KAPITEL 36

Von dem, was er im Café in Port Townsend mitbekommen
hatte, konnte Seth sich zusammenreimen, was zwischen Parker und Hayley lief, obwohl er zunächst gedacht hatte, dass sie aus dem gleichen Grund da waren wie er. Da er selbst Geiger war, wollte Parker wahrscheinlich das Mädchen spielen hören. Er interessierte sich ebenso sehr für Musik wie Seth selbst, und das Mädchen war unglaublich gut. Doch die Art und Weise, wie er ständig seine Hand auf Hayleys Nacken legte, hatte etwas von Inbesitznahme. Er fuhr ihr immer wieder mit der Hand durchs Haar und sah sie mit seinen großen Hundeaugen an, sodass Seth am liebsten hingegangen wäre und gesagt hätte: »Nehmt euch ein Zimmer, Mann!«, denn es war offensichtlich, dass Parker nur an das Eine dachte.

Was die Geigerin betraf … Er hatte gelesen, dass sie nach Port Townsend kommen würde, und er hatte gehört, dass sie gut war. Aber wie gut sie wirklich war, hatte er nicht im Traum geahnt.

Sie hieß Prynne Haring. Als er nach ihrem ersten Set zu ihr auf die Bühne ging und sich vorstellte, verdrehte sie die Augen und sagte: »Eigentlich heiße ich Hester Prynne Haring. Meine Mutter dachte, das würde mich vor Schwierigkeiten bewahren.«

Seth hatte keinen blassen Schimmer, worauf sie anspielte, doch er ging trotzdem darauf ein und sagte aufs Geratewohl: »Das hat sicher nichts genützt.« Er war froh, als sie lachte. Sie legte ihre Geige in den Kasten und fragte: »Was spielst du für ein Instrument?«

»Gitarre«, antwortete er. Dann erzählte er von Whidbey Island. Und dann von Triple Threat. Sie sagte, sie käme aus Port Gamble, und fügte hinzu: »Musik ist mein Leben, Kumpel.«

Er nickte zustimmend und fragte sie, ob sie nicht mal nach Whidbey kommen wollte, um sich Triple Threat anzuhören und eine Session mit ihnen zu machen. »Wir suchen nämlich einen Geiger, und wie du spielst … Das ist echt phänomenal.«

»Ich mach eher Bluegrass als das, was ihr so macht«, sagte sie ihm geradeheraus. »Django Reinhardt und Gypsy-Jazz sind okay, aber ich weiß nicht recht. Ich bin eher eine Einzelkämpferin. Und damit bin ich bisher immer gut gefahren.«

Er meinte, er würde sie verstehen, aber er wäre davon überzeugt, dass sie ihre Meinung ändern würde, sobald sie Triple Threat hören würde. Sie sagte, sie wolle es in Erwägung ziehen, und Seth beschloss, sich nach dem Konzert noch länger mit ihr zu unterhalten. Immerhin hatte sie zugegeben, noch nie auf Whidbey Island gewesen zu sein, und er könnte ihr die Vorzüge und Möglichkeiten der Insel in den schillerndsten Farben schildern. Während des restlichen Auftritts würde er darüber nachdenken, was diese Vorzüge genau waren.

Ein paar Minuten vor Ende des Auftritts sah er, wie Hayley und Parker zusammen weggingen. Durchs Fenster konnte er außerdem sehen, dass Parker seinen Arm um Hayleys Schulter gelegt hatte. Sie steckten die Köpfe zusammen und Parkers dunkles Haar schien mit Hayleys Rotblond zu verschmelzen. Es war nicht zu übersehen, dass Hayley völlig verknallt in den Typen war, und das war auch kein Wunder, wenn man bedachte, wie Parker sie umgarnte. Doch momentan gab es schon genügend Dinge, die sie belasteten, und das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein Idiot aus Kanada, der ihr das Herz brach. Deshalb musste er ihr erzählen, was er über Parker gehört hatte. Dafür waren Freunde schließlich da.

