KAPITEL 32
Becca hatte den Kopfhörer für die AUD-Box nicht im Ohr, und sie war dankbar dafür. Normalerweise benutzte sie ihn sowieso nicht, wenn sie mit Ralph Darrow zusammen war, weil sich sein Flüstern und das, was er sagte, nicht voneinander unterschieden. Jetzt schnappte sie in der Küche vor allem Gedanken auf, die von Seth zu kommen schienen. Sie drehten sich um Feuer, Coupeville und das Büro des Sheriffs, und selbst während des ungezwungenen Gesprächs über Ralphs Diät waren diese Gedanken präsent gewesen. Sie tauchten immer wieder auf – wie Erdhörnchen, die nach Eindringlingen Ausschau halten –, bis Parker Laurel Armstrongs Namen erwähnte. Das setzte seinem Gedankenfluss ein Ende, und er dachte nur noch: Riesenärger im Anmarsch, und genau das dachte sie auch.
Ralph studierte das Bild von Beccas Mom. Er las auch den Artikel. Er war kurz davor, auf Seite fünf zu blättern, auf der ihm das Kinderfoto von Hannah Armstrong entgegenlächeln würde. Jemand musste ihn davon abhalten, und der gute Seth tat genau das.
Er sagte: »Hey, lass mich mal sehen, Grandad«, und nahm seinem Großvater die Zeitung ab. »Hmmm«, machte er, während er so tat, als mustere er das Bild, »bist du sicher, dass das die Frau von den Handzetteln ist? Ich hab eins im South-Whidbey-Gemeindezentrum gesehen. Was meinst du, Beck? Sieht die wie deine Cousine aus? Aber was macht die auf Whidbey Island?«
»Ich hab sie nie kennengelernt«, erwiderte Becca, drehte ihnen den Rücken zu und rührte energisch im französischen Rindereintopf. Sie hatte auch Maisbrot im Ofen. Sie öffnete die Tür, und der Duft war berauschend.
Hinter ihr sagte Parker: »Aber so hieß sie doch, oder? Und wenn du sie nie kennengelernt hast, könnte sie es sein, meinst du nicht? Ist das nicht der Hammer? Du fragst mich nach ihr, und hier ist sie.«
»Schau’s dir an, Beck«, forderte Seth sie auf.
Komm schon nimm die Zeitung, Becca … sagte ihr, dass Seth etwas vorhatte, deshalb spielte sie mit, obwohl sie Ralph Darrow nicht ihr Lügengesicht zeigen wollte. Trotzdem drehte sie sich vom Ofen weg und ging zu Seth. Sie tat so, als betrachte sie das Bild, und fragte dann: »Kann ich die behalten?« an die ganze Runde gewandt.
Ralph musterte sie auf eine Art, die ihr nicht gefiel. Sie sagte: »Der Name ist derselbe. Ich wünschte nur, ich könnte … Oh Mann, es wäre toll, zu wissen, wie sie aussieht, weil ich dann dem Sheriff sagen könnte, dass diese Laurel Armstrong in Nelson wohnt.«
»Vielleichte solltest du das so oder so tun«, meinte Ralph. Weil du mit Sicherheit etwas weißt, junge Frau … war eins der wenigen Male, bei dem sein Flüstern nicht dem entsprach, was er sagte.
»Ja«, erwiderte Becca und wiederholte ihre Bitte: »Kann ich die behalten, Mr Darrow?«
Er nickte und zeigte auf den Stapel von South Whidbey Records, der in dem Recyclingkorb lag. »Davon gibt es noch viel mehr.«
Für den Moment war sie gerettet. Aber die Gnadenfrist dauerte nicht lange an.
Sowohl Parker als auch Seth verabschiedeten sich kurz nach dem Essen. Becca ging in ihr Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Sie saß gerade zehn Minuten daran, als es an ihrer Tür klopfte. Ralph Darrow wollte offenbar mit ihr reden. Sie sagte: »Es ist offen, Mr Darrow.« Die Tür öffnete sich nach innen, als sie sich von ihren Hausaufgaben wegdrehte. Sie setzte ihre falsche Brille auf. Den Hörer benutzte sie nicht und hatte es beim Anblick von Ralph Darrows ernstem Gesichtsausdruck auch nicht vor.
