KAPITEL 10
Der Geiger, der mit Seth und seiner Band im South-Whidbey-Gemeindezentrum geprobt hatte, war auch zum Djangofest in der Stadt. Er hieß Parker Natalia, kam aus Kanada und hatte lange in einer kanadischen Band namens BC Django 21 gespielt.
»Bis sie mich irgendwann rausgeschmissen haben, weil sie angeblich jemand besseren gefunden haben«, sagte der junge Mann achselzuckend. Doch Seth ahnte, dass sich hinter dem Achselzucken eine ganze Menge Enttäuschung verbarg, und wenn sich jemand mit Enttäuschung auskannte, dann war er es. Deshalb hatte er Parker angeboten, mit Triple Threat zu jammen, wann immer es ihn während ihrer Proben ins Gemeindezentrum verschlug. Das war zum einen, um ihn aufzuheitern, aber auch weil er so verdammt gut Geige spielte. Seth hatte keine Ahnung, wie irgendjemand, der Ohren und ein Gehirn hatte, Parker Natalia aus einer Band hatte werfen können.
Schließlich überredete Seth die anderen Mitglieder von Triple Threat, Parker zu jeder ihrer Proben einzuladen, mit dem Hintergedanken, dass er während des Djangofestes mit ihnen auftreten würde. Es sei höchste Zeit, einen Geiger in die Band aufzunehmen, um ihr musikalisches Repertoire zu erweitern und über ihren Status als Hintergrundband für Wohltätigkeitsveranstaltungen vor Ort hinauszuwachsen. Noch wichtiger sei, dass Parker Natalia eine in Seths Augen entscheidende Eigenschaft beisteuerte: Er hatte Mädchenschwarm-Potential. Und mehr Publikum sei ebenso wichtig wie ein wachsendes Repertoire.
Seth hatte beschlossen, Parker seinem Großvater vorzustellen, weil er eine Schlafmöglichkeit für ihn suchte. Eine der Besonderheiten des Djangofestes war, dass die Bürger der Stadt die Musiker, die während des Festivals auftraten, bei sich wohnen ließen. Leider war Parker nicht offiziell Teil des Programms – anders als seine ehemalige Band BC Django 21, die einen Auftritt hatte und im Hause eines musikliebenden Bürgers untergebracht war.
Seth hatte erfahren, dass Parker in seinem Auto an einer abgelegenen Stelle auf der Festwiese schlief. Seine Mittel waren begrenzt, und er wollte kein Geld für ein Motelzimmer ausgeben. Das wenige Geld, das er hatte, musste so lange reichen, bis er Whidbey Island wieder verlassen würde, um nach Hause zurück zu fahren. Also begnügte er sich mit einem Schlafsack auf dem Rücksitz seines Ford Taurus und nutzte die sanitären Anlagen auf der Festwiese – sofern sie geöffnet waren.
Seth hatte eine bessere Idee. Es war zwar kein Motelzimmer, aber in jedem Fall besser als der Rücksitz des Taurus. Und auch ein Badezimmer mit Dusche würde ihm zur Verfügung stehen, wenn es Parker nichts ausmachte, dafür ein Stück zu laufen. Voraussetzung war natürlich, dass Ralph Darrow damit einverstanden war.
Als sie Ralphs Grundstück erreicht hatten, ließ Seth Gus aus dem VW und sah zu, wie der Labrador auf das Haus zu lief. Er und Parker schlenderten hinter dem Hund her und fanden Seths Großvater vor dem Holzschuppen bei der Arbeit, zusammen mit Becca King, Derric Mathieson und einem Berg Holz. Drei Klafter Brennholz waren angeliefert worden. Ralph war dabei, es zu stapeln, und Becca und Derric halfen ihm dabei. Gus sprang um sie herum, um auf sich aufmerksam zu machen.
»Gebt dem Hund einen Knochen, bevor ich ihm eins überbrate«, sagte Ralph zur Begrüßung.
Daraufhin lief Becca zur Kiste auf der Veranda, und Gus lief ihr hinterher, weil er genau wusste, was sich darin befand.
Seth nickte Derric zur Begrüßung zu und stellte Parker ihm, seinem Großvater und Becca vor, als diese zum Holzhaufen zurückkehrte. Sie lächelte und sagte zu Parker: »Du warst im South-Whidbey-Gemeindezentrum. Ich war dabei, als du mit Seth und seiner Band gespielt hast. Das war total klasse.«
Parker lächelte zurück und sagte: »Danke«, während er Ralph Darrow und Derric die Hände schüttelte.