Nach Prynnes Auftritt versuchte Seth, sie zu überreden, nach Whidbey zu kommen. Er würde sie an der Fähre abholen, sie zum Essen einladen und ihr die Sehenswürdigkeiten zeigen … wenn sie ihre Geige mitbringen würde. »Schließ es nicht von vornherein aus, Hester«, bat er sie. »Mehr verlange ich gar nicht.«

Sie versicherte ihm, dass sie das nicht tat, und fügte hinzu: »Ich heiße Prynne. Hester sagt keiner zu mir. Ich hab das hier statt eines scharlachroten Buchstaben auf der Brust, wenn du weißt, was ich meine.«

Seth hatte keine Ahnung, aber er wusste, was sie mit das hier meinte, denn sie zeigte dabei auf ihre Augenklappe. Er dachte, die gehörte zu ihrem Auftrittslook. Doch Prynne klärte ihn auf. Sie war echt.

»Krebs«, sagte sie. »Als ich sieben war. Sie haben alles Mögliche versucht, aber es half nicht. Deshalb mussten sie das Auge rausnehmen. Ich trag sonst ein Glasauge. Aber bei Auftritten nehme ich lieber die Augenklappe. Die macht mehr her.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Ja«, stimmte er zu. »Ich fand sie eh cool. Ich meine … ich finde sie immer noch cool. Hast du denn dein Glasauge da drunter?«

»Nö«, sagte sie. »Da ist nur die leere Augenhöhle. Die meisten Leute finden das eklig, wenn sie es sehen. Willst du mal?«

»Klar«, antwortete er leichthin. Warum nicht?

Seth beschloss, nach dem nächsten Wochenmarkt in Bayview mit Hayley zu sprechen. An dem Samstag würde es voll werden, denn die Saison ging langsam zu Ende. Und das nutzten viele Leute aus.

Vorher musste Seth mit Triple Threat proben. Und er musste auch mit ihnen reden. Die anderen Bandmitglieder wussten nämlich nicht, dass er sich Prynne angesehen hatte, und er wollte sie darauf vorbereiten, dass er vielleicht ein Mädchen in die Band aufnehmen wollte. Nachdem sie sich stundenlang darüber lustig gemacht hatten, dass sie eine Augenklappe trug – »Ist sie ein Pirat oder was? Yo ho, yo ho …« –, erklärten sie sich schließlich bereit, mit ihr zu jammen.

Als Seth auf dem Markt ankam, bauten die Cartwrights gerade ihren Stand ab. Brooke wirkte ziemlich schlechtgelaunt und antwortete kurzangebunden, als er sie fragte, wie es ihr ging.

»Ich bin fett«, sagte sie bitter und fügte noch hinzu: »Behauptet Hayley jedenfalls. Hast du Geld, Seth?«

Boah, dachte Seth. Wie ist die denn drauf? »Ja, klar«, antwortete er. »Aber was …«

»Ich will ein Stück von dem Süßkartoffelkuchen. Aber Mom sagt, wenn ich Hunger hab, soll ich eine Möhre essen. Bah!«

»Ach so. Verstehe.« Und Seth holte sein Portemonnaie aus der Tasche.

Hayley hatte die beiden offenbar beobachtet, denn sie sagte zu ihrer Mutter: »Sie macht es schon wieder. Seth, gib ihr kein Geld. Sie soll so was nicht essen …«

»Aber ich hab Hunger!«, protestierte Brooke. »Mein Magen ist leer, und ich muss was essen.«

»Du musst aufhören zu essen. Sieh stattdessen mal in den Spiegel.«

Krass, dachte Seth. Das sah Hayley gar nicht ähnlich. Er setzte an: »Hey, gibt es irgendwas …«, doch ihre Mutter fiel ihm ins Wort.

»Mädels«, sagte sie müde. Dann sah sie Seth an: »Brooke kommt schon klar. Und wir haben hier am Stand genug zu essen.«

»Stimmt gar nicht!«, rief Brooke wütend und stapfte davon.

