KAPITEL 25

Julie Cartwright hielt Wort. Pünktlich zur verabredeten Uhrzeit kam sie durch die Tür des Highschool-Verwaltungsgebäudes zum Treffen mit Tatiana Primavera. Ihr entschlossener Gesichtsausdruck verriet Hayley, dass sie jetzt der Sache auf den Grund gehen und herausfinden würde, warum Hayley in ihrem Abschlussjahr so verändert war und auf einmal jegliche Kooperationsbereitschaft vermissen ließ.

Hayley wartete auf einem alten, wackeligen Kunstledersessel auf sie, der aus allen Nähten platzte. Sie stand auf. Wortlos gingen sie und ihre Mutter zum Empfang, wo die schulische Hilfskraft Ms Primavera anrief. Die Schülerberaterin ließ nicht lange auf sich warten. Schon nach ein paar Sekunden kam Tatiana Primavera auf ihren Jimmy-Choo-Imitationen herangestöckelt, die sie bevorzugt in der Schule trug.

Sie nahm sie mit in ihr Büro, wo die Sprechstunde mit der feierlichen Überreichung von Hayleys Bewerbungsaufsatz begann. Tatiana war begeistert, ihn endlich in Händen zu halten. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, sagte: »Hervorragend« und begann zu lesen. Aber als sie halb durch war, runzelte sie die Stirn. Sie sah erst Hayley und dann ihre Mutter an, bevor sie den Aufsatz zu Ende las und nachdenklich den Mund verzog.

»Also«, schloss sie, »das ist schon mal ein Anfang. Es enthält ein paar der wichtigsten Punkte. Aber es spiegelt nicht wider …« Sie hielt inne, als suche sie nach den passenden Worten.

Hayley wartete. Ihre Mutter saß schweigend da. Sie hatte ihre Handtasche auf dem Schoß, ihre Hände lagen gefaltet darauf und ihre Füße standen gerade nebeneinander auf dem Boden. So wie Tatiana Primavera den Blick zwischen ihr und ihrer Mutter hin und her schnellen ließ, war Hayley klar, dass ihr die Spannung zwischen ihnen aufgefallen war.

»Ich sage es mal so«, setzte diese schließlich an. »Wenn man bedenkt, welche Fächer du belegt hast und wie gut deine Noten sind, wirkt dieser Aufsatz ein wenig … Hast du das selbst geschrieben, Hayley?«

Hayley schwieg, doch sie spürte den durchdringenden Blick ihrer Mutter auf sich. Julie Cartwright sagte: »Darf ich …?« und streckte die Hand aus. Hayley wartete, bis sie den Aufsatz gelesen und festgestellt hatte, dass sie das, was ihre Mutter geschrieben hatte, Wort für Wort übernommen hatte. Noch während sie las, begann Julie Cartwright: »Soll das heißen …«, doch dann überlegte sie es sich anders. »Sie will nicht aufs College«, erklärte sie Tatiana Primavera und warf den Aufsatz auf den Schreibtisch.

Tatiana sah Hayley stirnrunzelnd an. »Gibt es einen Grund dafür?«

Hayley hätte gewollt, dass ihre Mutter die Frage für sie beantwortete und sagte, dass die Familie Hayley zu Hause brauchte, um auf der Farm zu helfen. Sie hatte ihre Mutter mit einer Frau von der Insel telefonieren hören, die ein Reinigungsunternehmen betrieb. »Ginge dreimal die Woche?«, hatte Julie Cartwright gefragt, und Hayley wusste nur zu gut, dass sie niemanden anstellen wollte, um bei ihnen zu Hause sauberzumachen.

»Hayley?«, bohrte die Schülerberaterin nach.

»Ich gehe aufs Skagit-Valley-Gemeinde-College hier auf der Insel und such mir einen Job.«

»Es gibt nicht viele Jobs auf Whidbey Island …«

»Ich werde als Putzfrau arbeiten«, unterbrach sie Hayley und warf ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zu.

Tatiana Primavera schnappte den Blick zwischen ihnen auf und fragte vorsichtig: »Gibt’s da ein Problem zwischen Ihnen beiden? Das sollten wir hier und jetzt klären, sonst kommen wir nicht weiter.«

»Es gibt kein Problem«, erwiderte Julie Cartwright.

