KAPITEL 38
Was die Nachricht »Broad Valley Zücht Skag« bedeutete,
machte Becca nicht halb so viele Sorgen wie die Tatsache, dass sich Ralphs Handschrift so verändert und er vergessen hatte, woher er diese Nachricht überhaupt hatte. Sie fand jedoch heraus, dass sich Broad Valley Züchter in der Nähe einer Stadt namens La Conner befand, die ihrerseits in Skagit Valley lag, aber als sie deren Telefonnummer ermittelte und anrief, um zu erfahren, was sie mit ihr, Parker Natalia, Seth Darrow oder Ralph zu tun hatten, zog sie eine Niete. Es handelte sich um eine Tulpenfarm, und die Leute dort konnten sich »keinen guten Grund vorstellen, Miss«, warum sie Ralph Darrows Haus auf Whidbey Island hätten anrufen sollen.
Becca kam zu dem Schluss, dass jemand wegen Broad Valley Züchter angerufen hatte, und Jenn McDaniels war diesbezüglich die wahrscheinlichste Kandidatin. Jenn fand gerade schließlich ständig neue Sachen über Aidan Martin und die Wolf Canyon Academy heraus.
Als Becca sie jedoch in der Highschool an ihrem Spind abfing, erwiderte Jenn: »Nein, ich weiß absolut nichts über irgendwelche Tulpenfarmen. Aber ich hab dank dem Squatman noch ein paar mehr Infos über Aidan.«
Becca lächelte. »Wie hat er sich diesmal breitschlagen lassen?«
Jenn schüttelte den Kopf. Sie öffnete ihren Rucksack, um ein paar Bücher hineinzustecken, und eine Packung Zigaretten fiel heraus. Sie sah auf, bemerkte Beccas missbilligenden Blick, steckte die Zigaretten zurück in den Rucksack und sagte: »Ich hör ja schon auf. Versprochen. Ich wollte nur testen, ob es dir aufgefallen ist.«
»Ja. Alles klar, Jenn. Tolle Geschichte. Was ist also mit Squat?«
»Er hat herausgefunden, wann Aidan nach Whidbey gekommen ist.«
Beccas Gesicht hellte sich auf. »Du hast ihn wirklich dazu gebracht, ins Computersystem des Distrikts zu hacken?«
»Von wegen. Davon wollte er absolut nichts wissen, egal, was ich versucht habe, und glaub mir, ich hab alles probiert, außer mich für ihn auszuziehen, denn das kann er sich abschminken, und das weiß er auch. Nein, er ist die Sache einfach direkt angegangen.«
»Und wie?«
»Er hat ihre Großmutter angerufen und gefragt. Ich habe neben ihm gesessen, als er angerufen hat. Und, glaub mir, ich hab selbst fast geglaubt, ich sitze neben Mr Vansandt, als er sagte, er wolle bloß ein paar Daten zur Aufnahme an der Schule überprüfen und bla bla bla. Hat gefragt, wie es den ›Kids‹ auf der Insel gefällt und so. Er war so überzeugend, dass Mrs Howard nichts weiter gesagt hat als ›Lassen Sie mich kurz einen Blick in meinen Terminkalender werfen‹, und das war’s.«
»Und?«, wollte Becca wissen.