Er stand in seinem gestreiften Pyjama, seinem Morgenmantel und seinen Hausschuhen in der Tür, und sein langes Haar hing ihm offen über die Schultern. Becca war froh, dass sie ihr grässlich dick aufgetragenes Grufti-Augen-Make-up noch nicht abgewaschen hatte. Darüber war sie umso glücklicher, als der Sache auf den Grund gehen … Ralph Darrow ins Zimmer voranging.
Seine Worte bestätigten, was Becca befürchtete. Er hatte kein bisschen vergessen, was Parker Natalia über Laurel Armstrong gesagt hatte: »Also, Miss Becca«, fing Ralph an, während er sich auf den Rand ihres Betts setzte – von dem Bürostuhl abgesehen, auf dem Becca gerade selbst saß, die einzige andere Sitzgelegenheit im Raum. »Gibt es irgendwas, das du mir über diese Cousine von dir da oben in Nelson erzählen willst?«
Er sah sie genauso durchdringend an, wie er immer Seth ansah. Vermutlich versuchte er, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen. Schließlich sagte sie: »Da gibt es nicht viel zu erzählen, Mr Darrow.«
»Wie ist sie mit dir verwandt?«
»Wie gesagt. Sie ist meine Cousine.«
»Mütterlicher- oder väterlicherseits?«
Das war vermutlich eine Falle, aber Becca hatte keine Wahl. Sie wusste nicht, wer ihr Vater war, und manchmal fragte sie sich, ob Laurel es selbst überhaupt wusste bei den vielen Liebhabern, die sie gehabt hatte. Daher konnte sie nicht riskieren, Ralph zu erzählen, dass es sich um eine Cousine väterlicherseits handelte. Er durfte ihr keine Fragen über ihren Vater stellen, weshalb sie antwortete: »Mütterlicherseits«, und schnell hinzufügte: »Eigentlich ist sie, glaube ich, die Cousine meiner Mom, daher ist sie dann wohl meine Cousine zweiten Grades oder so. Ehrlich gesagt, glaube ich bloß, dass sie Laurel Armstrong heißt. Sie könnte auch Laura Armstrong heißen. Meine Mom hat sie nur ein paarmal erwähnt. Und als Parker uns erzählt hat, dass er aus Nelson ist … ist mir ihr Name wieder eingefallen.«
Ralph nickte nachdenklich, aber sein Flüstern – Bockmist – wies nicht darauf hin, dass er ihren Worten Glauben schenkte. Sie erinnerte sich an etwas, das er vor langer Zeit über die Darrows gesagt hatte: dass sie gesetzestreue Leute waren. Außerdem wusste sie, dass er sie nur deshalb auf seinem Grundstück wohnen ließ, weil er beschlossen hatte, ihre anfängliche Geschichte zu glauben. Und obwohl sie so gut wie alle anderen angelogen hatte, hatte sie Ralph Darrow die reine Wahrheit erzählt: Sie wartete darauf, dass ihre Mutter nach Whidbey zurückkehrte, um sie abzuholen; sie hätte bei einer Frau namens Carol Quinn wohnen sollen, die unerwartet in der Nacht von Beccas Ankunft gestorben war; und sie war keine Ausreißerin. Sie hatte ihm lediglich ihren echten Namen und den ihrer Mutter vorenthalten. Und jetzt hing dieser Name zwischen ihnen, und sie konnte sich sehr gut vorstellen, was er tun würde, wenn Becca zugab, dass sie Ralph Darrow bei dieser einen kleinen Sache angelogen hatte.
Das konnte sie nicht riskieren. Sie konnte es ebenfalls nicht riskieren, dass er den South Whidbey Record aufschlug, der in genau diesem Moment unter ihrem Geometriebuch lag. Sie konnte nicht auf das Bild von Hannah Armstrong zeigen und sagen: »Okay. Das bin ich. Und der Kerl, der nach uns sucht, heißt Jeff Corrie«, weil das zu der Frage führen würde, warum Jeff Corrie nach ihnen suchte. Und das würde wiederum dazu führen, über Hannah Armstrongs Fähigkeiten zu sprechen, nämlich die Gedanken anderer Menschen zu hören. Und Ralph Darrows Gedanken drangen gerade glasklar zu ihr: Was ist mit der Mutter dieses Kindes? Es war die eine Frage, auf die sie selbst gern eine Antwort gewusst hätte.
