KAPITEL 20
Becca hätte das Rätsel um Isis und Aidan Martin noch weiterverfolgt, wenn ihre Welt nicht zwei Tage später erschüttert worden wäre. Und der Mensch, der das bewirkte, war kein anderer als Derrics Vater. Der stellvertretende Sheriff von Island County, Dave Mathieson, hatte ein Projekt, das dringend in Angriff genommen werden musste, und Derric und Becca waren in seinen Augen die idealen Kandidaten dafür.
Derric erzählte ihr am Telefon davon. Sein Vater hatte Handzettel, die auf der ganzen Insel verteilt werden mussten: in Souvenirläden, Modeboutiquen, Antiquitätengeschäften, Lebensmittelläden usw. Sein Vater hatte schon Jugendliche aus den Highschools von Oak Harbour und Coupeville mit der Verteilung der Flyer in ihren jeweiligen Städten beauftragt. Jetzt brauchte er noch jemanden, der das in den kleinen Gemeinden im Süden der Insel übernahm. Er wollte auch etwas dafür bezahlen, erwartete aber im Gegenzug, dass die Kids ihre Arbeit schnell und gründlich machten. Derric sagte, er hätte die Handzettel noch nicht gesehen, doch er glaubte, dass das Büro des Sheriffs jemanden suchte, der auf der Flucht war.
Da Becca das Geld, das ihre Mutter ihr mitgegeben hatte, möglichst nicht anrühren wollte, und ihr Job, den sie im Frühling hatte, zu Ende gegangen war, erklärte sie sich sofort bereit zu helfen. Die Hausarbeit bei Ralph nahm längst nicht ihre gesamte Zeit in Anspruch, und so konnte sie nach der Schule und am Wochenende ein paar Stunden erübrigen. Also machten sich Derric und sie nach der Schule auf den Weg.
Zunächst fuhren sie nach Clinton, das sich am südlichen Ende der Insel befand, wo die Fähre vom Festland anlegte. Derric fuhr zum ersten der für den Ort typischen Geschäfte. Sie reihten sich an der Schnellstraße aneinander, auf deren anderer Seite die Klippe steil zum rauen Gewässer des Possession Sound abfiel. Er parkte vor einem Nagelstudio, das die Passanten in flimmernden Neonlettern zum Eintreten aufforderte.
Die Flyer lagen auf dem Rücksitz des Subaru. Derric machte die Tür auf und schlug vor, die Geschäfte auf der anderen Seite der Schnellstraße abzuarbeiten, während Becca sich um die Läden auf dieser Seite kümmern sollte – Cozy’s Bar, die Bank und den Gebrauchtwarenhändler. Becca stimmte fröhlich zu. Sie war noch immer fröhlich, als Derric ihr einen dicken Stapel mit Zetteln in die Hand drückte. Doch dann änderte sich ihre Stimmung schlagartig.
Haben Sie diese Frau gesehen? stand in großen schwarzen Buchstaben in zwei Zeilen oben auf dem Flyer. Und darunter war ein sehr scharfes Foto von Beccas Mutter abgebildet. Laurel Armstrong stand unter dem Bild, zusammen mit ihrem Alter und der Information, dass sie zuletzt im September in San Diego gesehen worden war. Darunter stand die Telefonnummer des Büros des Sheriffs. Und darunter stand das Wort Belohnung.
Becca hatte das Gefühl, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben. Ihre Brust zog sich zusammen, als hätte sie einen Herzinfarkt. Sie hatte es schon einmal geschafft, zu verhindern, dass man sie mit Laurel in Verbindung brachte, als sie das Handy ihrer Mutter an dem Informationsstand in den Saratoga Woods zurückgelassen hatte. Als das Mobiltelefon dem Sheriff in die Hände fiel, versuchte dieser, Laurel zu finden, was ihm aber nicht gelungen war. Damit hätte er es eigentlich bewenden lassen sollen. Aber offenbar hatte sich etwas Neues ergeben.
Derric sagte: »Bis gleich«, und überquerte die Schnellstraße, bevor sie ihn aufhalten konnte.
Becca stand eine Weile wie angewurzelt da und starrte auf das Foto ihrer Mutter. Sie vermisste Laurel plötzlich sehr, und dieses Gefühl durchdrang sie wie ein Messer. Sie dachte: Wo bist du? Warum bist du nicht zurückgekommen? Hast du mich etwa vergessen?
