KAPITEL 14
Nancy Howards Haus befand sich auf derselben Straße wie die Highschool und der Gemeindepark, aber viele Kilometer weiter westlich auf der anderen Seite der Schnellstraße. Auf dem Weg dorthin passierten sie das fruchtbare Ackerland von Midvale Corner, auf das recht schnell zunächst das weitläufige Tal von Maxwelton Valley folgte und dann ein Waldgebiet und eine kurvenreiche Straße, die schließlich am südlichen Ende einer riesigen Bucht endete, deren extremes Niedrigwasser ihr seinen Namen gegeben hatte: Useless Bay. Bevor sie die Bucht erreichten, bog Isis nach rechts von der Straße ab und fuhr eine enge Auffahrt hoch. Maxwelton Art stand auf einem aus Holz geschnitzten Schild, auf dem handgemalte Weißkopfseeadler, springende Schwertwale, schwimmende Lachse und grasende Rehe abgebildet waren.
»Das ist von Großmutter«, sagte Isis über das Schild. Und als sie aus dem Wagen stiegen und einen halbkreisförmigen Hof betraten, der mit einer dicken Schicht Holzspäne bedeckt war, drang Motorenlärm zu ihnen, der von hinter dem Haus kam.
Hayley ging hinter Isis eine Treppe hinauf, die offenbar entlang einer Garage gebaut worden war. Sie folgten dem Motorenlärm. Das führte sie an einem Balkon entlang und um das Haus herum, wo eine Terrasse einen Werkbereich überblickte, der so mit Schutt übersät war, dass sich Hayley fragte, wie sich irgendjemand durch die Stämme, Äste, Holzblöcke, halb fertigen Skulpturen, beiseite geworfenen Holzstücke, verschiedenen Kettensägen, Pfrieme, Hämmer, Handsägen, Nägel, Schrauben, Stifte und Farbeimer bewegen konnte. Inmitten dieses Durcheinanders bearbeitete die Großmutter der Martins einen gigantischen, aufrechten Holzblock mit einer sehr großen, kreischenden Kettensäge. Sie trug gewaltige Ohrenschützer, damit ihr Gehör nicht zu Schaden kam, und einen Overall und ein langärmeliges T-Shirt, um ihren Körper zu schützen. Außerdem hatte sie eine Schutzbrille auf und einen Schutzhelm auf dem Kopf.
Hayley musste lächeln. Palo Alto, so dachte sie, hatte Einkaufszentren und mindestens einen Starbucks, wenn nicht ein halbes Dutzend. Aber sie wäre jede Wette eingegangen, dass es dort im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern niemanden gab, der auch nur annähernd wie Isis Martins Großmutter war.
Als Nancy Howard eine kurze Pause machte, die Kettensäge ausschaltete und einen Schritt zurücktrat, um ihre Arbeit zu begutachten, brüllte Isis: »Hey, Nance!«
Ihre Großmutter sah auf und nahm die Ohrenschützer ab. »Wo in Gottes Namen habt ihr gesteckt?«, wollte sie wissen. »Wo ist dein Bruder?«
»Macht sich fürs Laufen fertig. Wir waren auf dem Markt. Das ist Hayley Cartwright.«
»Bills Tochter«, sagte Nancy Howard. »Du siehst genauso aus wie seine Mom.«
»Was machst du da?«, fragte Isis ihre Großmutter.
»Also, das ist eine ganz schön dämliche Frage. Nach was sieht’s denn aus? Das ist das Sills-Road-Projekt, von dem ich dir erzählt habe. Weiß Gott, warum sie einen Bären wollen – gibt nichts Blöderes, wenn du mich fragst –, aber wenn es das ist, was sie wollen, und sie haben das nötige Kleingeld, um dafür zu bezahlen, dann kriegen sie halt einen Bären.« Sie zog mit den Zähnen den Ärmel ihres T-Shirts zurück, warf einen Blick auf die Herrenuhr an ihrem Handgelenk und sagte zu Isis: »Zwei Stunden. Hier unten muss einiges weggeräumt werden, und ich will, dass du und Aidan euch darum kümmert. Alles klar?«
Isis sagte zu Hayley: »Sklavenarbeit. Hab ich nicht wieder ein Glück?« Und dann zu ihrer Großmutter: »Aye, aye, Captain Howard, Sir.«
»Und behalt Aidan im Auge«, fügte Nancy hinzu.
