KAPITEL 17
Derric sprach kein Wort, während sie zu Beccas nächster Unterrichtsstunde gingen, Gesundheitskunde. Aber sie wusste, dass sie beide dasselbe dachten. Ihm ging durch den Kopf werde ihn im Auge behalten …, und obwohl sie ihm am liebsten gesagt hätte, dass er sie nicht vor Aidan zu beschützen brauchte, fühlte sie sich in dessen Gegenwart immer unwohl.
Als sie am Klassenraum angekommen waren, fragte sie ihn: »Glaubst du, dass Isis gelogen hat?«
»Wegen Amerikanischer Literatur?« Und als Becca nickte, fuhr Derric fort: »Vielleicht will Aidan sie als Lügnerin hinstellen. Oder Jenn hat recht.«
»Dass Isis die Brandstifterin ist?« Er sah sie einen Moment prüfend an. Dann klingelte es zum letzten Mal, und sie wussten, dass sie zu spät zum Unterricht kommen würden. Er sagte: »Ich weiß nicht. Aber ich habe ein ungutes Gefühl … Wahrscheinlich ist es besser, erst mal einen großen Bogen um die beiden zu machen, Becca.«
Das war sicher keine schlechte Idee. Gleichzeitig wollte sie um jeden Preis verhindern, dass jemand wie Aidan Martin hinter ihr Geheimnis kam.
Nach der Schule fiel ihr ein, wie sie zumindest einen Teil ihrer Sorgen loswerden könnte. Sie nahm den kostenlosen Inselbus von der Schule nach Langley, und als sie in der Nähe des Cliff Motel ausstieg, hatte sie ihren Bestimmungsort schon fast erreicht. Es war kein Tag, an dem Derric Josh Grieders großen Bruder spielte, also war die Luft rein. Zumindest dachte sie das. Doch dann sah sie einen vertrauten Pick-up vor dem Motel parken.
Und gerade als Becca beschlossen hatte, später wiederzukommen, lief Chloe Grieder aus dem Büro. Als das kleine Mädchen sie sah, rief sie: »Becca! Du musst dir Grandmas Kuchen angucken. Er sieht aus wie ein Kürbis und ist für Halloween. Für den Kirchenbasar. Also, es ist noch nicht der richtige, weil, es ist ja noch nicht Halloween und sie übt nur. Aber wir dürfen heute Abend ein Stück essen. Den musst du dir angucken!«
Becca lächelte. Nur eine Siebenjährige konnte sich für einen Kuchen in Kürbisform dermaßen begeistern. Sie ging auf Chloe zu, umarmte sie und fragte: »Ein Kürbiskuchen?«
»Für die Kirche.« Sie zeigte auf die andere Straßenseite, wo die Christian Missionary Alliance ihre Kirche hatte. An Halloween verwandelte sich der Mehrzwecksaal der Kirche in einen Basar, ein Geisterhaus und noch vieles mehr, was ein Kinderherz höher schlagen ließ.
Becca folgte Chloe ins Büro und ins dahinter liegende Wohnzimmer der Grieders, wo das übliche Chaos herrschte. Chloe machte die Küchentür auf: Ihre Großmutter saß an dem alten, mit Resopal beschichteten Küchentisch und begutachtete zusammen mit Diana Kinsale den Kürbiskuchen, von dem das kleine Mädchen so geschwärmt hatte.
»Hallo, Schatz«, begrüßte Debbie Becca wie üblich. »Was meinst du? Die Farbe stimmt nicht, oder? Das Orange ist zu kräftig.«
»Kommt, wir essen ihn auf!« Unaufgefordert kletterte Chloe auf Diana Kinsales Schoß.
Diana hatte sich auf ihrem Stuhl umgedreht und lächelte Becca liebevoll an. Doch Becca lächelte nicht sofort zurück. Diana sah so müde aus. Und wo war eigentlich Oscar? Ohne ihren Pudel verließ Diana sonst nie das Haus.
Diana streckte eine Hand nach Becca aus, und Becca nahm sie. Dann sagte Diana: »Ah.« Und wie jedes Mal spürte sie auch jetzt eine starke Verbindung zwischen ihnen beiden.