Natürlich hatte sie das nicht. Laurel wartete nur lange genug, bis es unmöglich war, eine Verbindung zwischen Becca King und der Frau herzustellen, die ein junges Mädchen an der Mukilteo-Fähre abgesetzt hatte, bevor sie selbst in eine Stadt in den Bergen British Columbias gefahren war, um dort einen Zufluchtsort für sie beide zu finden. Aber bei dem Gedanken an die Stadt Nelson kam Becca unwillkürlich Parker Natalia in den Kopf, der Laurel auf dem Foto erkennen könnte, falls sie je im Restaurant seiner Eltern gegessen hatte. Und das würde er dem Sheriff sicher erzählen.
Der einzige Ausweg war, die Flyer verschwinden zu lassen. Aber wenn sie das tat, würde sich der Sheriff fragen, warum sie nicht in jedem Laden, Restaurant und in jeder Boutique auslagen. Und was sollte sie ihm sagen, wenn er sie danach fragte? Wie sollte sie das überhaupt anstellen? Sie konnte ja schlecht über die ganze Insel fahren und sie wieder einsammeln.
Becca versuchte, sich zu beruhigen, und überlegte, ob diese Entwicklung nicht auch etwas Gutes haben könnte. Aber ihr fiel nichts ein. Schließlich erinnerte sie sich an einen Spruch ihrer Großmutter: Danke Gott für die kleinen Gaben. Sie versuchte, immer das Positive zu sehen, und in diesem Fall war es die Tatsache, dass kein Foto von Becca auf dem Handzettel war, das sofort ihre wahre Identität als Hannah Armstrong und Tochter der vermissten Laurel Armstrong preisgegeben hätte.
Doch die negative Seite schien zu überwiegen. Denn wenn Dave Mathieson nach Laurel suchte und eine Belohnung ausgab, musste Jeff Corrie etwas damit zu tun haben. Und das bedeutete, dass sich die Situation in San Diego geändert hatte.
Dave Mathieson klärte sie darüber auf, als sie und Derric ihm berichteten, wie weit sie mit ihrer Verteilaktion gekommen waren: Sie hatten Clinton abgedeckt und waren in einer höchst unattraktiven Einkaufszeile auf der Straße nach Langley gewesen. »Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob das mit den Handzetteln überhaupt was bringt. Aber die Polizei von San Diego und der County Sheriff dort haben die Anfrage an uns gerichtet, und sie bezahlen auch dafür, also können wir es zumindest versuchen.«
Als sie Polizei von San Diego und County Sheriff hörte, bekam Becca feuchte Hände und fragte: »Ist die Frau denn eine Kriminelle?«
»Soweit ich weiß, ist sie bloß vermisst«, erklärte Dave ihr. Becca und Derric hatten ihn vor dem Rathaus getroffen, das auch die winzige Polizeiwache von Langley beherbergte. Er hatte die dortige Polizei über Laurel aufgeklärt und von den Flyern erzählt, die Becca und Derric verteilten. Jetzt saßen die drei im Außenbereich der Pizzeria auf der First Street. Sie nippten an ihren Colas und warteten auf ihre XL-Pizza mit Oliven und Pilzen. Der Essbereich war ein Garten mit Blick auf die Saratoga-Passage, und solange die Sonne im Nordwestpazifik – wo man sich langsam auf den Winter vorbereitete – noch schien, nutzten das viele Menschen aus. An den schmiedeeisernen Tischen saßen mehrere Familien, deren Kinder herumliefen und deren Hunde um Essen bettelten.
Dave fuhr fort: »Was komisch ist: Diese Laurel Armstrong habe ich schon letztes Jahr gesucht.«
Becca schwieg. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Derric sagte nur: »Wann war das?«
»Daran kannst du dich nicht erinnern«, erwiderte sein Vater. »Zu dem Zeitpunkt warst du außer Gefecht.« Er klopfte Derric leicht auf den Kopf, um ihn an seine Zeit im Krankenhaus zu erinnern, als er im Koma gelegen hatte. »An dem Tag, als du im Wald gestürzt bist, hat jemand den Notarzt gerufen, und zwar von einem Handy, das einer gewissen Laurel Armstrong gehörte. Sie hatte es in San Diego gekauft und mit ihrer Kreditkarte bezahlt. Zuerst hatte ich gedacht, es wäre ein junges Mädchen, denn die Stimme klang nicht nach einer Erwachsenen. Also starteten wir eine Suche nach ihr, doch die war erfolglos. Kein Mensch kannte sie. Und jetzt wissen wir auch, warum.«
Die logische Frage kam von Derric, denn Becca wollte das Thema möglichst vermeiden.