»Wahrscheinlich bettelt sie jetzt jemand anders an«, seufzte Hayley. »Sie hat den schlimmsten Fall von Pubertät in der Geschichte der Menschheit.«

Seth war nicht so überzeugt davon, aber er war nicht hergekommen, um über Brooke zu sprechen. Also fragte er sie: »Sollen wir uns gleich ein Sandwich holen, wenn du hier fertig bist? Das können wir am alten Schulhaus essen, und danach bringe ich dich nach Hause.«

Hayley machte den Mund auf und Seth ahnte, dass sie ihn abwimmeln würde, doch ihre Mutter, die seinen Vorschlag gehört hatte, sagte zu ihr: »Geh ruhig, Hayley. Du hast genug gearbeitet und eine Pause verdient. Hilf mir nur noch, das Zeug in den Laster zu tragen.« Sie sah sich um. »Aber lasst euch nicht von Brooke erwischen, sonst muss Seth ihr auch ein Sandwich kaufen.«

»Kann ich doch machen«, antwortete Seth.

»Sie hat gar keinen Hunger«, klärte Hayley ihn auf. Und der Blick, den sie Seth zuwarf, machte deutlich, dass er das Thema ruhen lassen sollte.

Als der Stand abgebaut und die Gemüsekisten im Laster verstaut waren, gingen Seth und Hayley in den Feinkostladen, der aus einem der alten gewerblichen Gebäude von Bayview Corner entstanden war, mit ihren Holztreppen und Laufstegen aus Holz. Sie bestellten ihre Sandwiches, und während sie warteten, klärte Hayley Seth auf, was ihre Mutter mit »genug gearbeitet« und »eine Pause verdienen« meinte. Sie erzählte von ihrem Aufsatz, der College-Zulassungsprüfung und dass sie fast in Hausaufgaben erstickte. Seth wartete darauf, dass sie auch Parker erwähnte und wie sehr sie auf ihn abfuhr. Aber als sie das nicht tat, sagte er, dass er froh sei, dass sie jetzt doch alles in die Wege leitete, um im folgenden Jahr aufs College zu gehen.

Doch sie erklärte ihm, dass das nur vorläufig sei, und als Seth fragte, was sie damit meinte, fuhr sie fort: »Es hat dir auch nicht geschadet, nicht aufs College zu gehen. Und du hast nicht mal einen Abschluss.«

»Ach komm, Hayley. Das kannst du nicht vergleichen. Kannst du dir vorstellen, dass ich aufs College gehe? Oder auch nur die Highschool fertig mache? Wohl kaum. Dazu bin ich zu blöd …«

»Du bist nicht blöd«, erwiderte Hayley aufgebracht.

»Es gibt halt Dinge, die werde ich nie lernen, und ich kann froh sein, dass ich überhaupt einen Abschluss geschafft habe, aber darüber wollte ich gar nicht mit dir reden.«

Sie bekamen ihre Sandwiches, und Seth bestellte noch zwei Getränke. Damit gingen sie über die Straße zu einem alten weißen Schulgebäude aus dem 19. Jahrhundert, wo sie ein sonniges Plätzchen fanden, das trotz des kühlen Winds noch schön warm war.

Seth hatte sich überlegt, wie er das Thema Parker Natalia anschneiden sollte. »War überrascht, dich und Parker in Port Townsend zu sehen«, erklärte er.

Er merkte, dass sie zögerte, bevor sie in ihr Sandwich biss. Doch in ihrer Antwort ging es nur um Prynne.

»Sie war richtig gut, oder? Aber findest du, sie ist genauso gut wie Parker? Parker sagte, sie sei besser als er, aber das finde ich nicht. Sie war schon gut, aber Parker … Findest du nicht auch, dass Parker was Besonderes hat?«

Seth fiel auf, welch ein Vergnügen es ihr bereitete, Parkers Namen auszusprechen, und das machte ihm Sorgen. »Sie ist mindestens so gut wie Parker«, antwortete er. »Wenn nicht sogar besser.«

»Warum hat sie dann keine Band?«

»Manche Leute sind halt lieber Solomusiker. Aber sie wird nach Whidbey kommen, um mit uns zu jammen. Deshalb war ich dort, um sie mir anzuhören.«

