KAPITEL 33

Derrics Kirche hatte den Namen Gemeinde Christi des Erlösers. Sie befand sich auf einer herbstbraunen Wiese am Ende der South Lone Lake Road, von der aus man den großen, ruhigen See sehen und das nahegelegene Vollblutgestüt riechen konnte. Die Kirche war eine notdürftig umgebaute Scheune, und ihre Gemeinde bestand aus Inselbewohnern mit dem Geschick, die Scheune in ein Gotteshaus zu verwandeln, der guten Absicht, allen Menschen in Not zu helfen, aber nur mit beschränkter Zeit, um beides zu tun. Die Menschen in Not standen an erster Stelle. Deshalb war der Umbau der Scheune auch noch nicht vollendet, in der es im Winter eiskalt war und an den wenigen schönen Sommertagen brütend heiß, während die Akustik das ganz Jahr über Einiges zu wünschen übrig ließ.

Becca musste an einem Sonntag die Kirche besuchen, da sie nicht wusste, wie sie den Pfarrer sonst finden sollte, der seine Kirchenarbeit nur auf Teilzeitbasis verrichtete. Sie rief bei der Kirche an und erhielt alle Informationen, die sie brauchte: um welche Zeit der Gottesdienst stattfand, wie der Pfarrer hieß und dass Menschen aller Glaubensrichtungen willkommen waren.

An dem Sonntag nach ihrer Unterhaltung mit Ralph Darrow setzte sich Becca auf ihr Rennrad und fuhr hinaus zur Gemeinde Christi des Erlösers. Sie hatte dafür genug Zeit eingeplant. Obwohl die Sonne schien, wurden die Tage doch rasch kühler, und weiße Wolken bauschten sich auf und jagten über den Himmel.

Da sie beim Gottesdienst nicht gesehen werden wollte, radelte sie an der Kirche vorbei und weiter zum See. Von dort hatte sie die Kirche im Blick und konnte ein paar kanadische Gänse beobachten, die gemächlich auf dem stillen Wasser des Sees dahin glitten. Verborgen vor den Blicken der Gemeinde sah sie, wie Derric und seine Eltern ankamen und die Kirche betraten.

Sie litt sehr darunter, Derric zurzeit nur in der Schule zu sehen und nicht mit ihm telefonieren zu können. Er hatte zwar ein Smartphone, aber sie nicht, und deshalb konnte sie ihm keine SMS schicken. Und da er auch seinen Laptop nicht benutzen durfte, blieben ihnen nur kurze Augenblicke an der Schule, um zusammen zu sein.

Er hatte sich seiner Mutter gegenüber kooperativ gezeigt und war zum Psychologen gegangen, so wie sie es verlangt hatte. Darüber war er nicht froh, doch das war die einzige Möglichkeit, seine Mutter versöhnlich zu stimmen. Er hatte bereits drei Sitzungen hinter sich gebracht, aber Becca erzählt, dass sie bisher nur über die Party am Strand, Alkohol, das Feuer und seine Mom gesprochen hatten.

Becca wünschte, er würde mit jemandem über Freude sprechen, damit er endlich anfangen konnte, zu verarbeiten, dass er sie im Stich gelassen hatte. Doch dazu musste er von sich aus bereit sein. Sie konnte ihm nicht ihren Willen aufzwingen. So viel hatte sie inzwischen begriffen.

Der Gottesdienst dauerte über eine Stunde und wurde von viel Gesang begleitet. Eine ganze Weile hörte sie nichts mehr und vermutete, dass der Pfarrer gerade seine Predigt hielt. Dann wurde wieder gesungen, und danach war der Gottesdienst vorbei.

Als die Gemeinde begann, die Kirche zu verlassen, schlich Becca zum Parkplatz. Sie versteckte sich hinter einer Holzhütte, vor der mehrere Klafter Brennholz für den nahenden Winter gestapelt waren. Von dort aus konnte sie beobachten, wie sich der Pfarrer von seinen Gemeindemitgliedern verabschiedete, die nacheinander aus der Kirche kamen. Darunter waren auch die Mathiesons, und bei Derrics Anblick wurde ihr ganz schwer ums Herz, so traurig sah er aus.

Sie wartete, bis auch das letzte Auto weggefahren war und der Pfarrer in die Kirche zurückging. Er würde das Gebäude sicher gleich abschließen, also eilte Becca über den Parkplatz und durch die Tore in die Scheune.