»Warum?«, fragte er.
»Wenn ihr mich fragt, hat ihr Mann sie umgebracht und ist dann hergekommen, um das Handy hier zu deponieren und uns auf eine falsche Fährte zu locken. Wahrscheinlich hat er es irgendeinem Jugendlichen gegeben, der den Krankenwagen gerufen hat, und dann das Handy einfach irgendwo liegengelassen, damit wir es finden. Denn genauso ist es gekommen: Es wurde gefunden, ich habe es bis zu dem Laden zurückverfolgt, wo es gekauft wurde, über die Kreditkarte haben wir die Telefonnummer herausbekommen und dort angerufen, und der Ehemann ging dran: Er wüsste nichts von einem Handy. Wir sind gar nicht auf die Idee gekommen, ihn wegen Laurel Armstrong zu überprüfen, denn wir waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, uns um dich Sorgen zu machen. In San Diego aber glauben die Cops, dass sie ihn verlassen wollte, und dann wäre es das alte Lied: »Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich keiner haben.«
»Aber wenn die Polizei das denkt, was sollen dann die Flyer?«, fragte Derric. Sie hatten noch einen Packen Handzettel bei sich, und Derric legte seine Hand darauf und nahm dann einen, um ihn genauer zu betrachten. Becca sah weg, hinaus aufs Wasser. Das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, dass Derric eine Ähnlichkeit zwischen seiner Freundin und der Frau auf dem Foto feststellte. »Warum nehmen sie ihn in San Diego nicht einfach fest?«
»Keine Beweise. Auch wenn er sich verdächtig verhalten hat. Schließlich hat er seine Frau erst nach mehreren Monaten als vermisst gemeldet, und das spricht nicht gerade für ihn. Man hat bereits wegen dubioser Geschäfte gegen ihn ermittelt, deshalb hatten ihn Polizei und FBI schon im Visier. Und wie die Cops in San Diego mir erzählten, wird sein Geschäftspartner auch vermisst, also hat der Typ eine Menge Scheiße am Hals, wenn ich mal so sagen darf.«
»Klingt so, als hätte er Dreck am Stecken«, war Derrics Kommentar.
»Ja, klingt so. Wenn eine Ehefrau verschwindet, steckt meistens der Mann dahinter.«
Da wurde ihnen die Pizza gebracht, und Dave Mathieson wartete, bis sich jeder ein Stück genommen hatte, bevor er fortfuhr: »In der Sache mit seinem Geschäftspartner hat er sich kooperativ gezeigt. Aber als die Cops kamen und über seine Frau sprechen wollten, hat er sich sofort einen Anwalt genommen. Eine Nachbarin hatte sich nämlich gemeldet und berichtet, dass sie die Ehefrau und Tochter eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte, und da …«
Stieftochter, wollte Becca am liebsten sagen. Jeff Corrie ist nicht mein Vater. Ich kenne meinen Vater nicht. Ob Mom bei Dad ist? Ob er auch in Nelson ist? Wo bist du wo bist du wo bist du, Mom, denn …
Daves Worte unterbrachen ihre gequälten Gedanken: »… fingen die Cops an, die Sache zu untersuchen. Aber sie ist im Sande verlaufen.«
»Gut, dass du das Handy zurückverfolgt hast«, warf Derric ein.
Becca musste auch unbedingt etwas sagen. Es kam den anderen bestimmt schon komisch vor, dass sie ihren Pizzabelag studierte, als wäre er ein Objekt im Biologie-Labor. Sie entschied sich für: »Ich verstehe das nicht. Warum sollte ein Typ aus San Diego eine Spur nach Whidbey Island legen?«
»Ich hab keine Ahnung, aber ich kann dir versichern, dass die Polizei in San Diego das untersucht. Immerhin haben wir herausgefunden, dass er letzten Herbst hier war, und zwar ein paar Monate, nachdem das Handy gefunden worden war. Das gibt er inzwischen zu. Und er ist auch derjenige, der den Cops in San Diego erzählt hat, dass es eine Verbindung zu Whidbey Island gibt. Das lässt ihn zum einen unschuldig erscheinen, zum anderen kann es aber auch ein ganz schlauer Trick sein. Er wusste, dass wir das Handy gefunden haben, und wollte zeigen, dass er besorgt ist. Deshalb ist er hergekommen und hat Fragen nach seiner Frau und Tochter gestellt …«
Stieftochter, Stieftochter, Stieftochter, dachte Becca.