Isis murmelte etwas, das Hayley nicht hören konnte. Sie winkte aber fröhlich, rief: »Mach ich«, und führte sie zurück zur Vorderseite des Gebäudes. Hayley sah, dass das eigentliche Wohnhaus auf der anderen Seite des Grundstücks lag. Dort flog genauso viel Schutt herum wie überall sonst auf dem Grundstück. In der Nähe befanden sich jedoch fertige Holzschnitzereien, die offenbar den sterbenden Garten schmücken sollten.
Aidan kam aus dem Haus. Er hatte Laufschuhe an, hatte sich aber sonst zum Joggen nicht weiter umgezogen. Während er auf sie zukam, führte Isis Hayley in die offene Garage, in der zwei Fahrräder an einem Holzanhänger lehnten. Sie sagte zu Hayley: »Schnapp dir eins von den beiden. Wir radeln, er läuft.« Und zu Aidan: »Lauf schon mal los. Wir holen dich ein.«
Er zuckte mit den Schultern und joggte die Auffahrt entlang, als Isis ihr Fahrrad aus der Garage schob. Es war ein uraltes Ding mit Rädern wie Donuts, was, wie sich herausstellte, auch auf Hayleys Fahrrad zutraf. Die Fahrräder gehörten Nancy und Linda-der-lesbischen-Liebhaberin, erklärte ihr Isis. Sie hatten nur einen Gang, waren aber auch die einzigen Transportmittel im Angebot.
Die beiden Mädchen fuhren los und holten Aidan schnell ein, der sich kooperativ zeigte und entlang des Straßenrands joggte. Nur etwa zweihundert Meter von Nancy Howards Auffahrt entfernt sprang Aidan jedoch von der Straße und verschwand auf einem Wanderweg im Wald. Obwohl Isis ihn weglaufen sah, protestierte sie nicht. Sie fuhr einfach weiter in Richtung Strand, als sei nichts Ungewöhnliches passiert.
Hayley fuhr auf ihre Höhe. »Sollten wir ihm nicht folgen?«
Isis warf einen Blick in die Richtung, in die ihr Bruder verschwunden war. »Das macht er eh nicht mit. Und er wird da drin sowieso nur rauchen, falls er es geschafft hat, Großmutter ein paar Streichhölzer zu klauen. Wir treffen ihn später wieder auf der Straße. Und die alte Dame denkt, wir kleben an ihm wie zwei Kletten. Komm. Wettrennen bis zum Strand?«
Die Mädchen erreichten Maxwelton im Handumdrehen. Die Gemeinde bestand aus den riesigen Anwesen von Leuten, die durch die Technologieindustrie des Nordwestens reich geworden waren, und kleinen alten Strandhäusern. Letztere gehörten schon seit Generationen Familien aus Seattle, die nur auf die Insel kamen, wenn das Wetter schön war. Ein Baseballplatz und ein winziger Spielplatz dienten den Bewohnern als Treffpunkt, und dank einer Bootsrampe konnten sie eine Bootsfahrt in der Useless Bay unternehmen, wenn der Wasserstand hoch genug war.
Auf diese Bootsrampe fuhr Isis, gefolgt von Hayley, zu. Sie ließ das Fahrrad an ihrem Rand auf den Boden fallen und wartete, dass Hayley dasselbe tat. Dann liefen sie zusammen zum Strand.
