KAPITEL 31
Ein Zimmermannskollege auf der Baustelle nördlich von Freeland erzählte Seth von der Neuentwicklung bei dem Maxwelton-Brand. Er war bei der Freiwilligen Feuerwehr der Insel und noch dazu ein Nachbar und Freund von Karl Levitt. Er hatte beim Löscheinsatz des Feuers in der Fischerhütte geholfen, und der Feuerwehrhauptmann hatte ihn auf dem Laufenden gehalten. Es war sowieso kein Geheimnis mehr. Die aktuelle Ausgabe des South Whidbey Record hatte über jedes kleinste Detail der Brandermittlung berichtet.
Seth beschloss, nach der Arbeit nach Coupeville zu fahren, um mit dem stellvertretenden Sheriff zu sprechen. Denn als er über die Warnung des BC-Django-21-Bassisten nachgedacht hatte, war ihm eingefallen, dass Parker Natalia schon seit dem ersten Feuer auf der Insel war. Zwar fühlte sich Seth bei dem Gedanken, jemanden zu verpfeifen, unwohl, aber die Polizei musste wissen – so redete er sich ein –, dass Parker nicht nur auf der Party am Strand von Maxwelton gewesen war, sondern auch in der Nähe der Festwiese in seinem Auto übernachtet hatte, als es dort gebrannt hatte. Der Sheriff würde ihn sich genauer unter die Lupe nehmen wollen.
Natürlich war Seth durchaus klar, dass es noch einen anderen Grund gab, warum er nach Coupeville fahren wollte, um mit dem Sheriff zu reden, und dieser Grund war Hayley. Er musste sie unbedingt beschützen, sagte er sich.
Also fuhr Seth nach Coupeville, das sechzehn Kilometer nördlich von der Baustelle lag. Wie es sich traf, war der stellvertretende Sheriff im Büro. Seth hatte gehofft, dass Dave Mathieson nicht da sein würde und er einfach eine Nachricht hinterlassen könnte, so nach dem Motto: »Überprüfen Sie einen Mann namens Parker Natalia aus Nelson, British Columbia. Er hält sich seit Beginn der Brand-Serie auf der Insel auf.« Aber als er beim Empfang nach dem stellvertretenden Sheriff fragte, sagte man ihm: »Warten Sie bitte dort drüben«, woraufhin er sich auf eine Bank setzte und eine Golf-Zeitschrift nahm, die er zu lesen vorgab.
Zehn Minuten später kam Dave Mathieson aus seinem Büro. Er sagte Seths Namen und streckte eine Hand aus. Als Derric im vergangenen Jahr im Wald schwer verletzt worden war, hatte es zwischen ihnen böses Blut gegeben, aber das schien jetzt vergessen.
»Schön, dich zu sehen«, begrüßte Dave ihn. »Komm mit rein.«
Offenbar wusste er, dass Seth ihn dienstlich sprechen wollte, was die ganze Sache ein wenig einfacher machte. Er führte Seth nach hinten zu den Büros, die sich zum Glück nicht in der Nähe der Vernehmungsräume und Arrestzellen befanden. Mit denen hatte Seth bereits viel zu gute Bekanntschaft gemacht.
In seinem Büro bot Dave Seth einen Stuhl an und setzte sich selbst hinter seinen Schreibtisch. Er lehnte sich gähnend zurück, sagte: »Verdammt langer Tag« und fügte dann hinzu: »Was gibt’s?«
»Ich habe gehört, dass ein Mann in der Hütte umgekommen ist«, erklärte ihm Seth. »Einer meiner Kollegen ist in der Freiwilligen Feuerwehr, und er hat mir davon erzählt.«
Dave erwiderte: »Du arbeitest jetzt am Bau? Gute Sache, Seth.«
Seth dankte ihm höflich. Er sagte, er habe über die ganze Sache nachgedacht. Dabei wäre ihm etwas eingefallen, als er alle Brände habe Revue passieren lassen, die seit dem ersten Feuer im Juli auf der Insel ausgebrochen waren.
Dave nickte und schwieg. Aber er sah ihn interessiert an, deshalb fuhr Seth fort.
»Da ist dieser Typ.« Er beugte sich vor, die Hände zwischen den Knien. Er versuchte, aufrichtig, aber auch zögerlich zu klingen, denn das war er schließlich auch. Er sagte: »Ich verpfeife nicht gerne andere Leute, Sheriff Mathieson, aber jetzt, wo dieser Mann in der Hütte umgekommen ist … Wenn jemand dafür verantwortlich ist, dass jemand anderes abkratzt …«
»Du meinst, wenn jemand einen Brand legt und jemand anderes daraufhin stirbt«, stellte Dave klar.