Dann stellte er eine andere Frage, an die Becca und ihre Mom nicht gedacht hatten, weil sie davon ausgegangen waren, dass sie in Carol Quinns Haus in Sicherheit sein würde. Außer einer neuen Identität für Becca hatten sie sich nichts weiter ausdenken müssen. »Wie heißt dann deine Mom?«, fragte Ralph Darrow sie.
Becca kämpfte gegen die Panik an, die gerade in ihr aufkam. Sie blickte an dem alten Mann vorbei auf das Regal, auf dem ihre wenigen Bücher standen. Ihr fiel der Name Marilla ein, aber das war viel zu exotisch, deshalb sagte sie: »Rachel«, wegen Anne auf Green Gables, das Buch, aus dem auch der Name Marilla stammte. Und auch Rachel. Rachel Lynde, Marilla Cuthburts Freundin und Nachbarin. Eine neugierige Frau mit starren Ansichten, die jedoch letzten Endes ein gutes Herz hatte. Genau wie Ralph. Hoffte sie.
»Rachel King«, sagte Ralph.
»Rachel King«, bestätigte sie.
»Die dich auf der Insel zurückgelassen hat, damit du bei Carol Quinn wohnst.«
»Sie sind zusammen zur Schule gegangen.«
»Die auch verheiratet war«, betonte Ralph.
»Hm?«
»Carol war verheiratet. Da frage ich mich doch, warum du nicht bei ihrem Mann geblieben bist, Becca, nachdem du herausgefunden hast, dass Carol Quinn gestorben ist.«
Weil Carols Mann von ihrem Kommen nichts wusste. Weil Carol Quinn selbst zu Verschwiegenheit verpflichtet worden war. Denn die Geschichte hätte folgendermaßen lauten sollen: Carol brauchte Hilfe im Haus, und da war dieses Mädchen auf der Insel, die eine Unterkunft benötigte. Es hätte alles so reibungslos und einfach laufen sollen … nur war Carol an einem Herzinfarkt gestorben, und als Becca eintraf und sie Carols Mann ihren Namen nannte, hatte er keine Ahnung, wer sie war oder was sie von ihm wollte.
Sie sagte: »Es erschien mir irgendwie … Ich meine, ich kam mir wie ein Eindringling vor, Mr Darrow. Ich bin zum Haus gegangen, und da waren der Sheriff und ein Krankenwagen. Es kam mir einfach nicht richtig vor. Deshalb bin ich schließlich im Cliff Motel gelandet, na ja, mehr oder weniger, bis ich zu Ihnen gezogen bin.«
Ausreißerin, die versucht, sich zu verstecken, aber sie geht zur Schule …
Becca griff seinen Gedanken auf. »Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich weiß, es klingt, als wäre die Geschichte von vorne bis hinten erlogen, aber ich würde wohl kaum in die Schule gehen, wenn ich von zu Hause weggelaufen wäre. Erstens hätte ich dann nicht die Sachen, die ich brauchte, um mich einzuschreiben. Den ganzen Papierkram, Sie wissen schon. Und zweitens …« Sie zeigte auf ihre Hausaufgaben. »… würde ich mich dann kaum mit Geometrie rumärgern. Und außerdem, um ganz ehrlich zu sein …« Sie zögerte, weil sie nur ungern den Ort schlecht machte, der sie aufgenommen und ihr Unterschlupf geboten hatte.
»Ja?«, forderte er sie auf. »Sprich ruhig weiter, Miss Becca. Du weißt, wie sehr ich absolute Ehrlichkeit schätze.«
»Also, glauben Sie wirklich, ich würde mich auf Whidbey Island verstecken, wenn ich weggelaufen wäre? Ich meine, wäre eine Stadt nicht besser? Wie Seattle oder Portland? In einer Stadt unterzutauchen ist nicht schwer, meinen Sie nicht? Aber sich hier zu verstecken, ist alles andere als leicht.«
Stimmt … verriet ihr, dass er geneigt war, ihr zu glauben. Wie auch die Tatsache, dass er sich mit den Händen auf die Knie schlug und aufstand. Er nickte nachdenklich und sah sich dann um. Offenbar ließ er den Blick auf dem Regal ruhen, auf dem ihre Bücher standen. Er sagte: »Also gut, Miss Becca«, ging zum Regal und musterte die Bücher. Sie dachte, er betrachte Mehr sehen als die Augen, aber zu ihrer Bestürzung nahm er stattdessen ihre Ausgabe von Anne auf Green Gables aus Kindertagen in die Hand – die eine Sache, die sie aus ihrem früheren Leben mitgebracht hatte.