Er bestand überwiegend aus sehr nassem Sand, ein wenig Treibholz, einer Menge Schlamm und einem halben Dutzend Gezeitentümpel. Spaziergänger mit Hunden schlenderten entlang des breiten Strands der Useless Bay, die wie ein Hufeisen von dem stark bewaldeten Indian Point im Süden bis zu Double Bluff Light reichte. Dort konnte man die großartigen hellbraunen Steilhänge aus sandfarbener Erde bewundern, die dem Ort seinen Namen gaben.
Isis sagte zu Hayley: »Ich will dir etwas zeigen. Ich habe eine Wahnsinnsidee …«, und marschierte auf Indian Point zu. Keine hundert Meter weiter warnte jedoch ein großes Schild potenzielle Strandspaziergänger, dass es sich um ein privates Grundstück handelte und der Zutritt für Fremde verboten sei.
Hayley wies Isis darauf hin, die sich über die Warnung lustig machte und weiterging. Sie erklärte: »Kein Strand kann privat sein. In Kalifornien gibt es so was überhaupt nicht. Selbst wenn du ein Filmstar oder sonst was bist, kannst du die Leute nicht von deinem Strandhaus in Malibu fernhalten.«
»Isis!«
Das andere Mädchen blieb stehen und rief: »Was?«
Hayley suchte nach Worten. »Es ist … Hier laufen die Dinge anders. Der Strand ist privat.«
»Das ist voll ätzend. Ich will dir was zeigen.«
»Jemand wird rauskommen und rumschreien und …«
»Meine Güte! Du hast doch nicht wirklich Angst vor Leuten, die rumschreien, oder?« Isis lief weiter. »Sollen sie doch die Polizei rufen, wenn es ihnen nicht passt. Bis sie eintrifft, sind wir längst über alle Berge.«
»Aber wenn es ein privates Grundstück ist …«
Isis stampfte mit dem Fuß auf. »Hayley! Stell dich nicht so an, verdammt noch mal.«
Hayley blickte nach links und kam sich vor, als würde sie etwas Verbotenes tun. Die Häuser, die ihnen am nächsten waren, schienen unbewohnt zu sein. Sobald der Herbst kam, würden noch mehr Häuser leer stehen. Und überhaupt, sie waren durch ein Feuchtgebiet vom Strand getrennt, was war also das Problem, wenn sie und Isis einfach an ihnen vorbeiliefen? Sie waren schließlich keine Einbrecher. Sie waren einfach zwei Mädchen, die im Sonnenschein am Strand spazieren gingen. Daher folgte sie ihr.
Irgendwann kamen Hayley und Isis zum Ende des Feuchtgebiets, wo sie erst ein unbebautes Grundstück, dann ein winziges Strandhäuschen zu ihrer Rechten und schließlich ein weiteres, mit einer Kette abgesperrtes unbebautes Grundstück erreichten. Isis blieb vor einem Haus stehen, das größer war als alle anderen. Zu Hayleys Entsetzen steuerte sie direkt darauf zu und kletterte, ohne zu zögern, über eine niedrige Mauer, die einen kleinen Hof vom Strand trennte. Sie sagte zu Hayley: »Ist kein Problem. Ich komme schon seit Juni hierher. Das Haus steht zum Verkauf. Es ist leer. Komm schon.«
Zumindest, dachte Hayley, während sie Isis folgte, klettert sie nicht durch ein offenes Fenster oder drückt eine Glasschiebetür ein. Das, was sie Hayley zeigen wollte, war eine Feuerstelle sowie der dazugehörige Sitzbereich mit einem überdachten, in den Boden eingelassenen Whirlpool und der Art Außenküche, wie man sie in Zeitschriften sah.
»Ist das nicht der totale Hammer?«, fragte Isis. »Genau so etwas werde ich haben, wenn Brady und ich verheiratet sind. Natürlich wird es bis dahin noch Jahre dauern, weil er zuerst Medizin studieren muss und das alles, aber sobald er anfängt, richtig Kohle zu machen, werden wir am Strand wohnen.« Am Haus lehnte ein Stapel Strandstühle, und Isis nahm sich einen, während sie redete.
