KAPITEL 28

Becca wusste, dass es nicht leicht sein würde, etwas über Aidan Martin herauszufinden. Im Internet suchte sie vergeblich, also fragte sie sich, ob sie ihn wohl mit seinem Betragen in der Schule erpressen könnte. Vielleicht hatte er bei einer Klausur geschummelt, eine Hausarbeit aus dem Internet kopiert, einen Mitschüler gemobbt oder gegen eine andere Regel verstoßen. Aber sie kannte niemanden, der mit ihm zusammen Kurse besuchte, und immer wenn andere Schüler zusammen abhingen, blieb er für sich.

Sie sprach mit Jenn McDaniels darüber. Sie waren zusammen in der Mädchentoilette, und Jenn rauchte heimlich eine Zigarette. Becca war ihr hinterhergegangen und hatte sich mit verschränkten Armen vor sie hingestellt und den Kopf geschüttelt. »Ich weiß. Ich will ja aufhören … irgendwann«, erklärte Jenn kleinlaut.

»Du willst in die Mädchenfußballmannschaft, nicht ich«, gab Becca zu bedenken. »Wann sind die Testspiele eigentlich?«

»Erst im April. Kein Problem. Ich hör nächsten Monat auf.« Und als sie Beccas Gesichtsausdruck sah, korrigierte sie: »Na gut. Nächste Woche. Ich höre nächste Woche auf. Zufrieden?« Und als Becca nicht antwortete: »Okay. Dann morgen.« Becca schüttelte den Kopf, und Jenn murmelte wütend vor sich hin, stapfte zur nächsten Toilette und warf die Zigarette in die Kloschüssel. »Bist du jetzt zufrieden?«, fragte sie. »Ich dachte, du wärst meine beste Freundin und nicht meine Mom.«

»Um deine Mom zu sein, kenne ich mich zu wenig mit der Bibel aus.«

»Aber sonst schleichst du schon genauso hinter mir her wie sie. Ich hab dich nicht mal reinkommen hören.« Jenn wühlte in ihrem Rucksack und holte eine kleine Flasche Mundwasser hervor.

Becca wollte gerade sagen, dass das Mundwasser nicht den Zigarettengeruch auf ihren Kleidern beseitigte, aber sie hatte Wichtigeres mit Jenn zu bereden. »Ich wollte mit dir sprechen.«

»Worüber?« Jenn gurgelte, spuckte aus und betrachtete sich im Spiegel, was selten genug vorkam. Wenn sie eins nicht war, dann eitel.

»Über Aidan Martin«, verriet Becca ihr. »Er taucht immer dann auf, wenn ich alleine bin.«

»Bei Mr Darrow?«

»Nein, noch nicht. Aber er war mit seiner Großmutter dort und weiß, dass ich bei ihm wohne. Bisher ist er immer ganz zufällig aufgetaucht. Als ich hier in der Bibliothek saß, im Gemeindezentrum oder in der Stadtbücherei … Ich würde mir ja nichts dabei denken, aber er schleicht sich immer so an mich ran und schaut mir über die Schulter. Und er sagt so komische Sachen.«

»Was denn?«

Jetzt musste Becca sich etwas einfallen lassen, aber es brauchte nicht komplett gelogen zu sein. »Wie er meinen Namen ausspricht und wie er mich ansieht, und ich habe gedacht … Was wissen wir eigentlich über ihn? Vielleicht ist er so einer, der Grundschüler entführt. Wir müssen Nachforschungen anstellen, Jenn. Im Internet habe ich nichts über ihn gefunden. Also habe ich gedacht … Was macht er eigentlich hier? Er und seine Schwester. Warum leben sie hier und nicht da, wo sie vorher gelebt haben, und vor allem: Warum leben sie nicht bei ihren Eltern?«

Jenn lehnte sich ans Waschbecken. »Wir müssen einen Blick in seine Akte werfen. Vielleicht finden wir dort was.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Wo er herkommt. Eine Warnung von einer anderen Schule vielleicht. Ein Hinweis darauf, dass er Ärger gemacht hat.«

»Und wie sollen wir an seine Akte herankommen?«

»Wir beide? Gar nicht«, gab Jenn zu. »Aber ich kenne jemanden, der es kann.«

Sie fingen Squat Cooper ab, der gerade Ingenieurswesen für Fortgeschrittene gehabt hatte. Jenn hakte sich bei ihm unter und sagte: »Dich haben wir gesucht, mein stürmischer Kindergarten-Lover.«

Squats Blick wanderte von Jenn zu Becca, und er strich sich das rostrote Haar aus der Stirn. »Warum ahne ich, dass das nichts Gutes bedeuten kann?«

Und Jenn forderte ihn auf: »Komm mit, mein attraktiver junger Freund.«

»Jetzt weiß ich, dass es nichts Gutes bedeutet«, seufzte Squat. Trotzdem ließ er sich zum Chemielabor mitnehmen, in das alle drei hineinschlichen. »Ich muss zum Unterricht«, protestierte er, gab aber schließlich nach. »Was denn?«, fragte er, nachdem Jenn ihn in eine Ecke gedrängt hatte. »Geht es um den Abschlussball? Da bist du ein bisschen früh dran.«

»Ha, ha«, gab Jenn zurück. »Als ob ich für irgendwen ein Kleid anziehen würde. Vergiss es. Wir müssen uns Aidan Martins Schulakten angucken. Er macht Becca Ärger, und wir glauben, dass er sie nicht alle hat.«

»Dann sprich doch mit dem Dekan«, entgegnete Squat. Und zu Becca gewandt sagte er: »Mobbt er dich oder was? Schön blöd von ihm. Ein Wort zu Derric, und der Typ kann einpacken.«

