KAPITEL 30
Als man an dem Tag zum zweiten Mal kurz vor Ende der letz-
ten Stunde nach Hayley schickte, vermutete sie, dass Tatiana Primavera ihr versäumtes Treffen nachholen wollte. Aber als der Spanischlehrer ihr die Nachricht gab, stellte sie fest, dass sie nicht zu den Verwaltungsbüros, sondern zum Probenraum gehen sollte.
Vielleicht hat sich die Probenzeit geändert, dachte Hayley, die in der Jazzband spielte. Dort traf sie jedoch weder den Leiter der Jazzband noch ihre Bandkollegen an. Das Ganze hatte überhaupt nichts mit Jazz zu tun. Alle im Probenraum versammelten Jugendlichen waren auf der Maxwelton-Party gewesen, und dass man nach ihnen allen hatte schicken lassen, verhieß nichts Gutes, vor allem, als sie sah, wer sie erwartete.
Hayley erkannte den Feuerwehrhauptmann an seiner Uniform. Er hatte seinen Hut abgenommen und unter den Arm geklemmt, während er sich ernsthaft mit Mr Vansandt unterhielt. Hayley hörte, wie man ihren Namen rief, und als sie sich umsah, entdeckte sie Isis, die ihr genau wie vorhin zuwinkte.
Als sich die Tür hinter dem letzten Schüler schloss, ging Mr Vansandt zu dem Dirigentenpult und sagte ernst: »Keine Sorge, ihr werdet den Bus nach Hause nicht verpassen, das hier wird nicht lange dauern. Chief Levitt hat mich gebeten, euch hier zu versammeln.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Karl Levitt legte seinen Hut auf das Dirigentenpult und musterte die Gruppe ernst. Dann begann er: »Ihr solltet Folgendes wissen. Wir werden der Sache früher oder später auf den Grund gehen, aber es wäre für alle vorteilhafter, wenn ihr dabei mithelft, dass es schneller geht.«
Das Raunen unter den Schülern wurde lauter. Hayley sah, wie Becca King und Derric Mathieson, die ihr gegenüber saßen, die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten. Ihr fiel auf, dass Becca ihr Hörgerät aus dem Ohr zog, als wollte sie gar nicht wissen, was als Nächstes kam.
Und das war schlimm: »Wenn ein Feuer in der Nacht ausbricht, ist es nicht ungewöhnlich, dass man die Brandursache nicht gleich feststellen kann. Bis man sich den Brandschauplatz bei Tageslicht richtig angesehen hat, lässt sich nichts mit Sicherheit sagen. Dies trifft auch auf die abgebrannte Fischerhütte zu. Wir kannten sie anfänglich nicht, aber wir kennen sie jetzt.«
Isis atmete laut ein. Hayley sah sie an. Ihre blauen Augen waren angsterfüllt.
»Es war logisch, zunächst davon auszugehen, dass der Brand ein Unfall war: irgendein mit Drogen vollgepumpter Idiot, der beim Kochen nicht aufgepasst hat oder sich warm halten wollte. Aber jetzt wissen wir, dass etwas ganz anderes passiert ist. So wie ich es sehe, weiß das auch noch eine andere Person in diesem Raum. Und diese Person würde es sich um einiges leichter machen, wenn sie sich stellen würde.«
Einer der Jungs – Hayley konnte nicht sehen, wer – rief: »Heißt das, jemand hat die Hütte absichtlich angesteckt?«
»Eine scharfsinnige Folgerung«, erwiderte Karl Levitt trocken.
»Soll das heißen … was genau bedeutet das denn?«, fragte eine andere Stimme. Hayley reckte den Hals, um zu sehen, wer es war, aber vergebens.
»Es bedeutet, dass wir als Erstes den Brandstifter finden müssen und dann sehen wir weiter«, erklärte ihm Karl Levitt. »Wenn er sich stellt, kann er mit Milde rechnen. Wenn ihn jemand ausliefert, möglicherweise auch. Aber wenn wir ihn selbst ausfindig machen müssen, wird ihn die volle Härte des Gesetzes treffen.«
»Er will, dass ihn jemand verpfeift«, raunte ein Junge in der Nähe. Eine der Sportskanonen, wie Hayley feststellte. Der Junge blickte sich um, vermutlich auf der Suche nach einem glaubwürdigen Verdächtigen, auf den er den Feuerwehrhauptmann aufmerksam machen konnte.
Der Rest der Jugendlichen schwieg. Und der Feuerwehrhauptmann fügte nur noch hinzu: »Lasst euch das durch den Kopf gehen, Leute, okay? Mr Vansandt hier weiß, wie er mich erreichen kann. Alle Informationen bleiben vertraulich. Fürs Erste.«
Bei dem fürs Erste fingen alle an, wild durcheinander zu reden. Sobald der Schuldirektor und der Feuerwehrhauptmann ihnen erlaubten, den Probenraum zu verlassen, teilten sie sich in kleine Gruppen auf und diskutierten aufgeregt miteinander. Hayley steuerte auf ihre Freunde zu, mit denen sie immer zu Mittag aß und die in der Nähe des Schaukastens mit den Sporttrophäen standen. Isis ging zu ihrem Bruder, um mit ihm zu sprechen. Sie schlichen sich unauffällig aus dem Gebäude.