Hayley beobachtete ungläubig, wie Isis einen Stuhl zur Feuerstelle brachte, dann einen weiteren holte, sich hinsetzte und Hayley bedeutete, dasselbe zu tun. »Natürlich werde ich Brady nichts davon erzählen. Du verrätst doch nichts, oder? Er kommt hierher zu Besuch, falls Aidan und ich Weihnachten immer noch hier sind.« Isis kramte in ihrer Handtasche, während sie redete, und merkte schließlich, dass Hayley sich ihr nicht angeschlossen hatte. Sie sagte: »Ich kann die Klappe einfach nicht halten, weil ich so angespannt bin. Wie geht es dir? Du siehst heute so hübsch aus. Diese Farbe passt perfekt zu deinem Teint, der auch perfekt ist, und mit ›perfekt‹ kenne ich mich aus, meine Mom ist nämlich Dermatologin. Und außerdem …« Sie fand endlich, was sie suchte, und holte ein schmales Chrometui heraus, aus dem sie eine Zigarette nahm.
Isis bemerkte Hayleys überraschten Blick und erklärte: »Ich hab mit dem Rauchen aufgehört. Das ist eine elektrische Zigarette. Hast du die schon mal gesehen? Schau.«
Man musste sie nicht anzünden, aber wenn sie daran zog, glühte die Spitze, und was wie Rauch aussah, war eigentlich geruchloser Dampf. Dadurch bekäme sie das Nikotin, das sie brauche, sagte Isis. Leider sei sie immer noch abhängig. Und das sei ihre Art, damit umzugehen. Es sei die Idee ihrer Mom gewesen.
»Meine Eltern wissen alles über mich«, vertraute sie Hayley an. »Dass ich Sex mit Brady und mit zwei anderen Typen vor ihm hatte, dass ich rauche, dass ich Diätpillen genommen habe, bis sie mich erwischt haben, und gekifft habe, auch bis sie mich erwischt haben. Und dass ich einmal Oxycontin genommen habe. Nur einmal. Wir reden über alles, weil das Letzte, was sie brauchen, noch ein Kind ist, das gerne Dinge für sich behält.«
Als sie zu der Stelle auf der Straße zurückkehrten, an der Aidan im Wald verschwunden war, wartete er bereits auf sie. Er schloss sich ihnen wortlos an, und sie gingen gemeinsam zurück zu Nancy Howards Haus. Nancys Lebensgefährtin Linda war mittlerweile eingetroffen. Isis erklärte, dass sie Lindas Nachnamen nicht kenne und auch nicht kennen wolle, dafür würde es sie aber unheimlich interessieren, warum Linda nicht zumindest ihren Oberlippenbart entfernte. Dann packte sie Hayley ins Auto, während sich Aidan stumm auf den Weg zum Haus und in sein Zimmer machte, in dem er laut Isis »einen Stapel Playboy-Magazine unter dem Bett« versteckte.
Wie versprochen, fuhr Isis Hayley nach Hause. Von Maxwelton zur Smugglers Cove Blumenfarm war es ziemlich weit, und Isis plapperte die ganze Strecke über in einer Tour weiter. Als sie die Farm erreichten, bat Hayley ihre Freundin, sie am Anfang der Auffahrt herauszulassen, aber Isis erklärte, dass sie das auf keinen Fall tun werde, und bog direkt ein.
Sie fragte: »Gehört das alles deiner Familie? Jetzt kapier ich’s. Du wolltest nicht, dass ich mitkriege, dass ihr reich seid. Wow, was ist das für eine Scheune?«
»Die ist für Hühner.«
»Hühner? In so einer großen Scheune? Wer hätte das gedacht. Meine Mom hat mir nie erzählt, dass es hier so was gibt. Das ist ja wie in Unsere kleine Farm.«
Während sie sprach, rumpelten sie die Straße entlang auf das Haus zu. In der Ferne konnte Hayley sehen, dass ihr Dad aus der großen Scheune herausgekommen war, in dem der Traktor stand. Er schleppte sich über den Hof und verlangte von seinen Beinen, so zu funktionieren wie früher, während er sich mithilfe der Gehhilfe aufrecht hielt. Es gab ihr einen Stich, zu sehen, wie er sich abmühte.
