KAPITEL 16
Es war Jenn McDaniels, die das Thema Isis ansprach. Sie tat es auf ihre typische Art: ohne irgendwelche Beschönigungen. Sie saßen in der Mittagspause am Tisch, und das Erste, was Jenn losließ, war, dass Isis Martin sie nicht mit ihrer Anwesenheit beehrt hatte. Stattdessen saß sie mit ihrem Bruder auf der anderen Seite der Kantine, wo Aidan in der Regel für sich blieb. Becca wünschte, sie wären näher dran, damit sie ihr Flüstern aufschnappen konnte, denn sie schienen ein sehr ernstes Gespräch zu führen. Aber Becca konnte nur das Flüstern ihrer Freunde hören, die unmittelbar um sie herum waren. Jenn dachte, dass sie Isis nicht ausstehen konnte, Hayley fragte sich, wann Jenn mit der Sprache rausrückt und es zugibt, weil es eh keinem was ausmacht …, und Derric dachte nie gewusst, dass es ein Album gibt, und was soll ich jetzt tun …, woraufhin sie den Blick auf ihn richtete und sich fragte, was das zu bedeuten hatte. Sie steckte den Hörer ins Ohr, damit sie sich darauf konzentrieren konnte, was an ihrem Tisch gesagt wurde, anstatt zu hören, was Leute dachten. Jenn sagte: »Bevor die Tussi aufgetaucht ist, gab es keine Brände.«
Hayley erwiderte: »So etwas solltest du nicht mal andeuten, solange du keine Beweise dafür hast, Jenn.«
»Ich deute nichts an, ich spreche es aus. Diese Dumpfbacke ist nicht ganz dicht, nie hält sie die Klappe, ständig dreht sich alles nur um sie, sie tut so, als wäre sie deine Freundin, und dann … wie, hey, so, wie sie diesem Parker am Konzertabend nach draußen gefolgt ist, obwohl alle sehen konnten, dass er auf dich scharf war.«
»Da kommt sie«, sagte Derric leise.
Isis sieht ein bisschen zerknirscht aus, dachte Becca. Auf der anderen Seite der Kantine schlurfte ihr Bruder nach draußen. Isis ließ sich auf einen Stuhl am Tisch fallen und erklärte: »Er hat einen schlechten Tag, und die ganze Welt ist schuld daran.« Sie redete mit niemandem im Besonderen, aber Hayley war diejenige, die fragte: »Stimmt was nicht?«
Jenn sagte lautlos zu Becca: »Und schon geht’s los«, und neben ihr hörte Becca Derric kichern. Sie konnte es den beiden nicht verübeln, weil Hayleys einfache Frage schon als Stichwort reichte.
Isis antwortete: »Er ist total fertig wegen Amerikanischer Literatur. Ich meine, es war nur ein blöder Test, mehr nicht, aber der Lehrer hatte gesagt, dass die Klasse einen schreiben würde, und er hat’s vergessen. Und er hat nicht gelesen, was sie lesen sollten, ein Kapitel in Moby Dick oder so, und jetzt ist es für ihn das Ende der Welt. Brüder. Sei froh, dass du eine Schwester hast, Hayl.«
»Jenn hat Brüder«, warf Becca ein. »Sie weiß, wie das ist.«
Isis sah sie an, ihr Blick vage und verschwommen, als befände sich Becca auf der anderen Seite des Raums. Sie erwiderte: »Jenn? Oh, Jenn. Du hast Brüder?«
»Zwei«, antwortete Becca, weil sie genau wusste, dass Jenn nie im Leben mit dem Mädchen sprechen würde.
Isis sagte: »Ich hatte auch zwei. Jetzt nur noch einen, aber … Ich wünschte, ich hätte eine Schwester. Hayley, kann ich mit dir sprechen? Unter vier Augen?« Und dann zu den anderen: »Nichts für ungut, Leute, aber das ist was Persönliches.« Sie stand auf und wiederholte: »Hayl? Also, nur, wenn es dir nichts ausmacht. Du bist die Einzige, mit der ich … du weißt schon.«
Hayley stand auf. Sie steckte den Rest ihres Mittagessens in eine Papiertüte, sagte: »Oh Gott. Na klar«, und folgte Isis. Sie verließen die Kantine in Richtung Treppenhaus, das zu den oberen Klassenzimmern führte.