Debbie fragte erneut: »Und? Was meinst du zu der Farbe?«
Becca betrachtete den Kuchen. Die Kürbisform hatte Debbie gut hinbekommen, und der grüne Stängel stimmte auch. Aber Debbie hatte absolut recht, dass das Orange zu kräftig war. Sie bestätigte es und fügte noch hinzu: »Deshalb sollten wir ihn jetzt schnell aufessen.«
»Ja!«, schrie Chloe.
Da rührte sich Diana auf ihrem Stuhl und sagte, es wäre Zeit für sie zu gehen. Sie umfasste Debbies Arm, so wie sie es immer tat, und verabschiedete sich mit den Worten: »Mach es gut, meine Liebe«, und dann zu Becca: »Kommst du noch mit zum Wagen, Becca? Ich hab was für dich.«
Becca folgte Diana nach draußen zu ihrem Pick-up, wo sie ihr Handschuhfach durchwühlte und ein kleines, abgegriffenes Buch hervorholte. Es war schon sehr alt, und der Titel auf dem Buchdeckel war längst unleserlich geworden. Becca fragte, was das für ein Buch sei, und schlug es auf. Darin las sie den Titel Mehr sehen als die Augen.
»Was soll das heißen?«, fragte sie.
»Lies es und find es heraus.« Diana streckte die Hand aus und strich Becca übers Haar. Sie war verantwortlich für den Farbwechsel zu Blond mit Strähnchen, weg von dem Schlammbraun, mit dem Becca ihre Haare gefärbt hatte, als sie aus San Diego fliehen musste. Diana hatte sie auch zu dem neuen Haarschnitt überredet, weil sie dachte, das würde Becca ein wenig aufmuntern. Nach dem Friseurbesuch hatte sich Becca wieder halbwegs wie ein Mensch gefühlt.
Diana sagte: »Du wirkst besorgt. Probleme mit Derric?«
»Nein. Zwischen uns läuft alles gut. Aber an der Schule ist ein Junge, der mich irgendwie nervös macht.« Natürlich war da auch die Sache mit Freude, aber darüber würde sie Diana Kinsale ganz bestimmt nichts erzählen. Stattdessen fügte sie hinzu: »Wir sind ein paar Mal aneinandergeraten, und ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Derric auch nicht, und wir machen uns beide Sorgen.«
Diana sah sie fragend an. »Ist das alles?«
»So ziemlich«, log Becca. Sie hatte so weit wie möglich die Wahrheit gesagt. Natürlich gab es noch mehr, aber daraus war sie selbst noch nicht ganz schlau geworden.
»Ah.« Diana schwieg eine Weile. Becca spürte ihren Blick auf sich, wandte den Kopf um und sah ihr in die Augen, die sie mitfühlend musterten. »Ich habe die Erfahrung gemacht: Ohne Kampf gibt es kein Wachstum, und ohne Wachstum gibt es kein Leben.«
Becca ballte die Faust. »Jetzt reden Sie wieder wie Yoda.«
Diana lachte. »Dann sage ich es mal so: Wir sind auf der Welt, um zu lernen, und jeder Mensch, dem wir begegnen, hält eine neue Lektion für uns bereit. Problematisch wird es, wenn sich unsere Lektionen und die Lektionen anderer Menschen in die Quere kommen. Ist das klarer verständlich?«
»Kann sein«, entgegnete Becca. »Ich denk mal drüber nach.«
»Mehr verlange ich gar nicht.« Diana zeigte auf das kleine Geschenk, das sie Becca gegeben hatte. »Viel Spaß beim Lesen. Und komm mich mal wieder besuchen. Die Hunde vermissen dich.«
Aidan Martins Neugierde in Bezug auf Becca konnte alle möglichen Gründe haben. Aber eins war klar: Sie musste darauf reagieren. Und dazu konnte sie sich der Geschichte bedienen, die sich Becca und Debbie ausgedacht hatten, damit sich Becca an der South-Whidbey-Highschool einschreiben konnte. Seither hatten sie nur noch einmal – dem Sheriff gegenüber – darauf zurückgegriffen. Wichtig war jetzt, dass Debbie bereit war, bei der Geschichte zu bleiben.