Hayley war die Betonung des Wortes ich nicht entgangen. Sie runzelte die Stirn. »Was soll das denn heißen?«

»Na ja … Warum wart ihr dort?«

»Weil Parker mich eingeladen hat.«

»Und warum wollte er hin?«

»Weil er Musiker ist.« Hayley legte ihr Sandwich ab und fragte: »Worum geht’s hier eigentlich, Seth?«

»Ich bin mir nicht sicher wegen Parker.«

»Was soll das heißen?«

Jetzt legte auch Seth sein Sandwich hin. Er sah auf die andere Straßenseite, wo die letzten Marktstände abgebaut wurden. Die Leute standen noch lange herum und unterhielten sich, als würden sie den Markttag nur widerwillig beschließen. Denn wenn die Marktsaison zu Ende war, kam bald der Winter. Noch ein paar schöne Wochen, aber das schlechte Wetter war schon auf dem Weg.

Dann sagte er: »Ich muss dir was sagen, Hayley. Es wird dir nicht gefallen, und wahrscheinlich wirst du stinksauer auf mich sein. Aber ich habe es für dich getan, denn das Letzte, was du gebrauchen kannst, ist ein Typ, der dir das Herz mit einem Vorschlaghammer bricht.«

Dabei hatte er sie nicht angesehen, und als er sich zu ihr umwandte, wechselten sich Misstrauen, Angst und Wut auf ihrem Gesicht ab. »Was?«, fragte sie, und ihre Stimme klang wie eine Schere, die durch Papier schneidet.

Also erzählte er ihr, was er vom Kontrabassisten von BC Django 21 erfahren hatte. Pass auf den Typen auf. Er macht nur Ärger.

»Was für Ärger?«, fragte Hayley.

»Genau weiß ich das auch nicht. Da war irgendwas mit ihm und der Schwester des Mandolinenspielers, aber eigentlich …«

»Warte mal.« Hayley sprang auf. »Heißt das, du glaubst diesem Typen, den du nicht mal kennst und mit dem du einmal telefoniert hast? Du rufst ihn an und glaubst einfach alles, was er sagt? ›Pass auf ihn auf. Der macht Ärger‹? Du weißt doch gar nicht, was er damit gemeint hat. Vielleicht hat er sich sein Auto ausgeliehen und danach den Tank nicht vollgemacht, und der Typ war so sauer, dass er es ihm heimzahlen wollte und dachte: So, Junge, dir werde ich’s zeigen. Ich werde Gerüchte über dich in die Welt setzen, damit kein Mensch dir je wieder über den Weg traut.«

»Hayl, das ist doch gar nicht …«

»Du willst bloß nicht, dass ich glücklich bin.«

Jetzt stand er auch auf. »Ich habe nur weitergegeben, was ich gehört habe. Du kannst damit machen, was du willst. Mir ist das egal. Aber halt um Gottes willen die Augen offen. Denn die Menschen sind nicht immer das, was sie scheinen.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und fragte: »Und was soll das wieder heißen?«

»Das heißt, dass Parker jedes Mal auf der Insel war, als ein Feuer ausgebrochen ist.«

»Oh Gott. Wenn du ihn verdächtigst, dann geh doch zum Sheriff.« Und als sie sah, dass sich sein Gesichtsausdruck veränderte: »Du warst schon beim Sheriff! Du hast ihn angezeigt! Ich glaub’s nicht.«

»Hayley, komm schon …«

»Nein! Nein! Pass auf den Typen auf. Der könnte Ärger machen, und du denkst sofort, er ist ein Brandstifter. Wir wissen doch beide, warum du so was denkst. Warum zeigst du dich nicht gleich selbst bei Sheriff Mathieson an, Seth? Denn du warst auch jedes Mal auf der Insel, als ein Feuer ausgebrochen ist.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und stapfte davon. Deshalb konnte sie nicht mehr hören, wie Seth sagte: »Nein. Ich war nicht jedes Mal auf der Insel, als ein Feuer ausgebrochen ist.«