KAPITEL 18

Hayley hatte gerade einen Streit mit ihrer Mutter gehabt, als Isis an diesem Abend bei ihr zu Hause auftauchte. Julie Cartwright hatte von Hayley verlangt, dass sie für sie beide einen Termin mit Tatiana Primavera vereinbaren solle, um darüber zu sprechen, »warum sie ihr Leben verpfuschte«. Als sich Hayley weigerte, brach ihre Mutter in Tränen aus. Da kam Hayleys Vater mühsam in die Küche gehumpelt. Brooke folgte ihm und sagte: »Gut gemacht, Hayley«, woraufhin ihre Mutter schrie: »Misch dich da nicht ein.« Brooke klagte wütend, dass sie nur helfen wolle, und Hayleys Vater fragte, was eigentlich los sei. Weil ihm das aber keiner sagen wollte, log Hayleys Mutter und Brooke rief: »Ja, klar, macht nur weiter mit euren Heucheleien« und lief aus dem Zimmer.

In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür und Isis stand davor. Brooke machte ihr unfreundlich brummelnd auf: »Du willst bestimmt zu Hayley«, und ließ sie einfach stehen. Dann rief sie: »Deine Freundin, Hayley«, was so klang wie: »Da ist ein Haufen Scheiße vor der Tür«, und Hayley schämte sich, dass Isis ihre Familie so erleben musste. Rasch nahm sie sie mit auf ihr Zimmer.

Isis fing schon auf der Treppe an zu sprechen. »Ich musste unbedingt mit dir reden. Ich muss es dir einfach sagen. Ich finde, du hast dich unmöglich benommen.«

Hayley blieb stehen und drehte sich um. Auf den Stufen unter ihr stand Isis mit verkniffenem Gesicht. Sie trug eine Tasche über der Schulter und hielt verkrampft den Riemen fest.

»Warum hast du mich heute beim Mittagessen so hängen lassen?«, fragte Isis.

»Wieso? Was war denn?«

»Glaubst du etwa, ich wollte mit Aidan essen? Warum bist du nicht rüber an unseren Tisch gekommen? Du hast mich doch gesehen.«

Hayley starrte sie an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, weil sie es nicht fassen konnte, dass auch Isis jetzt über sie herfiel.

Diese fuhr fort: »Du hättest doch rüberkommen können und fragen, was los ist. Du hast doch gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Aber das bist du nicht, und ich glaube, ich weiß auch, warum.«

Hayley ging weiter die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Isis folgte ihr. »Ich war immer für dich da«, sagte sie. »Ich war deine Freundin. Ich hab dich gefragt, ob du was mit mir essen willst, ich hab alle möglichen Sachen mit dir unternommen, ich war mit dir am Strand und ich hab deinen Schmuck gekauft. Weißt du eigentlich, wie teuer das Zeug war? Und was hast du für mich getan? Du hast mich ignoriert. Als wäre es dir völlig egal, dass ich mich mit Aidan herumschlagen muss, der zufällig der einzige Grund ist, dass wir in dieses Drecksloch gezogen sind.«

Hayley fühlte sich wie ein geprügelter Hund. Aber was Isis behauptete, war völlig absurd … »Was?«, fragte sie, und ihre Stimme wurde lauter, während sie spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. »Was willst du eigentlich von mir, Isis? Meine Mutter macht mir die Hölle heiß, mein Vater ist sehr krank, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest, und nicht alles im Leben dreht sich um dich.«

Isis schnappte nach Luft, und ihr traten Tränen in die Augen. »Wie kannst du …? Du bist doch meine Freundin. Du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue. Und nach dem, was passiert ist …« Sie stolperte zu Hayleys Bett, setzte sich auf den Rand und stützte den Kopf in die Hände. »Es tut mir leid«, sagte sie weinend. »Ich glaube, ich werde verrückt. Ich habe dich angemacht, und das war nicht fair, ich weiß, und jetzt hasst du mich.«

Hayley setzte sich zögernd neben sie. Sie berührte Isis’ Schulter und fragte leise: »Was ist denn passiert?«

»Es ist Brady.« Isis schluchzte nun. »Er sagt, er will eine ›Pause machen‹. Er sagt, wir müssen mit dem Skypen aufhören und ich simse ihm zu viel und er kann mir nicht dauernd antworten, und seine Noten werden immer schlechter. Ich weiß, dass ich ihm mehr Freiraum geben muss, aber das kann ich nicht, wegen Madison Ridgeway. Die hat doch nur darauf gewartet, mit Brady anzubandeln. Ich will nur noch sterben