»Ja. Ich meine, davor schien es nicht … Also, abgesehen von den Gebäuden, ist niemand zu Schaden gekommen, außer die Tiere bei dem Brand beim Volksfest, aber jetzt ist es ein Mensch und …«
Seth hoffte irgendwie, dass Dave Mathieson ihm zur Hilfe kommen und so etwas sagen würde wie: »Ah. Du hast einen Hinweis für uns, ja?« Und dann würde er sein Notizbuch aufschlagen oder was Polizisten auch immer bei sich hatten. Aber der stellvertretende Sheriff kam ihm nicht entgegen. Er wartete einfach und zwang Seth förmlich, einen Freund zu verpfeifen.
Deshalb nannte er schließlich Parkers Namen, den der Sheriff natürlich bereits kannte, weil er die Namen aller Personen notiert hatte, die auf der Maxwelton-Party gewesen waren. Was er jedoch nicht wusste, war, was der Bassist von BC Django 21 Seth gesagt hatte: »Pass auf den Typen auf« und »Der könnte Ärger machen«. Was ihm ebenfalls fehlte, war die Information, wo Parker übernachtet hatte, bevor er in das Baumhaus in Ralph Darrows Wald gezogen war. Als Dave Mathieson das alles aus Seths verräterischem Mund erfuhr, schrieb er es auf.
Der Sheriff sagte: »Er hat in der Nähe der Festwiese übernachtet? Das wussten wir nicht. Er hat bereitwillig zugegeben, wann er auf die Insel gekommen ist, aber wo er geschlafen hat …«
»Sie meinen, Sie haben bereits mit ihm gesprochen?«
»Wir reden gerade mit allen, um herauszufinden, wo sie bei jedem einzelnen Feuer waren.« Dave lächelte dünn. »Wir sind noch nicht bis zu dir vorgedrungen, aber jetzt, da du schon mal hier bist … Was kannst du mir darüber sagen, wo du warst, Seth?«
»Nicht auf der Festwiese, nicht bei dem Brand«, erwiderte Seth. »Wir hatten einen Gig in Monroe, ich und die anderen Mitglieder von Triple Threat. Und hey, ich lege keine Brände.«
»Das tut keiner«, gab Sheriff Mathieson zurück. »Das sagen sie jedenfalls alle.«
Als Seth ging, dachte er, dass er nicht viel erreicht hatte, außer dem Sheriff mitzuteilen, dass Parker Natalia in der Nähe der Festwiese in seinem Auto übernachtet hatte. Was Parkers Aufenthaltsort bei den restlichen Bränden betraf … Während des Brands beim Djangofest war er in der Highschool gewesen, und er war auf der Strandparty in Maxwelton gewesen, und wer weiß, wo er gewesen war, außer definitiv auf der Insel, als das erste Feuer in dem Müllcontainer in Bailey’s Corner ausgebrochen war.
Seth fuhr zu seinem Großvater. Manchmal war ein Plausch mit Ralph Darrow das Einzige, was Seth sofort aufheitern konnte, wenn er sich mies fühlte. Und er fühlte sich total mies, weil er wusste, dass es eigentlich um Hayley ging und nicht um irgendeinen Junkie, der bei einem Brand umgekommen war.
Es dämmerte bereits und das Licht auf der Veranda von Ralph Darrows Haus war eingeschaltet. Durch das Fenster konnte er Becca sehen, die sich in der Küche zu schaffen machte. Wie es seine Gewohnheit war, ging er ohne anzuklopfen hinein. Er sagte »Hi« zu Becca und sah sich um: »Wo ist mein Großvater?«, fragte er.
»Er ist rüber zum Baumhaus, um Parker zum Abendessen einzuladen.« Sie sah seinen Gesichtsausdruck, als er das hörte, und fügte in Bezug auf das Essen hinzu: »Es ist genug für alle da. Er will bestimmt, dass du auch mitisst.«
Seth fragte sich, wie er Parker noch ins Gesicht sehen konnte, jetzt, da er ihn beim Sheriff verpfiffen hatte. Er hatte jedoch nicht viel Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. Dreißig Sekunden, nachdem ihn Becca zum Abendessen eingeladen hatte, verrieten ihm Schritte von mehr als einer Person auf der Veranda sowie der Klang von Stimmen, als die Haustür aufging, dass Parker die Einladung seines Großvaters angenommen hatte.
Ralph kam als Erster in die Küche, legte Seth die Hand auf den Nacken und sagte: »Na, so was, Lieblingsenkel! Ich hoffe, Miss Becca hat dich zum Abendessen eingeladen. Sie hat heute Abend nämlich für eine ganze Armee gekocht.«
»Ich hab’s mit den Portionen noch nicht so ganz raus«, erklärte Becca Seth. Sie nickte Parker zur Begrüßung zu und dankte ihm, dass er sich bereit erklärte hatte, ihr Boeuf-Bourguignon-Experiment zu probieren.