Darin war alles sehr schlicht. Anstatt Kirchenbänken standen dort Klappstühle. Auf dem einfachen Altar, der mit einem Kreuz dekoriert war, waren Vasen mit bunten Dahlien. Auf der einen Seite des Altars befand sich die Kanzel, und auf der anderen ein Holzständer mit einer aufgeschlagenen Bibel darauf. An einer der Wände hingen schwarze Bretter mit Postern und Bildern.

Der Pfarrer klappte die Bibel zu und nahm sie vom Ständer. Er war älter, als Becca gedacht hatte. Er trug dicke Brillengläser, aus den Ohren wuchsen ihm Haare und hinter jedem Ohr hatte er ein altmodisches Hörgerät.

Becca wusste, dass er James John Wagner hieß. Doch sie würde ihn mit »Reverend« anreden.

Er legte die Bibel auf den Altar und begann, die Stühle gerade zu rücken, so dass sie sich in Parallelreihen vom mittleren Gang nach außen auffächerten. Da er Becca nicht gesehen hatte, sprach sie ihn an. Als er aufblickte, nannte sie ihren Namen und half ihm mit den Stühlen.

Sie war überrascht, als er sagte: »Derric Mathiesons Freundin. Schön, dich zu sehen, Becca. Du hast Derric und seine Eltern gerade verpasst. Oder …«, fragte er mit einem Blick hin zur Tür, »warst du mit ihnen zusammen hier?«

»Ich bin alleine gekommen«, antwortete sie. »Derric weiß nichts davon.« Sie hoffte, das würde ausreichen, um ihm klarzumachen, dass er es Derric gegenüber nicht erwähnen sollte.

Die Tücken junger Liebe … zeigte ihr, dass es ihr nicht schwerfallen würde, Reverend Wagners Vertrauen zu gewinnen. Also sagte sie: »Er soll es nicht wissen, weil er sich sonst zu viele Sorgen macht.«

Schwanger … schoss es dem Pfarrer durch den Kopf, doch kurz darauf schien er den Gedanken wieder zu verwerfen: darf nicht immer voreilige Schlüsse ziehen. Die Tatsache, dass er offenbar versuchte, diese Angewohnheit abzulegen, konnte sich noch nützlich für Beccas Zwecke erweisen.

Reverend Wagner lächelte und versicherte ihr: »Ich werde schweigen wie ein Grab. Sollen wir uns setzen?« Damit zeigte er auf die Stuhlreihen, und Becca ging auf einen der Stühle zu.

Er setzte sich nicht neben sie, sondern drehte einen der Stühle um und nahm ihr gegenüber Platz. Er bewahrte einen respektvollen Abstand, sodass sie zwar fast Knie an Knie saßen, sich aber nicht berührten. Dann sagte er: »Es scheint dich wirklich etwas zu belasten, wenn du zu einem Pfarrer kommst.«

»Ja«, antwortete sie.

»Ärger mit Derric?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ärger mit dem Ort, wo er herkommt.«

Der Pfarrer zog die Stirn kraus. Sein Mund formte das Wort »Afrika?«, doch was er dachte, war: es hat sich nicht viel verändert, wenn es um Paare mit unterschiedlicher Hautfarbe geht. Becca musste diesen Gedanken erst in den richtigen Kontext setzen, bevor sie verstand, was er meinte. Er war schon recht alt, mindestens siebzig, und musste wohl an die Zeiten denken, als es noch problematisch war, wenn Menschen verschiedener Hautfarbe zusammen sein wollten. Sie vermutete, dass das in manchen Teilen des Landes immer noch der Fall war, aber soweit sie wusste, nicht auf Whidbey Island.

Sie antwortete: »Ich meine das Waisenhaus Children’s Hope in Kampala. Ich hatte dort eine Brieffreundin, aber irgendwann hat sie nicht mehr geantwortet. Da habe ich im Internet nachgeschaut und gesehen, dass das Waisenhaus zugemacht hat.«

»Ich hoffe, die Schließung ist nur vorübergehend«, kommentierte Reverend Wagner diese Nachricht mit Bedauern. »Waisenhäuser werden immer noch dringend gebraucht. Aber die Finanzierung war von Anfang an schwierig.« Er lächelte traurig und fügte hinzu: »Du bist nicht etwa zufällig hergekommen, um dich als anonyme Wohltäterin anzubieten?«