Becca sprach es an, als sie nach Debbies Kürbiskuchenbacken die Küche wieder auf Vordermann brachten. Sie sagte zu Debbie: »Ich muss Sie etwas fragen, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«
Debbie trocknete sich gerade die Hände an einem zerschlissenen Geschirrtuch ab, das mit Hühnern und Küken bedruckt war. »Am besten legst du einfach los. Brauchst du wieder eine Schlafgelegenheit, Schatz? Du bist hier jederzeit willkommen.«
»Nein. Mit Mr Darrow komme ich ganz gut klar.«
»Was dann?« Debbie griff nach ihren Zigaretten, zündete sich eine an, atmete tief ein, hustete zu viel und zupfte sich einen Fitzel Tabak von der Zunge.
Becca nahm ihren Ohrstöpsel heraus, denn sie brauchte Debbies Flüstern, um zu wissen, wie sie es angehen sollte. Sie sagte: »Meinen Sie … Falls irgendjemand Sie fragen sollte … Könnten Sie dann noch mal sagen, dass Sie meine Tante sind, so wie letztes Jahr?«
Debbie betrachtete sie durch den Rauch ihrer Zigarette. »Wer wird mich danach fragen?«, fragte sie misstrauisch. »Steckst du in Schwierigkeiten?«
Debbie hatte Becca als ihre Nichte ausgegeben, um sie an der Schule anzumelden. Und als Jeff Corrie im vorigen November aufgetaucht war, nachdem der Sheriff ihm telefonisch mitgeteilt hatte, dass das Handy seiner vermissten Frau auf dem Parkplatz von Saratoga Woods nicht weit von der Stadt Langley gefunden worden war, hatte sie ihr ebenfalls geholfen. Jeff hatte ein Foto von Laurel dabei gehabt, aber keines von Becca. Er hatte gedacht, dass er Mutter und Tochter zusammen finden würde, denn er wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass sich Laurel von ihrer Tochter trennen würde. Aber genau das hatte sie getan.
Debbie wusste nichts von einer Laurel Armstrong, und das sagte sie Jeff auch. Sie wusste auch nichts von einer Mutter, die mit ihrer Tochter kürzlich in die Stadt gekommen war. Sie wusste lediglich, dass in Zimmer 444 ihres Motels ein Mädchen namens Becca King wohnte, das angeblich darauf wartete, von seiner Mutter abgeholt zu werden. Aber da der Fremde nicht nach Becca King gefragt hatte und auch nicht nach einem Mädchen, das auf seine Mutter wartete, hatte Debbie Becca nicht erwähnt. Sie hatte sich bloß das Foto angesehen, das er ihr zeigte, und dann gesagt, nein, diese Frau habe sie noch nie gesehen.
Und das war’s. Becca wusste, dass Debbie ihre Zweifel bezüglich Laurel Armstrong hatte und sich fragte, ob es eine Verbindung zwischen ihr, Becca King und der Mutter gab, auf die sie wartete. Aber Becca hatte Debbie bisher nicht die ganze Geschichte erzählt und hoffte, dass das auch nie nötig sein würde. Jetzt hatte Debbie ihr aber eine konkrete Frage gestellt: Wer wird mich nach dir fragen? Und ihr Flüstern verriet Becca, dass sie ihr irgendwann mehr würde erzählen müssen, als ihr lieb war. Hier stimmt doch was nicht … waren Debbies vordergründigste Gedanken. Und Wenn sie von zu Hause weggelaufen ist, kann ich verdammt viel Ärger bekommen.
Wenn Debbies Flüstern der Wahrheit nicht so gefährlich nahe gekommen wäre, hätte Becca sich darüber freuen können, wie deutlich sie inzwischen die Gedanken anderer hören konnte. Sie sagte: »Weiß ich nicht. Da ist halt so ein Junge an der Schule … Er heißt Aidan Martin und …«
Es geht also um Derric.
Es stimmte zwar, dass sich die meisten Dinge in Beccas Leben um Derric drehten. Aber diesmal war das nicht der Fall. »Es kommt mir so vor, als ob dieser Junge, dieser Aidan, mir irgendwas nachweisen will. Ich weiß auch nicht, was und warum. Deshalb würde es mich nicht wundern, wenn er eines Tages hier auftauchen und Sie über mich ausfragen würde. Und wenn Sie dann sagen könnten, ich wäre Ihre Nichte, so wie früher schon einmal …«
»Sicher, Schatz«, willigte Debbie ein. »Unsere Geschichte bleibt die gleiche, bis du mir was anderes sagst, ganz gleich, wer fragt.«