»Ich sag’s euch, mit der Tussi stimmt was n-i-c-h«, verkündete Jenn.
»Du hast das t vergessen«, klärte Derric sie auf.
Mit oder ohne t, Becca dachte über Jenns Abneigung gegen Isis Martin nach. Jenn war immer sehr empfindlich und das ganz besonders, wenn sie dachte, dass jemand aus privilegierten Familienverhältnissen stammte. Isis’ ständiges Geplapper hatte ihnen alles über ihr Leben in Palo Alto, ihren Freund Brady und ihre Eltern verraten, die beide Ärzte waren und somit in Jenns Augen im Geld schwammen. Isis hatte ein Auto, ein iPhone, ein iPad und eine Garderobe, die sie nicht im örtlichen Secondhandladen erworben hatte. Das allein wäre für Jenn schon Grund genug gewesen, sie nicht ausstehen zu können. Aber die Wahrheit war, dass Isis Martin nicht die einzige Person war, die seit dem ersten Brand auf der Insel und in der Nachbarschaft neu angekommen war. Ihr Bruder war auch neu auf Whidbey. Und das galt auch noch für jemand anderen.
Sie ging zur Bibliothek, um diese Person zu überprüfen: Parker Natalia. Denn nicht nur Isis und Aidan, sondern auch Parker hatte vor dem letzten Feuer die Aula der Highschool verlassen. Und jetzt, am Ende eines sehr trockenen Sommers, wohnte Parker in Ralph Darrows Haus im Wald.
Sie ließ Derric mit Jenn zurück. Jenns alter Freund Squat Cooper hatte sich gerade zu ihnen gesellt, und auf sein »Was geht, Leute?« folgte unausweichlich eine Aufforderung, an der Debatte darüber teilzunehmen, wer eher dazu neigte, Brände zu legen: Jungs oder Mädchen. Da Squat sich nur zu gerne an dieser Diskussion beteiligte, konnte Becca problemlos allein losziehen. Sie sagte lediglich »Bibliothek« zu Derric und fügte dann »Bis später?« hinzu. Er nickte.
In der Bibliothek war ein Computer frei. Sie loggte sich ein und überlegte, wo sie anfangen sollte. Der logischste Schritt schien zu sein, als Erstes seine Geschichte zu überprüfen. Er hatte gesagt, dass er aus Nelson wäre und dass seine Familie dort schon seit vielen Jahren ein Restaurant besitze, das Natalia heiße … Wenn das alles der Wahrheit entsprach, würde sie die Bestätigung im Internet finden, weil man dort alles finden konnte, wenn man wusste, wo man suchen musste.
Und das galt auch für das Natalia, ein italienisches Restaurant, das auf sizilianische Küche spezialisiert war. Wie sich herausstellte, hatten sogar Zeitungen aus Calgary und Vancouver Kritiken darüber geschrieben, obwohl sie so weit weg waren. Das stimmte also tatsächlich, und es befand sich genau dort, wo Parker gesagt hatte. Was Parker persönlich betraf …
»Warum hast du gelogen?«
Becca wirbelte herum.
Da stand Aidan Martin. Er las über ihre Schulter, was auf dem Computerbildschirm stand.
Bei dem Wort »gelogen«, wusste Becca, dass sie mehr von dem Jungen erfahren musste als das, was er laut aussprach. Sie nahm den Hörer aus dem Ohr und fragte: »Wovon redest du?«
Irgendein Geheimnis … half ihr nicht besonders weiter. Und warum interessierte es ihn überhaupt, dass sie Geheimnisse hatte? Wie es aussah, war sie nicht die Einzige.