»Mom sagt nie irgendwas Nettes über Whidbey Island«, fuhr Isis fort. »Wenn Mom anfängt, über Whidbey herzuziehen, sagt meine Großmutter immer: ›Du hast nie gewusst, wann es dir gut ging, Lisa Ann.‹ Lisa Ann ist meine Mom. Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie viele Lisas es in ihrem Alter gibt? Millionen. Deshalb hat sie mich Isis genannt. Ich meine, wie viele Isisse wirst du in deinem Leben treffen? Ich sag ihr immer, dass sie ihren Namen zu Chloe hätte ändern sollen, wenn sie Lisa Ann nicht ausstehen kann, denn in ihrer Generation gibt es nicht viele Chloes. Oder Beulahs.« Iris lachte. »Beulahs wird es bestimmt nie viele geben.«
Hayley beobachtete ihren Dad. Er hatte die große Platane erreicht, deren Schatten auf einen Teil des Hauses fiel. Als er dort eine Pause einlegte, bemerkte er das herannahende Auto. Er hob eine Hand, um zu winken, und Hayley hielt die Luft an. Aber er verlor das Gleichgewicht nicht.
Isis hielt an und sagte: »Also, danke, Hayl. Du bist die Beste. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel geredet. Wie ich schon gesagt habe, ich bin einfach angespannt. Danke, dass du mich erträgst.«
Hayleys Dad stolperte. Hayley biss sich auf die Lippe. Sie packte die Türklinke und erklärte: »Muss los. Ich seh dich in der Schule, ja?«
Dann stieg sie aus dem Auto und eilte zu ihrem Vater. Hinter ihr hörte sie, wie Isis das Auto wendete und fröhlich die Auffahrt hinunter donnerte.
Hayley hütete sich, ihrem Vater Hilfe anzubieten. Stattdessen lief sie neben ihm her und erzählte ihm von ihrem Tag, während sie sich langsam auf die Hintertür zu bewegten. Als sie zwei Stufen erreichten, nahm Hayley den Arm ihres Vaters. Er brummte: »Ich bin kein alter Knacker, Hayley«, und schüttelte sie ab. Zum Glück öffnete sich die Tür und Hayleys Mom kam heraus.
Sie ließ sich von ihrem Mann nicht mit einem »lass mich in Ruhe« abwimmeln und erklärte: »Red keinen Unsinn, Bill. Ich lasse bestimmt nicht zu, dass du hinfällst und dir ein Bein brichst.« Er lenkte ein, und sie brachten ihn ins Haus. Von dort machte er sich auf den Weg durch die Küche zum hinteren Teil des Hauses, wo sich das untere Bad befand.
Darauf hatte Hayleys Mom offenbar gewartet, denn sobald die Badezimmertür zu war, sagte sie zu Hayley: »Setz dich an den Tisch. Wir beide müssen uns unterhalten.«
Hayley tat wie geheißen. Sie sah, dass die Broschüren vom Reed College und von der Brown University auf dem Tisch lagen. Nicht nur hatte Tatiana Primavera mit ihrer Mom gesprochen, sondern ihre Mom war auch in ihr Zimmer gegangen und hatte ihre Sachen durchwühlt.
»Was genau ist hier los?«, wollte Julie Cartwright von ihrer Tochter wissen.