»Schön wär’s«, sagte sie. »Aber … Was ist wohl aus den Kindern geworden, die noch im Waisenhaus lebten, als es geschlossen hat? Wurden sie in ein anderes Waisenhaus verlegt? Derric und seine Mutter haben mir erzählt, dass Ihre Kirche sich für das Waisenhaus engagiert hat. Deshalb dachte ich, Sie wissen vielleicht mehr. Ich möchte gerne wieder Kontakt zu meiner Brieffreundin aufnehmen. Ich wollte ihr ein Buch und ein paar Fotos schicken. Und als sie aufhörte zu schreiben, habe ich mir Sorgen gemacht.«

Reverend Wagner nickte und sagte, dass er ihre Sorge gut verstehe und sich wünsche, mehr Jugendliche würden sich für die Probleme der Menschen in der Dritten Welt interessieren. Dann fragte er nach dem Namen ihrer Brieffreundin, den er zwangsläufig brauchte, wenn er sich erkundigen wollte, wo man das Mädchen hingeschickt hatte.

Das war ein Problem, denn natürlich hatte sie keine Ahnung, welchen Nachnamen sie Freude gegeben hatten, nachdem das Waisenhaus sie aufgenommen hatte. Aber als ihre Brieffreundin musste sie ihren Namen kennen, also sagte sie einfach, das Mädchen hieße Freude Nyombe, weil das der einzige afrikanische Nachname war, den sie kannte.

Und natürlich sagte Reverend Wagner sofort: »So hieß Derric doch auch, oder? Ist er mit Freude verwandt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich ihn auch gefragt, als er sie mir als Brieffreundin vermittelt hat. Aber Derric sagte, der Name wäre in Uganda ziemlich verbreitet. Er sagte auch, es wäre möglich, dass sie vielleicht entfernt verwandt sind, aber genau wusste er es nicht.«

»Aha«, murmelte der Pfarrer. »Wahrscheinlich so wie der Name Adams in Amerika. Wie alt ist sie denn?«

»Ungefähr dreizehn. Sie hat mir geschrieben, sie wüsste es nicht genau.«

Er machte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck und zog an einem seiner großen Ohrläppchen. »Mit dreizehn wird sie wahrscheinlich nicht mehr adoptiert worden sein«, sagte er schließlich. »Kleinere Kinder kann man leichter in Familien unterbringen. Wenn du ihr ins Children’s Hope-Waisenhaus geschrieben hast … Und das hast du doch, oder?« Als Becca nickte, fuhr er fort: »Als das Waisenhaus geschlossen wurde, ist sie sicher in eine Klosterschule gekommen. Oder sie hat angefangen zu arbeiten, das ist auch möglich. Wenn es zu viele Kinder gibt …« Gott behüte … verriet ihr, dass der Pfarrer besorgt war, und auch Becca fing an, sich schlimme Orte auszumalen und sich Sorgen zu machen, was aus Freude geworden sein könnte. Sie musste sofort an Kinderarbeit oder Schlimmeres denken, und Letzteres verdrängte sie schnell wieder.

»Ich wünschte, ich wüsste, warum sie aufgehört hat, mir zu schreiben«, warf Becca ein.

»Es spricht für dich, dass du dir Sorgen machst.«

»Meinen Sie, Sie können herausfinden, wo sie ist?«

»Ich weiß nicht«, gab er zu. »Die Waisenhausleiter aus Kampala sind inzwischen sicher in alle Winde verstreut.«

Becca sah auf ihre Füße. Ihr ganzer Körper drückte Niedergeschlagenheit aus. »Ich weiß nicht, was ich noch machen soll.«

Reverend Wagner streckte den Arm aus und tätschelte ihre Hand. »Ich werde versuchen, etwas herauszufinden«, tröstete er sie. »Es kann eine Weile dauern, aber ich werde mich bemühen. Soll ich Derric Bescheid sagen, wenn ich etwas erfahre?«

Um Himmels willen, dachte Becca, sagte aber: »Ich wohne bei Ralph Darrow. Meinen Sie, Sie können mich dort anrufen? Derric weiß nicht, dass Freude aufgehört hat, mir zu schreiben, und wenn ihr etwas Schlimmes passiert ist … dann macht ihn das sicher fertig.«

»Dann rufe ich bei Ralph Darrow an«, versprach der Reverend.