»… damit alle denken, dass er eine weiße Weste hat und nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hat.«
»Und wieso ist sie nicht auch auf dem Poster?«, fragte Derric. »Die Tochter, meine ich.«
Dave schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, gab er zu. »Vielleicht schicken sie ja noch ein Foto. Vielleicht denken sie auch, wo Laurel Armstrong ist, da ist auch ihre Tochter.«
Dies war wieder so ein Augenblick, um Gott für die kleinen Gaben zu danken. Aber Becca bezweifelte, dass er lange anhalten würde.
Und das tat er auch nicht.
Der South Whidbey Record erschien zweimal die Woche, mittwochs und samstags. Und die Mittwochausgabe berichtete darüber, wie Becca bald herausfand, als Seth ihr die Zeitung brachte, wie er es vorher schon einmal getan hatte.
Seth war der einzige Mensch auf Whidbey Island, der wusste, in welcher Gefahr sie schwebte. Das hatte sie ihm schon sehr früh erzählt, weil ihr nichts anderes übrig blieb. Sie brauchte jemanden, der ihr half. Und sie brauchte einen Freund. Und Seth Darrow war von Anfang an beides für sie gewesen. Als er dann die Ausgabe des Record mit Laurel Armstrong und ihrem Namen auf der Titelseite sah, nahm er die Zeitung vom Küchentisch seiner Mutter und kam damit Mittwoch nach dem Abendessen zu Ralph Darrows Haus.
Parker Natalia war bei ihm, und Becca dachte zuerst, Seth hätte ihn aus einem bestimmten Grund mitgebracht. Doch es stellte sich heraus, dass sich die beiden auf Ralphs Veranda getroffen hatten. Parker wollte nur schnell duschen, weil er »ein Date mit einer heißen Braut« hatte, und Seth gab vor, sich – auf Geheiß seines Vaters – nach Ralph, seinem Essverhalten und seinem Blutdruck erkundigen zu wollen. Das behauptete er zumindest, doch Becca merkte, dass ihm etwas ganz anderes auf der Seele lag. Also nahm sie ihren Stöpsel aus dem Ohr und hörte er soll mal weggehen, damit ich es ihr sagen kann …, und das verriet ihr, dass hinter seinem Besuch mehr steckte als die wachsende Sorge seiner Familie um Ralphs Cholesterinspiegel.
»Dad will, dass du den benutzt«, sagte er seinem Großvater und holte einen Blutdruckmesser aus der Tasche.
Daraufhin entspann sich eine hitzige Diskussion. Ralph Darrow dachte gar nicht daran, sich von seinen Kindern vorschreiben zu lassen, wie er lebte, und schon gar nicht von seinem Sohn Ralph Junior, »der momentan nicht bloß fünfundzwanzig Pfund zu viel auf den Rippen hat, Lieblingsenkel, sondern wahrscheinlich gerade sein fünftes Bier runterkippt, während er die Seahawks im Fernsehen guckt.«
Seths Einwand »Mittwochs spielen die Seahawks nicht, Grandpa«, brachte ihn nicht weit. Ralph weigerte sich, seinen Blutdruck messen zu lassen, und um das zu unterstreichen, stapfte er die Treppe hinauf.
Als Parker unter der Dusche war und Seths Großvater im ersten Stock vor sich hin schimpfte, konnte Becca ihren Freund endlich fragen: »Was ist los?«, woraufhin er ihr die Zeitung zeigte.
»Oh, nein.« Mehr fiel ihr nicht ein, als sie Laurels Foto, ihren Namen und die gleiche Information auf der Titelseite sah wie auf den Handzetteln, die Derric und sie noch immer überall verteilten. Und es gab einen Artikel zum Foto. Als sie anfangen wollte, ihn zu lesen, warnte Seth sie vor: »Es ist schlimmer, als du denkst.«
Sie sah, was er meinte, als sie auf Seite acht umblätterte, wo der Artikel weiterging, denn dort war auch ein Foto von ihr. Es war zwar ein altes Foto, aber das half ihr nicht weiter. Denn es war das gleiche Foto, das sie im Internet aufgerufen hatte, als Aidan Martin sie überrascht hatte.