Klar, dachte Hayley. Ihre Mutter wollte bloß nicht darüber sprechen.

Tatiana nickte, obwohl sie daran zu zweifeln schien, und kam wieder auf Hayleys Noten und die Fächer zu sprechen, die sie belegte hatte. Sie hatte überall nur Einsen, und der Unterricht war nicht leicht. Sie besuchte mehrere Kurse für Hochbegabte, lernte seit vier Jahren verschiedene Fremdsprachen und belegte einen Fortgeschrittenenkurs in Statistik. Sie hatte die Voraussetzungen, um an einer Eliteuniversität zu studieren. Wenn sie nicht so weit von zu Hause weg wollte, konnte sie Universitäten wie Washington, Evergreen, Seattle oder Puget Sound ins Auge fassen. Aber bei ihren Noten sollte sie eigentlich eher Yale, Harvard, Princeton oder Stanford anstreben.

»Ich will nicht …«

»Haben Sie dafür Kataloge?«, unterbrach Julie Cartwright sie. »Die für Brown und Reed haben wir durchgesehen, aber wenn es noch andere gibt …? Und was sollte sie sonst noch tun?«

»Du hast dich aber für die College-Zulassungsprüfung angemeldet, oder?«, fragte Tatiana. »Dann musst du deinen Aufsatz überarbeiten, denn er muss sehr gut sein. Und wie es im Moment aussieht …«

»Sie schreibt ihn neu«, sagte Julie. »Sie hatte in letzter Zeit ein bisschen viel um die Ohren. Aber jetzt geht es wieder, stimmt’s, Hayley?«

Hayley schwieg und starrte auf den Fußboden. Und als sie schließlich aufsah, zuckte sie nur mit den Schultern.

Tatiana sagte langsam: »Aha«, aber das wirkte ganz und gar nicht überzeugt. Trotzdem drehte sie sich in ihrem Stuhl herum und ging die College-Kataloge auf ihrem Bücherregal durch. Dann sagte sie noch: »Du kannst auch Informationen im Internet finden, Hayley. Komm nächste Woche wieder, und dann sehen wir, wie du dich entschieden hast.«

»Eine hervorragende Idee«, verkündetet Julie Cartwright.

Auf dem Heimweg sprachen sie kaum ein Wort. Julie sagte nur: »Kein Wort zu deinem Vater« und »Ich weiß, was du vorhast, Hayley.« Als Reaktion auf die erste Bemerkung stieß Hayley bloß einen freudlosen Lacher aus und wandte ihr Gesicht dem Fenster zu. Auf die zweite Bemerkung reagierte sie überhaupt nicht.

Als sie am Farmhaus ankamen, stand ein Auto davor, das weder sie noch ihre Mutter kannte. Hayley dachte sofort an das Schlimmste und wusste, dass es ihrer Mutter genauso ging. Julie trat auf die Bremse des alten Geländewagen und sprang sofort aus dem Wagen. Hayley lief hinter ihr her, als die Haustür aufging und Parker Natalia auf die Veranda trat.

Hayleys Vater kam mit seiner Gehhilfe mühsam hinter ihm hergehumpelt. Parker hielt ihm die Fliegentür auf und winkte Hayley zu, so als wäre er ein regelmäßiger Gast in ihrem Haus. Julie Cartwright murmelte: »Wer ist das denn …?« Da kam Brooke ebenfalls aus dem Haus und verkündete: »Er ist wegen Hayley hier«, und betonte es so, dass Hayley rot wurde. Rasch stellte sie Parker ihrer Mutter vor. Er schüttelte ihre Hand, bedachte sie mit seinem strahlenden Lächeln und sagte, dass Bill Cartwright ihn aufgefordert habe zu warten. Er sei die Smugglers Cove Road in Richtung State Park entlanggefahren und habe die Scheune mit der Aufschrift Smugglers Cove Blumenfarm gesehen. Er erinnerte sich, dass Hayley hier wohnte, und beschloss anzuhalten und Hallo zu sagen.

