erschrocken über die Vehemenz von Hayleys Gedanken, die sich hinter dem freundlichen Äußeren des Mädchens verbargen. Langsam steckte sie den Hörer wieder ins Ohr.
Was sie am Ende ihres Gesprächs wusste, war ganz einfach. Wenn etwas mit Isis und Aidan Martin nicht stimmte, dann stimmte auch etwas mit Hayley Cartwright nicht.