»Oh je«, sagte Hayley mitfühlend. »Tut mir echt leid wegen Brady.«

Isis hob den Kopf, und ihre verschmierte Mascara ließ sie wie ein Panda aussehen. »Leid? Ich sag dir, der kann was erleben.« Sie wischte sich die Nase am Handrücken ab. Hayley stand auf und holte Taschentücher von ihrer Kommode, von denen Isis gleich zehn auf einmal nahm und sie in ihrer Faust zerknüllte. »Ich werde ihn so was von eifersüchtig machen. Er wird sich nichts sehnlicher wünschen, als wieder mit mir zusammen zu sein. Ich werde mir hier einen anderen suchen und meine Facebook-Seite damit zu-posten. Aber wen? Die Auswahl hier ist ja nicht gerade berauschend … Außer vielleicht dieser Parker, aber wie komme ich … Ich könnte durch Seth an ihn rankommen. Oder ich versuche es direkt bei Seth. Er ist nicht der Schlaueste und würde gar nicht merken …«

Hayley spürte wieder, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Seth ist ein guter Freund von mir«, sagte sie.

»Ich wollte nicht …«

»Sie war mal mit ihm zusammen«, hörten sie Brookes Stimme.

Die Mädchen wirbelten herum und sahen Brooke in der Tür stehen. Sie wussten nicht, wie lange sie schon da gestanden hatte, mit ihrem kleinen, wissenden Lächeln. »Inzwischen ist er ihr Exfreund«, fügte Brooke hinzu. »Aber das gefällt ihm gar nicht.«

»Oh, mein Gott!«, rief Isis aus. »Ich wollte nicht … Kein Wunder, dass du mich hasst. Ich rede immer drauf los. Ich kann einfach nicht anders. Immer mache ich alles kaputt, dabei bist du hier meine beste Freundin, und ich habe das gar nicht so gemeint mit Seth. Er ist nur einfach nicht mein Typ. Er ist total nett, aber wenn ich Bilder von ihm und mir auf Facebook poste, glaubt kein Mensch …«

»Hört die eigentlich je auf zu quatschen?«, unterbrach Brooke Isis’ Redeschwall. »Was ist eigentlich los mit dir, Hayley? Hast du keine richtigen Freunde mehr?«

Isis versuchte, Hayleys Bedenken ihretwegen zu zerstreuen. Sie entschuldigte sich am nächsten Tag in der Schule, und diesmal war es kein theatralischer Auftritt mit Tränen, Pein und Selbsthass. Stattdessen sagte sie, kurz bevor die Schulglocke zum letzten Mal läutete, leise zu Hayley: »Kann ich mit dir sprechen?«, als diese gerade ihr Mittagessen im Spind verstaute. Hayley war einverstanden, und Isis zog sie ein Stück mit sich zu einem abgeschiedenen Ort in der Nähe der Schultreppe.

Sie begann: »Meine Mom nennt das, was ich mache ›mit Hundekot werfen‹. Nur dass sie nicht ›Kot‹ sagt, wenn du weißt, was ich meine.«

Hayley antwortete nicht, denn sie wusste nicht mehr, was sie von Isis halten sollte. Im Augenblick wirkte sie völlig verändert und war ruhig wie das Wasser der Saratoga-Passage an einem windstillen Tag.

Isis fuhr fort: »Wenn ich mich aufrege, habe ich mich nicht unter Kontrolle. Dann schreie ich rum und weine und sage das Erste, was mir in den Sinn kommt. Aber ich meine das alles gar nicht so. Es tut mir so leid, dass du diese Seite von mir kennengelernt hast, denn das hast du nicht verdient.«

Hayley fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Hör mal, Isis … Bei uns zu Hause ist momentan so viel los …«

»Dein Dad, ich weiß. Ich hab’s gesehen, als ich dich nach Hause gefahren habe. Ich wollte nichts sagen, weil du mir nicht erzählt hattest, dass er krank ist. Und ich dachte, wenn du es nicht erwähnst, willst du vielleicht auch nicht, dass ich damit anfange. Tut mir leid, wenn du gedacht hast, es wäre mir egal. Denn das stimmt nicht. Ich kann dir eine gute Freundin sein, wenn du mich lässt.«

Hayley nickte. Was Isis sagte, war absolut richtig, vor allem das über ihren Vater. Sie sprach nie über ihn und seine Krankheit. Wie konnte sie dann von anderen Leuten erwarten, den ersten Schritt zu tun und sie nach ihm zu fragen, wenn die Cartwrights offensichtlich selbst ihre Lage so lange wie möglich zu ignorieren versuchten?

»Mir tut es auch leid«, sagte sie schließlich. »Ich hätte aufmerksamer sein sollen. An dem Tag mit Aidan, als du in der Mittagspause so fertig warst. Ich weiß, wie es ist, jüngere Geschwister zu haben.« Hayley verzog den Mund. »Brooke ist gerade in einem schwierigen Alter«, fügte sie hinzu.

