KAPITEL 19
Zuerst dachte Becca, das Buch, das Diana Kinsale ihr geschenkt hatte, Mehr sehen als die Augen, handelte von Visionen, aber das stimmte nur zum Teil. Denn die Visionen, um die es ging, waren keine Vorahnungen von der Zukunft, und es kamen auch keine Toten darin vor, die einem Botschaften zukommen lassen wollten. Es ging vielmehr um Menschen im alltäglichen Leben und um ihre Erinnerungen. Wie man in ihre Köpfe eindrang und die Bilder ihrer Erinnerungen und Gedanken sah. Diana Kinsale hätte Becca ebenso gut auf den Kopf zusagen können, dass sie um ihre Fähigkeiten wusste. Sie hätte ebenso gut sagen können: »Das ist der nächste Schritt, mein Schatz.«
Was Becca Angst machte, war die Tatsache, dass sie diese Visionen, die im Buch beschrieben wurden, bereits selbst gehabt hatte. Und zwar dreimal. Zweimal hatte sie die Erinnerungen eines Menschen gesehen, nachdem Diana Kinsale zwischen ihnen den Kontakt hergestellt hatte; wie bei einer dreigliedrigen Kette, in der sie das Verbindungsstück in der Mitte darstellte. Und einmal hatte sie die Verbindung ganz alleine hergestellt. Zwar wusste Diana über diese Visionen Bescheid, aber nicht, wie deutlich sie gewesen waren.
Trotzdem versuchte sie, Becca zu vermitteln, dass sie ihre Fähigkeit, Dinge zu sehen, zu hören und zu wissen, die anderen Menschen nicht zugänglich waren, noch perfektionieren konnte. Doch dieser Gedanke erschreckte Becca. Also stellte sie das Buch neben Anne auf Green Gables, das sie noch aus Kindertagen hatte, in ihrem Schlafzimmer bei Ralph Darrow ins Regal. Sie betrachtete es jede Nacht, nahm es aber nicht mehr zur Hand, um darin zu lesen.
Im Moment beschäftigten sie andere Dinge, und Derric stand dabei an erster Stelle. Seit ein paar Tagen schien ihm etwas durch den Kopf zu gehen, doch er wollte nicht mit ihr darüber sprechen. Als sie schließlich beschloss, seinem Flüstern zu lauschen, hörte sie nur ein Wort: Album.
Sie nahm sich vor, nichts zu sagen, bis Derric von sich aus damit anfing. Und am dritten Tag war es nach der Schule schließlich so weit.
Sie war bei ihm zu Hause, sie saßen zusammen in seinem Zimmer und machten Hausaufgaben, als Derric plötzlich sein Heft zur Seite legte und sagte: »Ich muss dir was zeigen.« Dann zog er eine Kommodenschublade auf und holte etwas heraus. Es war das Album, um das es in seinen Gedanken gegangen war, ein Fotoalbum. Mit dem Kopf nickte er in Richtung Bett, und sie setzte sich darauf. Er setzte sich neben sie, reichte ihr das Album und dachte dabei jetzt sieht sie es selbst.
Das Album dokumentierte die Geschichte von Derrics Adoption durch die Mathiesons in Bildern. Sie begann im Waisenhaus in Kampala und endete mit Derrics Begrüßung durch den Mathieson-Klan in seinem neuen Zuhause. Das Album war zwar nicht dick, aber sehr detailliert. Darin stand, wie alles begonnen hatte: mit Rhondas Reise nach Uganda und ihrem Besuch im Waisenhaus. Auf dieser Reise und auf den Reisen, die noch folgten, während die Mathiesons darauf warteten, dass Derrics Adoption vollzogen wurde, hatte sie unzählige Fotos gemacht.
»Toll«, murmelte Becca, während sie durch das Album blätterte, das nicht nur mit Bildern, sondern auch mit Zeitungsausschnitten, Straßenkarten und Tagebucheinträgen gefüllt war.
Derric sagte nichts, und sie sah ihn an. Er wirkte aufgewühlt. Es geht darum, was sie wissen wollen … verriet ihr, dass dieses Album irgendetwas enthielt, vor dem er Angst hatte. Sie runzelte die Stirn und fragte: »Gefällt es dir nicht? Was hast du denn?«
»Sie wollte, dass wir uns zusammensetzen und es zusammen ansehen«, sagte er angespannt.
»Das ist doch normal, oder nicht?«
Meine Güte, Becca! kam von ihm. Becca legte die Stirn in Falten und steckte sich den Hörer ins Ohr, um sich besser auf seine Worte konzentrieren zu können, anstatt auf seine Gedanken, die seine Stimmung widerspiegelten. »Ich sollte ihnen die Namen der Kinder nennen«, begann er. »Auf den Fotos, wo mehrere von uns zu sehen sind und irgendwas machen. ›Weißt du noch, wer der Junge ist?‹, haben sie gefragt. ›Und dieses kleine Mädchen? Ist die süß.‹«
Nun wusste Becca, wo das Problem lag. »Freude ist auch auf den Fotos, nicht wahr?«, schloss sie und schaute wieder ins Album, um nach dem Gesicht seiner Schwester zu suchen. Sie hatte bisher nur ein Foto von ihr gesehen, und zwar das von der Waisenhaus-Blaskapelle. Derric hatte in der Kapelle gespielt – ein grinsender Junge mit einem viel zu großen Saxophon in den Händen – und Freude war unter den Kindern, die zugehört hatten, als das Foto geschossen worden war. Ein entzückendes kleines Mädchen, das lachend in die Hände klatschte. Becca durchsuchte die Fotos nach diesem Gesicht und fand es auch, immer mal wieder zusammen mit anderen Kindern, aber nie auf einem Foto alleine mit Derric.