»Also das ist ein Buch, das ich seit Jahren nicht gesehen habe«, bemerkte er, während Becca inständig hoffte, dass er es nicht aufschlug. »Es war Brendas Lieblingsbuch. Seths Tante Brenda, meine Tochter. Seths Schwester hat dieses Buch auch geliebt. Alle Bücher aus dieser Reihe.«
Er fing an, es zu öffnen, doch das durfte nicht passieren, weil Für meine süße Hannah gut sichtbar in der Handschrift von Beccas Großmutter darin stand. Deshalb sagte Becca das Erste, was ihr in den Sinn kam: »Ich hab’s bei Good Cheer gekauft.« Das war der Secondhandladen in Langley. »Ich wollte es meiner Brieffreundin zum Geburtstag schicken. Es macht doch nichts, dass es gebraucht ist, oder?«
Ralph drehte das Buch in den Händen und sah auf. »Wusste gar nicht, dass du eine Brieffreundin hast, Miss Becca.«
»Erst seit letztem Jahr.«
»Na, das ist doch schön. Von wo schreibt sie denn?«
Becca nannte den einzigen Ort, der ihr schnell genug einfiel: »Afrika«, und dann schmückte sie es noch ein wenig aus: »Uganda. Derric hat es arrangiert. Sie ist aus demselben Waisenhaus wie er. Wir haben uns mehrmals geschrieben, nur …« Auf einmal kam Becca der Gedanke, dass sich Ralph Darrow bei der Suche nach Freude als nützlich erweisen könnte. Sie sagte: »Es ist irgendwie merkwürdig, Mr Darrow. Sie hat immer sofort zurückgeschrieben, wenn sie einen Brief von mir bekommen hat, aber dann hat sie auf einmal aufgehört.«
»Vielleicht ist sie adoptiert worden.«
»Das habe ich zuerst auch gedacht, aber dann habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen, weil in Afrika immer so viele schlimme Sachen passieren, verstehen Sie? Deshalb habe ich im Internet nach dem Waisenhaus gesucht, und man hat es geschlossen. Ich weiß nicht, wo sie ist oder wie ich sie finden soll.«
Ralph stellte das Buch wieder auf das Regal. Er berührte das Cover von Mehr sehen als die Augen, nahm es aber nicht herunter. Stattdessen sagte er: »Du könntest den Pfarrer von Derrics Kirche danach fragen. Er war derjenige, der das Interesse der Leute an dem Waisenhaus geweckt hat. Derric kann dir seinen Namen geben, oder?«
»Oh, klar. Das kann er. Das ist eine gute Idee.«
Eigentlich war es eine schreckliche Idee. Derric in ihre Suche nach Freude einzubeziehen, wenn er nicht einmal den Gedanken an seine Schwester ertragen konnte, war ausgeschlossen. Der Pfarrer von Derrics Kirche wäre jedoch eine gute erste Anlaufstelle.
Sie fuhr fort: »Ja. Ich werde mit ihm reden. Glauben Sie …« Doch dann verstummte sie, weil Ralph Darrow sie anstarrte. Sein Blick war ausdruckslos wie auch sein Gesicht.
Dann merkte Becca, dass er nicht sie betrachtete, sondern etwas direkt über ihrem Kopf. Sie sah sich um, ob jemand am Fenster über ihrem Schreibtisch stand, aber da war niemand. Ihr wurde schließlich klar, dass Ralph ins Leere starrte, und es drang auch kein Flüstern von ihm zu ihr.
Sie sagte: »Mr Darrow?« Er antwortete nicht. Dann lauter: »Mr Darrow? Ist alles in Ordnung?«
Er antwortete wieder nicht. Dann blinzelte er und schien aus seiner Trance zu erwachen. Er sagte: »Also, gute Nacht dann, Miss Becca. Hoffe, du kommst da durch …« Er runzelte die Stirn. »Du lernst für Amerikanische Geschichte, hast du das nicht gesagt?«
Sie schluckte. Das Buch war offen. Die Geometrieaufgaben waren unübersehbar. »Ja«, sagte sie. »Amerikanische Geschichte.«
»Bleib nicht zu lange auf. Morgen ist Schule.«