»Aidan ist drei Tage vor dem ersten Feuer hier aufgetaucht.« Jenn knallte ihren Spind zu. »Wir haben ihn also, und wir sollten ihn lieber anzeigen, bevor er beschließt, das South-Whidbey-Gemeindezentrum abzufackeln. Gehen wir zum Sheriff oder zum Chief?«
Es schien der logische nächste Schritt zu sein, doch Becca wollte ihn nur ungern machen. Sie spürte, dass sich etwas in ihr sträubte. Sie war sich nicht vollkommen sicher, was es war, aber sie glaubte, dass es mit dem Konzept der Akzeleration und damit zu tun hatte, was sie in Mehr sehen als die Augen gelesen hatte. Deshalb sagte sie: »Aber das bedeutet, dass er das erste Feuer nur wenige Tage, nachdem er auf die Insel gekommen ist, gelegt hat. Warum? Wenn er in einer speziellen Schule oder Anstalt gewesen ist, weil er gern zündelt, hätten sie ihn nicht rausgelassen, wenn er nicht geheilt wäre.«
»Dann hat er halt die Seelenklempner davon überzeugt, dass er geheilt ist. Aber dann kommt er raus und es kribbelt ihm wieder in den Fingern, irgendwas abzufackeln, und der Drang ist stärker als er und – bumm!«
»Aber wenn er das macht und erwischt wird, landet er postwendend wieder in der Wolf Academy, oder?«
»Vielleicht will er dorthin zurück«, sagte Jenn. »Ich meine, schau dir doch Whidbey an, Becca. Er landet hier am Arsch der Welt, wo es nichts für ihn zu tun gibt, also will er auf dem schnellsten Wege wieder hier weg. Aber weil beim ersten Feuer niemand denkt, dass hier ein Brandstifter am Werk ist, muss er immer mehr Brände legen, bis jemand auf den Trichter kommt. Er wollte aus dieser Schule raus, und jetzt will er wieder zurück.«
»Warum würde er zurück wollen? Es ist eine geschlossene Anstalt.«
»Vielleicht macht irgendeine Tussi dort die Beine für ihn breit, und er will wegen ihr zurück.«
Becca hielt das nicht für sehr wahrscheinlich. Irgendetwas passte hier nicht. Sie wusste nicht, was, aber bevor sie nicht dahinter gekommen war, wollte sie keine Informationen weitergeben, die sich als falsch erweisen könnten. Sie sagte zu Jenn: »Lass mich erst herausfinden, ob diese Broad-Valley-Züchter-Nachricht irgendwas bedeutet, bevor wir jemandem Bescheid sagen, okay?«
Jenn erklärte sich einverstanden und murmelte dann: »Oh-oh. Ärger im Anmarsch.«
Der Ärger war Aidan höchstpersönlich. Er schlich, an die Wand gedrückt und mit seinem Skateboard unterm Arm, den Flur entlang. Er war zum Hintereingang der Schule unterwegs, wo das Feuer am Abend von Seths Auftritt mit Triple Threat ausgebrochen war. Das schien schon lange her zu sein, aber die Gefahr, die mit diesem Brand zusammenhing, bestand noch immer und musste ausgeschaltet werden. Als Becca und Jenn beobachteten, wie Aidan auf die Türen zusteuerte, die geradewegs zum Ort des Feuers führten, das Seths Konzert beendet hatte, sahen sich die Mädchen an und trafen gleichzeitig eine Entscheidung.
Sobald sie draußen waren, blieben sie auf Abstand. Aidan ging auf den Wald auf der leichten Anhöhe direkt hinter den Schulsportplätzen zu. Die Herbstschauer hatten noch nicht eingesetzt, und das konnte gefährlich werden, wenn Aidan Martin tatsächlich ein Brandstifter war.
Er überquerte den Sportplatz und verschwand hinter einer riesigen Zeder mit herabhängenden Ästen, die ihn sofort verbargen. Jenn und Becca fingen an zu rennen. Gleich hinter der Zeder befand sich ein Kinderspielplatz, dessen Boden mit Holzschnitzeln bedeckt war. Diese würden schnell Feuer fangen, falls Aidan irgendetwas zum Zündeln dabei hatte.
Als sie die Zeder erreichten, war da keine Spur von ihm. Jenn sagte zu Becca: »Wo zum Teufel …?«
»Sucht ihr mich?«, verriet ihnen, dass Aidan wusste, dass sie ihm gefolgt waren. Sie wirbelten herum. Er stand neben einer halb fertigen Kettensägenskulptur, die jemand gerade aus dem Baumstumpf einer umgefallenen Douglastanne gestaltete, und während er redete, heftete er den Blick auf Becca.
Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, als sie muss getan werden, um sie ein für alle Mal auszuschalten … aufschnappte. Sie wollte vor Aidan zurückweichen, aber sie würde sich nicht davon einschüchtern lassen, was diesem Typen durch den Kopf ging.
Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu, und Jenn tat es ihr nach. »Was treibst du da?«, wollte Jenn wissen.
Er musterte sie abschätzig. Sein Flüstern glasklar, sie treibt’s mit Mädels … teilte Becca mit, was er von Jenn hielt. Sie wollte erwidern: »Als wäre das wichtig«, doch stattdessen sagte sie: »Was machst du hier?«
Er gab zurück: »Warum willst du das wissen?« Er senkte den Blick auf ihre Brüste und sah dann in ihr Gesicht. Zur Abwechslung erfuhr sie nichts Zusätzliches aus seinem Flüstern. Jenns Gedanken verkündeten, dass dieses Schwein festnageln … die beste Vorgehensweise wäre, was sie dann auch in die Tat umsetzte, indem sie sagte: »Wegen der Wolf Canyon Academy, Aidan, und wegen dem, warum du dort warst und was wir über dich wissen.«
Als Nächstes passierte etwas völlig Unerwartetes, das für Becca nichts mit der Sache zu tun hatte. Das Bild eines Geländewagens am Rand eines stark befahrenen Highways schob sich auf einmal in ihr Blickfeld und verdrängte Aidan. Eine Gruppe Leute stand um das Fahrzeug herum. Das hatte zunächst keine Bedeutung, bis sich ein Feuerwehrmann in Arbeitskluft, ein zweiter mit einem Baby im Arm, dann eine weinende Frau und plötzlich ein recht kleines Mädchen – so um die sechs Jahre alt – aus der Gruppe lösten. Das Kind war ganz blass und drückte eine kleine blaue Decke an sich.
Als die Vision verblasste, konnte sich Becca nicht mehr zurückhalten und platzte heraus: »Was ist mit deinem kleinen Bruder passiert, Aidan? Hast du ihn auch verbrannt?«
Jenn glotzte sie mit offenem Mund an. Aidan starrte sie an. Und dann sagte er das Schlimmste, was er hätte sagen können, wobei er jedes Wort an Becca richtete. »Viele Leute stellen ›Recherchen‹ an, weißt du.« Er malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Du bist nicht die Einzige, die das Internet benutzen kann. Aber in deinem Fall, Becca …? Du weißt einen Scheiß.« Dann drehte er sich um und schlenderte durch die Bäume davon.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Jenn Becca, während sie ihm nachsahen.
»Ach, der reißt nur seine große Klappe auf«, log Becca. »An seiner Stelle würden wir wahrscheinlich dasselbe tun.«
Aber was Becca nach dieser Begegnung wusste, war ziemlich einfach. Aidan Martin konnte ihr genauso auf die Schliche kommen, wie sie ihm.
Als Derric sie an diesem Abend anrief, dachte sie zuerst, Jenn hätte ihm von ihrer Auseinandersetzung mit Aidan erzählt, denn er setzte an mit: »Becca, du tust es schon wieder«, und in seiner Stimme schwang dieser Ton mit, den er manchmal hatte, wenn er versuchte, sich zusammenzureißen.
Sie fragte: »Was tue ich?«, und fügte aufgrund der Tatsache, dass er sie überhaupt anrief, hinzu: »Hey, Schatz, haben deine Eltern das Telefonverbot aufgehoben?«
Er antwortete: »Sie gewähren mir jetzt gnädigerweise jeden Abend zwanzig Minuten, weil ich so ein braver Junge bin, und der Seelenklempner liebt mich, weil ich einmal die Woche pünktlich bei ihm auftauche und ihm die Hucke voll lüge, wie toll doch mein Leben ist, seit ich in den Vereinigten Staaten von Amerika lebe. Ich hab mich einmal in meinem Leben betrunken, das ist kein Weltuntergang, Mister Psychodoktor. Es beweist überhaupt nichts.« Und dann schob er grimmig hinterher: »Und das ist die Wahrheit, verdammt.«
»Immer noch ziemlich übel, was?« Sie wünschte, er wäre hier bei ihr, damit sie sein Gesicht sehen könnte. Aber über das Telefon konnte sie sich nur an seine Stimme halten. Und das reichte bei Derric nie.