Becca sah hoch. »Und was hast du gemacht?«
»Was wohl? Ich habe ihnen die Namen von den Kindern gesagt, an die ich mich angeblich erinnerte. Ich hab ihnen gesagt, ich wüsste nicht mehr alle, denn es ist ja schon so lange her und ich kannte sie nicht alle gleich gut, vor allem die Kleinen nicht. Ich habe gesagt, was mir gerade in den Kopf kam. Aber das reichte ihr nicht. Hätte mich auch gewundert.«
»Freude«, hauchte Becca geradezu.
»Mein Vater muss ihr von den Briefen erzählt haben, und du kennst ja meine Mom. Wenn sie denkt, dass irgendwas nicht stimmt in meinem perfekten Leben – das ich schließlich haben muss, nachdem sie mich aus einem afrikanischen Waisenhaus gerettet hat –, dann gibt sie keine Ruhe, bis sie es herausgefunden und für mich in Ordnung gebracht hat.«
»Hat sie dich direkt nach Freude gefragt?«
»Was hast du denn gedacht? ›Dad hat mir erzählt, du hattest eine Freundin in Kampala. Ist Freude auch auf den Fotos?‹ Der einzige Grund, warum sie Fotos von ihr sehen wollte, ist, dass sie nichts dem Zufall überlässt und am liebsten in meinen Kopf kriechen würde. Und solange sie nicht weiß, warum ich einem Mädchen namens Freude Briefe geschrieben habe, ohne sie abzuschicken, und sie vor ihnen versteckt habe, werde ich keine ruhige Minute haben. Wenigstens weiß sie nicht, dass ich sie im Wald versteckt habe, denn dann würde ich schneller auf der Psychiater-Couch landen, als ich ›a‹ sagen kann.«
»Und was hast du ihr gesagt?«
»Jedenfalls nicht die Wahrheit.«
»Derric, das war doch die Gelegenheit. Sie haben dir die Vorlage geliefert.«
Er sprang vom Bett auf und lief erst mit großen Schritten zum Fenster und dann zum Schreibtisch, um schließlich vor ihr stehen zu bleiben. »Denk doch mal drüber nach. Was müssen sie von mir denken, wenn ich ihnen erzähle, dass ich acht Jahre lang Briefe an eine Fünfjährige geschrieben habe?«
»Jetzt ist sie nicht mehr fünf.«
Er atmete ungeduldig aus. »Na gut, ich habe damit angefangen, als sie fünf war, und aufgehört, als sie dreizehn war. Meinst du nicht, dass sie das ein wenig seltsam fänden? Das klingt ja fast, als wäre ich pädophil. Welcher Achtjährige schreibt einer Fünfjährigen? Ich konnte ihnen nicht sagen, wer sie wirklich war, also habe ich das hübscheste Mädchen ausgesucht und gesagt, das sei Freude.«
Er zeigte sie ihr und Becca sah, dass das Mädchen viel größer und älter war als er, mit voll entwickelten Brüsten und weiblichen Formen. Aber sie war sehr hübsch, und Becca musste zugeben, dass Derric sich eine schlechtere Alibi-Freundin hätte aussuchen können. Vorausgesetzt allerdings, er hatte vor, die Existenz seiner Schwester weiterhin vor seinen Eltern geheim zu halten.
Becca schlug das Fotoalbum zu und sah Derric an. Sie liebte ihn, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Nicht in dieser Angelegenheit. Sie sagte: »Irgendwann musst du es ihnen sagen. Und dieses Album ist deine Chance.«
»Na toll. Nachdem ich ihnen gesagt habe, dass Freude jemand anders ist? Soll ich jetzt hingehen und zugeben, dass ich gelogen habe?« Aber er wartete nicht auf ihre Antwort. Er lief zu seinem Schreibtisch, warf sich auf den Stuhl und stöhnte: »Ich hab so die Nase voll.«
»Wovon?«
»Von ihr.«
»Von Freude?«
»Nein, nicht von Freude. Von meiner Mutter, meine ich.« Dann ließ er den Kopf in die Hände fallen.