»Ein geschwollener französischer Name für Eintopf«, erklärte Ralph Seth.
»Gar nicht!«, protestierte Becca. »Da ist Wein drin.«
»Die Franzosen«, erklärte ihr Ralph, »kochen alles mit Wein. Sie nehmen ein Gericht aus dem Ozark-Gebirge, kippen Wein hinein und geben ihm dann einen geschwollenen Namen. Schaut ruhig im Internet nach, wo angeblich jede kleinste Info zu jedem erdenklichen Thema zu finden ist.«
»Das steht da bestimmt nicht«, gab Becca zurück. »Das haben Sie sich gerade ausgedacht.«
»Ein Privileg des Alters«, erklärte er ihr. »Bier für alle? Außer dir, Miss Becca.«
»Ich hab sowieso die Nase voll von Bier«, erwiderte sie.
»Eine Frau, die aus ihren Fehlern lernt. Das gefällt mir«, sagte Ralph.
Becca hat ihm also von der Party erzählt, dachte Seth. Er wünschte beinahe, sie hätte es nicht getan, weil er wusste, dass sein Großvater bestimmt enttäuscht war, dass er dabei gewesen war. Aber Ralph erwähnte weder die Maxwelton-Party noch den Brand noch den Toten in der Hütte. Seth sprach es auch nicht an, aus Angst, man würde ihm anmerken, dass er dem Sheriff in Sachen Parker einen Floh ins Ohr gesetzt hatte.
Seth bemerkte, wie Becca erst ihn und dann Parker ansah. Sie verzog den Mund auf die für sie typische Weise, was ihm verriet, dass sie wissen wollte, was los war.
Parker machte sich nützlich, indem er den Tisch deckte, und Ralph ließ sich auf einen Stuhl neben dem Recyclingkorb voller Zeitungen fallen. Er öffnete sein Bier und ließ den Blick über seine jungen Gäste schweifen. Er sagte: »Ah, die Jugend«, und trank einen Schluck Bier. »Welchem Umstand verdanke ich die Ehre deines Besuchs?«, fragte er Seth.
Seth konnte ihm auf keinen Fall den Grund seines Kommens sagen: um die Sache mit dem Brand mit ihm zu besprechen. Deshalb antwortete er: »Wollte nur sehen, wie es dir geht. Dad will wissen, ob du deine Cholesterinwerte hast checken lassen, wie es der Arzt gesagt hat.«
»Ach, zur Hölle damit.« Ralph blickte verärgert. »Sag deinem Vater, dass er sich gefälligst um seine Glasbläserei kümmern soll.«
»Was ist mit deiner Diät?«, fragte Seth. »Kocht Becca so viel wie möglich fettarm?«
»Grundgütiger, Seth …«
»Ich behalte ihn im Auge«, sagte Becca über ihre Schulter. »Zumindest, wenn ich hier bin. Wenn ich in der Schule bin … keine Ahnung. Möglicherweise isst er dann Vanilleeis mit Schlagsahne zum Mittag und Tortillachips und Guacamole zum Nachtisch.«
»Man kann auf schlimmere Art sterben«, bemerkte Ralph.
»Man kann auch am Leben bleiben«, wandte Seth ein.
»Mit einer Diät aus Sellerie, rohen Kartoffeln und Karotten? Da beiße ich lieber gleich jetzt ins Gras.« Ralph schnaubte missbilligend und nahm eine der Zeitungen aus dem Recyclingkorb – womit er ihnen zu verstehen gab, dass die Diskussion für ihn beendet war. Leider war es die Zeitung mit dem Foto von Laurel Armstrong auf der Titelseite, und sowohl Seth als auch Parker sahen es.
»Die geben sich eine Menge Mühe, sie zu finden«, bemerkte Parker, als Ralph die Zeitung auseinanderfaltete, sie öffnete und demonstrativ vor seinem Gesicht schüttelte. »Ich habe Handzettel mit demselben Foto überall in der Stadt gesehen.«
Ralph spähte über den Rand der Zeitung und drehte sie dann, um sich das Bild anzusehen. »Laurel Armstrong«, las er laut.
Seth sah vorsichtig zu Becca hinüber. Sie stand mit dem Rücken zu ihnen am Herd, aber Seth konnte an ihrer steifen Haltung erkennen, dass sie zuhörte.
Parker wiederholte den Namen, und plötzlich schien ihm etwas einzufallen. »Hey, Becca«, sagte er, »ist das nicht deine Cousine aus Nelson?«