Er und Seth beteiligten sich am Holzstapeln, während Seths Großvater eine Pause machte und den jungen Leuten die Arbeit überließ. Er wischte sich die Hände an einem seiner Cowboy-Taschentücher ab und erklärte: »Das hätte selbst Tom Sawyer nicht besser gekonnt. Wie laufen die Proben, Lieblingsenkel?«
»Super«, antwortete Seth. »Parker macht bei uns mit.«
»Tatsächlich?«, gab Ralph zurück und musterte Parker.
Ralphs zweifelnder Tonfall ließ vermuten, dass er das für keine gute Idee hielt, und Parker fiel rasch ein: »Nicht langfristig. Nur bei ein paar Nummern fürs Djangofest.«
Seth fügte hinzu, dass Parker zu den vielen Gypsy-Jazz-Fans gehörte, die jedes Jahr nach Whidbey Island kamen, um Musiker aus der ganzen Welt spielen zu sehen. »Er hat mal in einer Band aus Kanada gespielt«, sagte Seth. »BC Django 21.«
»British Columbia«, fügte Parker erklärend hinzu. »Dafür steht BC.«
»Jedenfalls«, fuhr Seth fort, »weißt du ja, dass die Musiker während des Festivals immer bei den Leuten aus Langley unterkommen. Und ich hatte mir gedacht …«
»Aha«, sagte Ralph knapp.
Becca musste lächeln. Sie wusste, worauf die Unterhaltung hinauslief. Sie wusste auch, dass Seth seine Lektion gelernt hatte und sich hütete, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen, die das Eigentum und Grundstück seines Großvaters angingen. Seth wollte, dass Parker in dem Baumhaus unterkam, das er im Wald gebaut hatte. Letzten Winter und Frühling hatte er Becca ohne das Wissen seines Großvaters dort wohnen lassen, aber diesen Fehler wollte er nicht noch einmal begehen.
»British Columbia, was?«, sagte Ralph umgänglich. »Wo denn da?«
»In den Kootenay Mountains«, antwortete Parker. »Die Stadt heißt Nelson.«
Seth bemerkte, wie Becca bei Parkers Worten erstarrte, doch er wusste nicht, warum. Derric sah es auch, und sein Blick wanderte von Becca zu Parker und zurück zu Becca, als hätten die beiden eine Botschaft ausgetauscht, die außer ihnen keiner zu entschlüsseln vermochte. Ralph schien nichts gemerkt zu haben und sagte bloß: »Hab noch nie davon gehört«, woraufhin Parker ergänzte: »Das liegt nördlich von Spokane.«
Becca kehrte rasch zu ihrer Arbeit zurück, um ihre Reaktion zu überspielen, und Derric tat es ihr gleich. Aber Seth sah, dass sie weiterhin aufmerksam zuhörte. Als sie mit dem Holzstapeln weitermachte, war sie so fahrig, dass ihr der Hörer der AUD-Box aus dem Ohr fiel.
»Jedenfalls«, setzte Seth wieder an, in der Hoffnung, die Zustimmung seines Großvaters zu erhalten, »schläft Parker zurzeit in seinem Auto, und da dachte ich, er könnte doch im Baumhaus wohnen und vielleicht deine Dusche im Erdgeschoss benutzen, wenn es Becca nichts ausmacht. Es wär ja nicht lange. Nur für die Dauer des Djangofests. Mehr oder weniger.«
Bei mehr oder weniger warf Ralph ihm einen kurzen Blick zu und sagte: »Das muss Miss Becca entscheiden. Es ist schließlich ihr Badezimmer.«
Becca erwiderte: »Ich hab damit kein Problem, aber hast du Parker gesagt, dass er ein Stück zu laufen hat?«
»Ich zeig ihm, wo das Baumhaus ist«, bot Seth an und fügte ein wenig nervös hinzu: »In Ordnung, Grandpa?«
Ralph machte eine ausladende Armbewegung in Richtung Wald, der hinter dem Teich begann: »Es gehört dir«, und Becca sagte: »Ich komm mit, Seth«, bevor irgendeiner – vor allem Derric – Gelegenheit hatte, sie abzuhalten.