Becca stand auf und ging zu seinem Stuhl. Sie kniete sich vor ihn hin und sagte leise: »Ich verstehe das. Niemand hat ein perfektes Leben. Und es nervt dich, dass deine Mom das perfekte Leben für dich will; das würde mich auch verrückt machen. Aber weißt du was? Freude ist ein Grund, warum dein Leben nicht perfekt ist …«
»Ich werde ihnen nicht …«
»Hör mir zu. Vielleicht bist du nur so bedrückt, weil du nicht weißt, was mit ihr passiert ist. Vielleicht ist es das, was dich seit neun Jahren innerlich zerfrisst.«
»Sag mir nicht, was ich …«
»Das tue ich gar nicht, Derric. Du machst, was du willst. Das habe ich verstanden. Aber du musst herausfinden, wie es ihr geht und wo sie ist, denn wenn du das nicht tust, dann … was weiß ich … wirst du krank oder kriegst schlechte Noten oder machst dir dein Leben kaputt.«
»Und wie soll ich das bitte schön anstellen?«
Becca dachte einen Augenblick nach. Wenn Derric adoptiert worden war, sprach doch nichts dagegen, dass auch seine Schwester adoptiert wurde. Derric war auf Facebook. Freude vielleicht auch. Es war besser als nichts und einen Versuch wert, also schlug sie es ihm vor.
Das Problem war, dass sie nur Freudes Geburtsnamen kannten: Freude Nyombe. Doch der war nicht mal im Waisenhaus bekannt, weil niemand wusste, dass sie Derrics Schwester war. Es war also sehr unwahrscheinlich, dass sie unter dem Namen etwas finden würden, und das taten sie auch nicht. Den Namen »Freude« zu googeln, brachte sie ebenfalls nicht weiter. Auch jeder andere Versuch, sie zu finden, scheiterte. Ihr Projekt herauszufinden, was aus ihr geworden war, war zu Ende, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Sie waren wieder ganz am Anfang: Wenn Derric sein Gewissen beruhigen wollte, musste er mit seinen Eltern sprechen.
Becca starrte auf den Laptop. Der Bildschirmschoner hatte sich eingeschaltet, und sie sah auf die bunten Seifenblasen, die über den Monitor glitten. Schon richtig, dachte sie. Nicht jeder war auf irgendeiner Website zu finden. Nicht jeder wollte der ganzen Welt zeigen, wer er war und womit er seine Zeit verbrachte. Sie tat das auch nicht. Denn das konnte sie sich nicht erlauben. Ihre Facebook-Seite aus der Zeit vor ihrer Flucht vor Jeff Corrie hatten ihre Mutter und sie dauerhaft gelöscht.
Und der Gedanke daran brachte sie auf eine Idee. »Darf ich …?«, fragte sie und zeigte auf den Computer. Derric zuckte mit den Achseln. Dann tippte sie Aidan Martin ein und sagte zu Derric: »Aidan Martin hat aus irgendeinem Grund meinen Stundenplan studiert. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Ich habe fast das Gefühl, dass er mich verfolgt.«
»Er steht auf dich.«
»Quatsch.«
»Was dann?«
»Keine Ahnung.« Doch eigentlich wusste sie es genau. Aidan Martin war misstrauisch. Er hatte sie beobachtet, wie sie im Internet etwas über das Verschwinden von Laurel Armstrong und ihrer Tochter Hannah gelesen hatte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie für den Kunstunterricht Gesichter suchen würde. Das hatte er ihr nicht abgekauft und angefangen, Nachforschungen über sie anzustellen. Sie wusste zwar nicht, was seine Beweggründe waren, aber was er konnte, konnte sie schon lange, und sie fing an, ihn zu googeln.
Aber ebenso wie bei Freude erbrachte auch die Suche nach Aidan Martin absolut gar nichts, ganz gleich, wie viele Websites sie aufrief. Also tippte sie stattdessen Isis Martin ein, und das Ergebnis waren unzählige Bilder, die Isis’ Leben in Palo Alto dokumentierten, vor allem ihr Leben mit ihrem Freund Brady. Da waren alle möglichen Fotos von ihnen, vom Skifahren in den Bergen bis hin zu Surfausflügen am Strand. Dann gab es Bilder mit Isis und ihren Heerscharen von Freunden. Und zu guter Letzt Familienfotos. Und darunter waren auch Fotos von Aidan und ihren Eltern.
Derric warf einen Blick auf den Bildschirm. »Wen interessiert das überhaupt?«, murmelte er vor sich hin. Aber er schaute sich weiter mit Becca die Bilder an und sagte irgendwann: »Komisch, dass man nur Aidan sieht.«
Becca sah ihn an.
»Sie hat doch gesagt, sie hätte zwei Brüder«, erklärte er. »Als wir zusammen Mittag gegessen haben.«
»Wirklich?«
»Du hast ihr gesagt, Jenn hätte zwei Brüder, und da hat sie gesagt, sie hätte auch zwei. Allerdings sagte sie hatte. Vielleicht ist der zweite Bruder gestorben oder so …« Seine Stimme erstarb.
»Vielleicht wird sie nicht gerne daran erinnert.«
»Oder sie hat gelogen.«
»Das würde jedenfalls Jenn sagen.« Becca schaltete den Laptop aus und drehte sich zu Derric um. Sie überlegte, was Wahrheit und Lüge für ihn und für sie bedeuteten. Eins wusste sie jedenfalls genau: Wenn Menschen es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahmen, um das Bild, das sich andere von ihnen machten, zu beeinflussen, wenn Menschen logen, hatte das immer einen Grund.