Bill Cartwright ergänzte: »Parker hat mich mit Geschichten aus seiner verfehlten Jugend unterhalten. Dich auch, Brooke, oder?«

»Ja, ja, wie du meinst«, murmelte Brooke und schlurfte wieder ins Haus.

Es herrschte unbehagliches Schweigen. Unter anderen Umständen hätte Hayley Parker Natalia um jeden Preis von ihrem Vater ferngehalten, denn keiner auf der Insel wusste über seinen Zustand Bescheid, außer seiner Familie, seinem Arzt und Seth. Doch Parker war ihr zuvorgekommen, und Hayley wusste nicht, was sie jetzt tun sollte.

Parker nahm ihr die Entscheidung ab und sagte: »Schöner Teich hinter der großen Scheune«, so als wolle er indirekt vorschlagen, dass sie beide dorthin gingen.

Julie Cartwright griff seine Bemerkung auf und fragte Hayley, ob sie Parker nicht den Teich zeigen wollte, da es doch so ein schöner Herbsttag sei. Doch Hayley hörte daraus allein die Aufforderung, Parker so schnell wie möglich aus der Gegenwart ihres Vaters zu entfernen.

Sie hätte am liebsten erwidert: »Mensch, Mom«, denn Parker hatte schließlich Augen im Kopf und längst mitbekommen, dass ihr Vater krank war. Doch sie sagte nur: »Okay«, und forderte Parker auf, ihr zu folgen.

Sie liefen schweigend an der Scheune vorbei, bis Parker kundtat, wie toll die Farm war. Hayley entgegnete, dass sie vor allem viel Arbeit mache. Doch Parker fand, dass es bestimmt schön sein müsste, so viel Land zu haben. In Nelson gäbe es so etwas nicht. Nelson erhob sich steil von Lake Kootenay aus bis hinauf in die Berge. Dort hatten die Menschen keinen Platz, um sich auszubreiten.

»Man kann sich ein Haus im Wald bauen, aber da sind die Elche und Grizzlys«, sagte er und lächelte.

Sie lächelte zurück. Das schien ihm Mut zu machen, und er fing an zu erzählen, was ihm auf dem Herzen lag: »Weißt du, Hayley, ich hab mich da in was reinreißen lassen und bin nicht ganz sicher, wie das überhaupt passieren konnte.«

Hayley dachte, es ginge um etwas Illegales, und wunderte sich, dass er das ausgerechnet ihr erzählte. Doch dann fuhr er fort, und ihr wurde klar, worum es ging.

Er sagte: »Isis Martin hat mich eines Abends angerufen und gefragt, ob ich Lust hätte, mir mit ihr in einem Pub in Langley Livemusik anzuhören. Sie hat gesagt, es wäre ein englisches Pub, und mich gefragt, ob ich es mir mal ansehen will. Und da ich nichts anderes vorhatte, habe ich Ja gesagt.«

Sie waren am Teich angekommen. Hayley sparte es sich, die Vorzüge des Gewässers zu preisen, denn diese waren ohnehin begrenzt. Ein blauer Himmel mit hübschen Cumulus-Wölkchen spiegelte sich im Wasser, doch was spielte das für eine Rolle, wenn der Teichbesuch ohnehin nur ein Vorwand gewesen war?

Parker fuhr fort: »Ich glaube nicht, dass ich sie irgendwie ermutigt habe, aber auf einmal waren wir ein Paar, ohne dass ich wusste, wie mir geschah.«

Hayley sah ihn von der Seite an und sagte: »So ganz stimmt das aber nicht.«

»Was?«

»Dass du sie nicht ermutigt hast.« Und als er sie fragend ansah, fuhr sie fort: »Beim Djangofest-Konzert in der Highschool. In der Pause.«

Er sah sie zerknirscht an und wurde rot. Dann schluckte er. »Was war in der Pause?«

»Du bist irgendwann raus, und sie ist dir hinterhergegangen. Und dann habt ihr …«

»Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

Hayley hielt diese Aussage für wenig glaubwürdig. Ebenso würde ein Angeklagter vor Gericht behaupten, sich nicht zu erinnern, um nicht lügen zu müssen. Sie fuhr fort: »Isis war jedenfalls ziemlich beschwingt, als sie zurückgekommen ist, und hat gesagt …« Doch Hayley hielt inne, als ihr einfiel, was Isis genau gesagt hatte und warum sie dem Kanadier überhaupt gefolgt war.