»Dazu kommen wir später«, unterbrach Jenn ihn. »Aber erst einmal müssen wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Wer weiß? Vielleicht läuft der Typ mit einer Waffe durch die Gegend. Einem Taschenmesser, einem Gewehr oder einer Bombe. Wir haben ja kein Sicherheitssystem oder Wachen, die unsere Rucksäcke durchsuchen. Wir wollen wissen, wer der Junge wirklich ist, und seine Akte kann uns dabei helfen. Früher hätte einer den Feueralarm ausgelöst und sich – zu dramatischer Musik und tickender Uhr – ins Büro des Schulleiters geschlichen, um Aidan Martins Akten einzusehen. Heute braucht bloß einer den Schulcomputer zu hacken. Und ich weiß auch schon, wer sich dafür am besten eignet.«

Squat hielt die Hände in die Höhe. »Keine Chance, Jenn. Nach Maxwelton habe ich schon genug Ärger. Meine Eltern haben mir den Laptop abgenommen, und selbst wenn ich ihn noch hätte, könnte ich eine Menge Ärger kriegen, wenn ich versuche, das Computersystem des Schulbezirks zu hacken. Selbst wenn ich es schaffen würde, was ich stark bezweifle.«

»Also, wenn jemand das Pentagon hacken kann«, warf Jenn ein, »dann kann doch der South-Whidbey-Schuldistrikt nicht so schwer sein.«

»Kann sein, aber ich werde es nicht tun«, stellte Squat klar und fragte dann Becca: »Warum sagst du es nicht Derric?«

»Was?« Jenn verschränkte die Hände unter dem Kinn. »›Ach, Derric. Ich hab sooo eine Angst. Bitte hilf mir.‹ Meinst du so was? Komm schon, Squat. Gib dir einen Ruck.«

»Geht nicht«, sagte er und drehte sich zu Becca um: »Tut mir leid.«

Doch Jenn ließ sich nicht so leicht entmutigen und sagte in vielsagendem Ton zu Becca: »Noch ist nicht alles verloren.« Dann gingen sie zu ihrer nächsten Stunde. Becca hatte Geometrie und Jenn Biologie. Becca dachte, Jenn wollte Squat auf irgendeine Weise unter Druck setzen, aber als keine halbe Stunde später der Feueralarm losging, wusste sie, was Jenn vorhatte.

Dass es kein geplanter Probealarm war, konnte man an den besorgten Gesichtern der Lehrer erkennen, die – zusammen mit den Schülern – das Gebäude verließen. Dies wurde auch durch die Ankunft der Löschfahrzeuge und des Feuerwehrhauptmanns fünf Minuten später bestätigt, und durch Mr Vansandt, den Schuldirektor, und den Dekan, die hektisch umherliefen. Fünfzehn Minuten später wurde grünes Licht gegeben. Und noch einmal neunzig Minuten später sah Becca Jenn erst wieder, die mit einem wissenden Lächeln das Okay-Zeichen machte, als sie auf ihrem Weg zur nächsten Klasse aneinander vorbeiliefen.

Becca konnte sich genau vorstellen, wie ihre beste Freundin das angestellt hatte. Es hatte mit der Bitte begonnen, zur Toilette gehen zu dürfen, »weil es mal wieder die Zeit im Monat war«, und das konnte man ihr nicht abschlagen. Doch anstelle der Toilette suchte sie den nächsten Ort auf, wo sich ein Feueralarm befand, und als die Schule leer war, stattete sie dem Verwaltungsbüro einen kurzen Besuch ab, in dem sich die Akten der Schüler befanden. Die anderen aus ihrer Klasse, die sich draußen versammelt hatten, würden sie nicht vermissen, weil sie ja auf die Toilette gegangen war. Und selbst wenn sich jemand fragte, wo sie war, würde der Lehrer sicher davon ausgehen, dass sie sich draußen zu einer anderen Klasse gestellt hatte.

»Die einfachste Lösung ist immer die beste, Schatz«, hatte Beccas Großmutter zu ihr gesagt. Sie hoffte bloß, dass sie recht gehabt hatte.

Und als sie Jenn nach der Schule an den Spinden traf, schien sich diese Weisheit zu bestätigen. Jenn sagte: »Bin fündig geworden«, und Becca spürte, wie ein Gefühl des Triumphes in ihr aufstieg, bis sie sah, was Jenn in der Hand hielt. Es war Aidan Martins Zeugnis. Mehr nicht. Darin standen nur seine Noten und der Name der Schule.

»Ist das alles?«, fragte Becca seufzend. Sie hatte keine Ahnung, wie ihnen das Zeugnis weiterhelfen könnte.

»Sieh mal, wo es herkommt«, sagte Jenn und zeigte auf den Namen der Schule.

Wolf Canyon Academy, ein Name, der darauf schließen ließ, dass es sich um eine Privatschule handelte. Becca wollte gerade sagen: »Na und? Das bedeutet nur, dass er auf einer Privatschule war«, bis sie sah, an welchem Ort sich die Schule befand: in Moab, Utah.

Und Jenn stellte die naheliegende Frage: »Was hatte er dort zu suchen? Hat Isis nicht immer erzählt, dass sie aus Palo Alto wären? Entweder stimmt das nicht oder sie haben Aidan in eine Privatschule in einem anderen Bundesstaat abgeschoben. Und wenn das der Fall ist, warum?«

»Weil er was angestellt hat«, schlug Becca vor.

»Worauf du dich verlassen kannst«, stimmte Jenn zu.