Er erwiderte: »Du hast gesagt, du würdest eine Hausaufgabe für Kunst machen.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Gesichter zeichnen? Gesichter vergleichen? An dem Tag im South-Whidbey-Gemeindezentrum? Nur belegst du Kunst gar nicht, also hast du gelogen. Warum?« Bei Kann sich Leute in der ganzen verdammten Welt ansehen, wie lange bräuchte sie da wirklich, um … fingen Beccas Hände an zu schwitzen, vor allem, da er vorher Kunst erwähnt hatte.
Sie fragte: »Und woher weißt du das?«
»Dass du Kunst nicht belegst? Weil ich Kunst belege und du bist nicht in meiner Klasse.«
»Äh … alles klar, Aidan. Aber es gibt mehr als einen Kunstkurs in der Schule, weißt du.«
»Klaro. Aber in den anderen bist du auch nicht.«
»Und woher weißt du das?«
»Weil ich mir deinen Stundenplan angesehen habe.« Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht … wenn wir erst mal ins Gespräch kommen … Freund, aber wie ich Isis kenne …
Becca hörte, wie in ihrem Innern die Alarmglocken losgingen. Sein Flüstern ging in mehr als eine Richtung, und ihr gefiel keine. Sie fragte: »Wieso interessiert dich das? Und davon abgesehen gibt es noch andere Kunstkurse auf dieser Insel außer denen an der Schule, okay?«
Er zog einen Stuhl herüber und setzte sich neben sie. Dann sah er auf den Bildschirm, der weiterhin Verweise auf das Natalia-Restaurant in Nelson, B.C., anzeigte und sagte: »Ist das nicht der Nachname von diesem Geigertypen? Natalia. Bist du scharf auf ihn?« Weil dieser dunkle Typ …
»Ich habe eine Cousine in der Stadt«, erwiderte Becca, die noch einmal die Geschichte benutzte, die sie Parker aufgetischt hatte. »Sie hat das Restaurant, das Parkers Familie gehört, nie erwähnt, und ich wollte es mir ansehen. Kannst du mir vielleicht erklären, warum dich das irgendetwas angeht?«
»Hey, locker bleiben.«
»Ich werd nicht locker bleiben. Du hast dir meinen Stundenplan angesehen, du willst wissen, warum ich etwas über ein Restaurant in Kanada nachlese, du wirfst mir vor, dass ich lüge, und ich werde nicht …«
»Was geht?« Es war Derrics Stimme. Becca hatte weder gehört noch gesehen, wie er in die Bibliothek gekommen war. Und jetzt stand er da, und sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er da war, um dafür zu sorgen, dass sie niemand belästigte.
Aidan stand auf, sagte: »Hi, Alter«, und dachte Ärger, den ich nicht brauche.
»Hi«, erwiderte Derric. Aber das war alles. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort.
Becca loggte sich aus, weil nur eine Sache schlimmer sein konnte, als dass Derric sich fragte, warum Aidan Martin sie nervte, und das war, dass Derric sich fragte, warum sie sich im Internet über Nelson, B.C. erkundigte.
Sie sagte zu ihm: »Hi. Du warst aber schnell fertig.«
»Fertig womit?«
»Mittagessen.«
»Der Unterricht fängt in fünf Minuten an. Ich wollte dich zu deinem Klassenzimmer begleiten.«
Als würde sie sich verlaufen … dachte Aidan, aber zumindest sprach er es nicht aus. Zu Becca sagte er mit einem trägen, langsamen Lächeln: »Vom Gong gerettet«. Und »Bis später, Leute«, zu beiden.
Derric sagte zu ihm: »So ein Pech wegen Amerikanischer Literatur«, obwohl er nicht besonders mitfühlend klang.
Aidan runzelte die Stirn. »Was ist mit Amerikanischer Literatur?«
»Der Test oder was das war«, antwortete Derric. »Deine Schwester hat uns erzählt …«
Aidan brach in schrilles Gelächter aus. Die Elternbeirats-Mom, die die Bibliothek in der Mittagspause beaufsichtigte, fauchte sie alle an, sie sollten ruhig sein oder gehen. Aidan erwiderte: »Das hat sie gesagt?« und dann drehte er sich um, schulterte seinen Rucksack voller Bücher und schob die Tür auf.