Er fragte: »Was? Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich rausgegangen bin, um eine zu rauchen. Weil ich vor einem Gig immer so nervös bin.«

Sie warf ihm einen Blick zu, als wollte sie sagen Du kannst mir viel erzählen. Aber eigentlich war es ihr egal. Sie sagte: »Am Anfang war Isis sicher, dass du schwul bist …«

»Ich bin nicht …«

»… also ist sie nach dir rausgegangen, um es zu beweisen. Und als sie zurückkam, hat sie gelacht und gesagt, dass sie sich wohl geirrt hat. Und da bin ich davon ausgegangen, dass ihr beide … Aber vielleicht hat sie dich ja auch mit jemand anders gesehen. Ist ja auch egal.«

»Mit jemand anders? Bestimmt nicht«, widersprach er. »Jedenfalls … Ach, das klingt jetzt so … Ich weiß nicht … Aber vielleicht wollte sie es später bei mir probieren und schon mal im Vorhinein ihr Revier abstecken, damit du nicht … na ja.«

Hayley sah, dass er noch stärker errötete, und sie musste zugeben, dass sie seine Verlegenheit ziemlich süß fand. Irgendwie gefiel er ihr. Und wem würde er nicht gefallen, mit seinen glänzenden Locken, seinem strahlenden Lächeln und seiner leicht gefährlichen Ausstrahlung, mit der er sich von allen anderen Jungs auf der Insel abhob?

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sagte: »Ich muss das jetzt loswerden. Als ich dich zum ersten Mal sah … Das ist mir jetzt echt peinlich.«

Er schien darauf zu warten, dass Hayley etwas sagte, aber sie hatte keine Ahnung, was er hören wollte.

Da fuhr er fort. »Ich bin auf ihre Facebook-Seite gegangen. Da hat sie zwanzig Fotos von uns beiden gepostet. Und immer, wenn ich sie sehe, hat sie ihr iPhone dabei und macht neue Fotos von uns, und eine Stunde später sind sie auf Facebook zu sehen. Ich hab keine Ahnung, warum sie das tut, denn ich hab doch gar nicht …«

»Ich glaube, das ist wegen Brady«, unterbrach Hayley ihn, um ihn aus seiner Ungewissheit zu erlösen. Sie erzählte ihm, dass sich Isis’ Freund in Palo Alto von ihr getrennt hatte. »Sie will nicht als diejenige dastehen, der man den Laufpass gegeben hat. Und irgendwie kann ich das sogar verstehen.«

Da wirkte er auf einmal sehr erleichtert und sagte: »Puh, dann ist ja gut.« Dann sah er sie mit seinen dunkelbraunen, warmen Augen an und fügte vielsagend hinzu: »Ich wette, dir hat noch keiner den Laufpass gegeben.«

Und dann war es an Hayley, die Gesichtsfarbe zu wechseln. Ihr Gesicht fühlte sich so heiß an, als wäre es rot wie eine Tomate. »Das ist jedem schon mal passiert.«

»Das bezweifle ich.« Er sah von ihr zum Teich und schien sich zu sammeln. Dann drehte er sich wieder zu ihr um und sagte rasch: »Ich möchte eine Chance.«

»Mir den Laufpass zu geben?«

Da lachte er. »Nein, so hab ich das nicht gemeint. Ich meinte, eine Chance, mit dir zusammen zu sein. Als wir uns kennengelernt haben, habe ich sofort was gespürt, und … na ja … ich glaube, dir ging es genauso. Was meinst du?«

Hayley war sich des Kompliments durchaus bewusst, das Parker Natalia ihr damit machte, und es war ein doppeltes Kompliment. Allein die Tatsache, dass dieser gutaussehende junge Mann sich von ihr angezogen fühlte, war schon an sich ein Kompliment. Aber dass er seine Zuneigung so offen und unverblümt zum Ausdruck brachte, war ein weiteres. Und diese Offenheit war ausgesprochen anziehend.

»Einverstanden«, antwortete sie lächelnd.