»Armes Ding«, sagte Isis.

»Ich versuche, das zu beherzigen.«

»Nein«, korrigierte Isis. »Damit meinte ich dich. Ich reg mich auf, weil du mich ignorierst, dabei habe ich dich ignoriert. Aber ich werde mich bessern, wenn wir noch Freundinnen sind. Ich hoffe es sehr.«

Da nickte Hayley.

Isis kam auf die Idee, am Strand von Maxwelton eine Party zu veranstalten. Sie wollte etwas Nettes für Hayley tun, und es wäre doch nicht schlecht, dort eine Party zu feiern, solange das Wetter noch mitspielte. Sie hatte an einen Grillabend gedacht und wollte »die Gang von ihrem Mittagstisch in der Kantine« einladen – wie sie sich ausdrückte – und alle anderen, die Hayley und ihr sonst noch einfielen. Und als wollte sie dadurch alles Negative, was sie über ihn gesagt hatte, wiedergutmachen, nannte Isis auch Seth. Sie sagte: »Hey, wenn er seine Band mitbringt, haben wir auch Musik. Und die können uns sicher auch Alkohol besorgen, denn sie sind ja alt genug. Und Gras. Ein bisschen Gras könnten sie auch mitbringen.«

Hayley klärte sie auf, dass Seth Darrow kein Gras rauchte, woraufhin Isis lachen musste. »Alle Musiker rauchen Gras.«

»Seth nicht. Er hat verschiedene Lernschwächen, also lässt er die Finger von Drogen. Bier trinkt er, aber nicht mehr als eins.«

»Wow«, sagte Isis anerkennend. »Ich wünschte, Aidan würde sich eine Scheibe von ihm abschneiden. Ist ja auch egal. Sollen wir Seth und seine Band trotzdem einladen? Und was ist mit diesem Parker?«

Doch bevor sie weiterreden konnte, musste Hayley sie mit der nüchternen Wahrheit konfrontieren: »Wir können dort keinen Grillabend veranstalten. Denn wir dürfen da überhaupt nicht hin.«

Isis sah sie fassungslos an. »Aber ein Teil des Strands ist doch wohl für die Öffentlichkeit zugänglich, oder? Aidan und ich könnten doch schon vorher einen Haufen von Großmutters altem Holz dorthin schleppen. Dann machen wir ein Feuerchen, nehmen Decken und Essen mit und dann …«

»Dann rufen sie sofort die Polizei«, erklärte Hayley. »Denn Feuermachen ist am Strand verboten.«

»Aber da wohnt doch kein Mensch das ganze Jahr über. Das hast du selbst gesagt, als wir dort waren.«

»Ja, in dem einen Haus«, sagte Hayley. »Und auch in ein paar anderen. Aber das sind nicht alles Sommerhäuser oder Wohnungen, die in den Ferien vermietet werden. Manche Leute wohnen da schon seit Jahren. Und zu bestimmten Zeiten darf man überhaupt nicht an den Strand.«

»Ist das blöd. Die Strandregelungen in Washington State sind echt bescheuert.« Isis überlegte mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Dann kam ihr plötzlich eine Idee, und sie sagte: »Na gut. Dann benutzen wir eben die Feuerstelle.«

»Welche Feuerstelle?«

»In dem Haus wohnt doch keiner. Es steht zum Verkauf, weißt du noch? Außerdem sind rechts und links davon keine Häuser. Wir machen unsere Party einfach in dem Hof mit der Feuerstelle, und kein Mensch wird was merken. Da stehen Stühle und ein paar Bänke aus Treibholz, und da ist sogar ein Whirlpool und die Küche im Freien!«

»Wir können nicht …«

»Ich geh mal zum Strand und check die Lage. Ich guck, wie weit die anderen Häuser davon entfernt sind. Natürlich nur die Häuser, in denen auch tatsächlich jemand wohnt. Ich sag dir dann Bescheid, und wenn keiner in der Nähe wohnt, machen wir es einfach. Wir halten die Party geheim und es wird richtig lustig, und vielleicht ergibt sich ja sogar die Gelegenheit, mit einem süßen Jungen zu knutschen. Ich hätte nichts dagegen, du? Zum Beispiel mit diesem Parker. Der ist doch total schnuckelig. Hast du ihn seit dem Djangofest wieder gesehen?«

Hayley schüttelte den Kopf.

»Also … dann werde ich mir das mal angucken.«

Hayley überlegte und kam zu dem Schluss, dass gegen »Angucken« eigentlich nichts einzuwenden war.