Jenn McDaniels redete gerade, als Hayley sich zu ihnen gesellte. Wie es schien, versuchte sie, Derric weitere Informationen zu entlocken. Wenn jemand etwas über das Feuer, den Tod des Junkies und die Hintergründe wusste, dann war es Sheriff Mathieson, und dann würde Derric es auch wissen.
»Wovon reden wir hier genau?«, hakte Jenn nach. »Wenn jemand den Brand gelegt hat und jemand in der Hütte war, ist das dann Mord? Oder was?«
Becca sagte: »Niemand hätte wissen können, dass der Mann sich darin versteckt. Und wenn jemand den Brand gelegt hat, ohne zu wissen, dass jemand im Haus war … Dann ist es doch nicht Mord, oder?«
»Und ob«, erwiderte Jenn. »Stimmt doch, oder?«, fragte sie Derric.
»Kein vorsätzlicher Mord«, meinte er.
»Aber wenn du ein Verbrechen begehst – wie zum Beispiel eine Bank auszurauben – und jemand stirbt, dann ist es Mord. Mit Vorsatz.«
»Wenn du eine Bank ausraubst«, wandte Squat ein, »kannst du alle Leute dort sehen. Du weißt, dass sie da sind, und raubst die Bank trotzdem aus und erschießt am Ende jemanden. Das ist anders.«
»Nie im Leben. Dafür gibt es keine besondere … besondere … Ausnahme oder so was«, erklärte Jenn.
»Keine Ahnung«, sagte Derric. »Und mein Dad hält dicht. Ich weiß nur, was ihr auch wisst: Jemand hat den Brand gelegt, und es war kein Unfall.«
»Aber du kannst doch mehr herausfinden, oder?«, fragte ihn Hayley. »Wenn der Sheriff glaubt, dass es Mord ist, würde er es dir sagen.« Wenn Derric es herausfand, würde er es ihnen allen sagen, und sie könnte Isis Bescheid geben. Und wenn das, was Isis ihr über Aidan und die Brände in Kalifornien erzählt hatte, der Wahrheit entsprach … dass ein ganzes Wohnhaus abgebrannt war … Oh Gott, dann würde sie es jemandem sagen müssen, oder? Jetzt, da sie wussten, dass jemand das Feuer gelegt und ein Mann deshalb den Tod gefunden hatte. Wenn sie es für sich behielt … wenn sie Isis nicht überzeugen konnte, es jemandem zu sagen … wenn Isis Aidan nicht überreden konnte, mit dem Sheriff zu sprechen …
Hayley bemerkte, dass Becca sie direkt ansah. Sie blickte ernst, als könnte sie Hayleys Gedanken von ihrem Gesicht ablesen. Hayley versuchte, völlig ausdruckslos dreinzuschauen. Sie musste sich das durch den Kopf gehen lassen.
»Möglicherweise«, beantwortete Derric ihre Frage. Hayley hatte sie in diesem Moment völlig vergessen. Aber da sein Blick auf sie gerichtet war, erinnerte sie sich wieder daran, dass sie die Frage gestellt hatte: Könnte Derric über seinen Dad herausfinden, wie die Dinge wirklich standen?
Jenn sagte: »Also, wenn ihr mich fragt, müssen wir es unbedingt herausfinden. Weil, da waren Leute auf der Party, die nicht mal von dieser Schule sind, und wenn jemand dieses Feuer gelegt hat, könnte es einer von denen gewesen sein.« Sie zählte die Verdächtigen mit den Fingern auf. »Da waren diese Kerle, die mit dem Alk aufgetaucht sind. Die sahen aus wie Navy-Typen von der Kaserne, oder? Sie waren zu dritt. Und dann war da noch Parker, der Geiger aus Kanada. Und zwei Leute, die hier ihren Abschluss gemacht haben, und mindestens drei weitere von der alternativen Schule.«
»Wenn Chief Levitt hierher gekommen ist, hat er vermutlich auch schon mit denen allen geredet.« Das kam von Squat Cooper. »Er würde nicht automatisch denken, dass es einer von uns war.«
»Da sind aber noch diese anderen Brände«, sagte Becca leise. Sie runzelte die Stirn, als blicke sie in sich hinein. Aber dann sah sie zu Hayley herüber, und ihre Augen schienen sich direkt in ihre Seele zu bohren. »Seit dem ersten sind sie größer und schlimmer geworden, oder?«, fragte sie in die Runde. Doch Hayley wusste, dass sich Beccas Frage vor allem an sie richtete, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, warum.
»Die Polizei muss herausfinden, wer bei jedem Feuer anwesend war.«
Squat sah von einem zum anderen und sprach aus, was alle dachten. »Wir alle waren dort, oder?«, sagte er zu Jenn.