Hayley stellte sich dumm. »Hm? Die habe ich aus der Schule. Ms Primavera …«
»Ich weiß alles über Ms Primavera und ihre Empfehlung, dass du dich entweder bei Reed oder Brown bewerben sollst. Aus meiner Sicht ist das eine ausgezeichnete Idee, weil beide Hochschulen Stipendien vergeben und du die entsprechenden Noten hast. Außerdem bieten sie auch berufsintegrierte Studiengänge, Darlehen mit niedrigen Zinsen und finanzielle Hilfe an, aber nichts davon …« Sie schlug mit der Hand auf den Tisch, als sie nichts sagte, »… wird dir irgendwas nützen, wenn du nicht bald in die Gänge kommst. Ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung dafür, warum du noch nicht mit deinem Bewerbungsaufsatz angefangen hast.«
»Ich habe damit angefangen.«
»Ach ja? Und wann hattest du vor, ihn Ms Primavera zu zeigen?«
»Das ist nicht so leicht.«
»Und das soll ich dir abkaufen?«, fragte Julie. »Lass mich mal nachdenken. Du hast seit der siebten Klasse in Englisch nur die besten Noten geschrieben, und auf einmal ist ein Aufsatz für deine College-Bewerbungen zu kompliziert? Willst du mir wirklich weismachen …«
»Mom«, unterbrach sie Hayley.
»Komm mir nicht mit ›Mom‹. Ich habe schon genug andere Sachen, um die ich mir Sorgen machen muss.«
Hayley hörte das Zittern in der Stimme ihrer Mutter, und um die ganze Situation noch zu unterstreichen, ging die Spülung im unteren Bad, und sie hörte, wie der Wasserhahn lief, sich die Tür öffnete, und ihr Vater mit der Gehhilfe gegen den Rahmen schrammte. Obwohl er leise vor sich hin fluchte, konnte man ihn bis in die Küche hören. Hayley und ihre Mom blickten beide in seine Richtung.
»Ich habe schon genug am Hals«, sagte Julie Cartwright.
»Ich gehe nicht aufs College.«
»Was soll der Unsinn? Ist das Seths Idee, damit du auf der Insel bleibst?«
»Seth hat nichts damit zu tun.«
»Glaubst du das wirklich? Es würde ihm nur zu gut in den Kram passen, wenn du hier auf der Farm bleiben und nie einen Gedanken daran verschwenden würdest, irgendwohin zu gehen, sei es aufs College oder auch nur ins Einkaufszentrum.«
»Hayley geht nicht aufs College?« Brooke war aus dem Wohnzimmer, wo sich Cassidy gerade etwas im Fernsehen ansah, in die Küche geschlüpft. Wie immer war der Ton zu laut.
»Deine Schwester und ich besprechen etwas«, sagte Julie Cartwright zu ihrem mittleren Kind. »Das ist eine private Unterhaltung. Und du sollst Zeit mit Cassie verbringen.«
»Sie will den Fernseher nicht leiser machen«, gab Brooke zurück, »und außerdem ist Hayley damit dran, auf sie aufzupassen.«
»Brooke, ich habe dir gesagt …«
Brooke zog ungestüm einen Stuhl vom Tisch. »Und ich sage dir, dass ich es satt habe, auf sie aufzupassen, und dass ich es satt habe, Sachen zu machen, die Hayley eigentlich tun sollte, wie auf dem Markt helfen, und ich habe es satt, Hühnerscheiße auszumi…«
»Brooke Jeanette, wenn ich noch einmal so eine Ausdrucksweise von dir höre, weißt du, was passiert.«
»Was?«, wollte Brooke wissen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Was willst du tun? Mir den Mund auswaschen?« Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Zimmer und den Flur entlang zum hinteren Teil des Hauses. Hayley und ihre Mutter hörten beide den Knall, als sie mit ihrem Vater zusammenprallte.
Bill Cartwright schrie auf, und Brooke kreischte: »Es tut mir leid!«
Während sie aus der Küche eilte, sagte Hayley zu ihrer Mutter: »Ich kann die Insel nicht verlassen, und ich werde die Insel nicht verlassen.«