»Äh … ja, es ist ziemlich übel, Becca. Und wie nett von dir, dass du es noch schlimmer machst.«
»Was?«
Sie war in der Küche, wo Ralph sie zum Telefon gerufen hatte. Über dem Apparat hing eine Pinnwand, an die sie ein Bild von sich und Derric aus dem Sommer geheftet hatte. Auf dem Foto waren sie auf Double Bluff Beach zwischen Unmengen von Treibholz. Derric lehnte an einem riesigen Stamm, und sie lehnte an Derric, der seine Arme um sie geschlungen hatte und sein Kinn auf ihrer Schulter ruhen ließ. Sie erinnerte sich an den Tag und daran, wie sich seine Umarmung angefühlt hatte. »Ich liebe dich«, hatte er ihr ins Haar gemurmelt.
Es war eine schöne Erinnerung, und während sie darin schwelgte, bekam sie nicht mit, was er ihr erzählte, bis sie ein vielsagendes Wort hörte: Freude.
Sie hakte nach: »Was? Derric, was sagst du da?«
»Mann, Becca, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ich war abgelenkt.«
»Super. Danke. Wie wär’s, wenn du dich mal darauf konzentrierst, mir zuzuhören?«
Sein Tonfall war mürrisch, aber sie konnte die Furcht heraushören. Manchmal, so wusste sie, war es einfacher wütend zu sein, als sich einzugestehen, dass man Angst hatte. Anstatt wegen seines Tonfalls sauer auf ihn zu werden, sagte sie daher: »Ich höre dir jetzt zu. Was ist los?«
»Was los ist?«, gab er zurück, »Mr Wagner ist los. Er hat mir gesagt, wie toll und nett und christlich es von mir wäre, eine Brieffreundin aus Uganda für meine Freundin zu finden. Und dann nennt er mir auch noch ihren Namen: Freude Nyombe. Und das Allerbeste ist, dass Mr Wagner das alles vor meinen Eltern erzählt, Becca. Also was zum Teufel treibst du da? Ich frage nur, weil ich zu einer Sondersitzung mit dem Psychodoktor, meiner Mom und meinem Dad gehen musste, und da habe ich dann erfahren, dass man das Waisenhaus mittlerweile geschlossen hat und niemand mit Bestimmtheit weiß, wohin die Kinder danach geschickt wurden, aber ›es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge, Derric, und falls wir irgendetwas über Freude hören … Schatz, warst du deshalb so komisch drauf?‹«
»Oh nein«, flüsterte Becca. »Derric, ich dachte nicht, dass Mr Wagner …«
»Ja, genau das ist das Problem, Becca. Du hast nicht nachgedacht. Und abgesehen davon, dass ich versuche, zu verbergen, wie viele Sorgen ich mir um Freude mache und darüber, was ihr passiert sein könnte, muss ich jetzt auch noch meine Eltern abwehren, die wissen wollen, warum ihr Nachname Nyombe ist wie meiner früher und ›ist das nicht ein Zufall, ist sie eine Verwandte, die du nie erwähnt hast, und ist das der Grund, warum du ihr Briefe geschrieben hast?‹ Siehst du, es geht immer um diese Briefe, Becca. Es geht darum, wie du mein Leben versaut hast, als du …«
»Ich versuche doch nur, dir zu helfen.«
»Du kapierst es immer noch nicht. Ich brauche deine Hilfe bei dieser Sache nicht. Ich weiß nicht, auf wie viele verschiedene Arten ich es dir noch sagen soll. Aber das ist jetzt auch schon egal, denn jetzt bin ich richtig am Arsch.«
»Warum?«
»Glaubst du wirklich, dass meine Mom das ruhen lassen wird? Meine Mom, die so lange weiterbohrt, bis sie aus dir herausgequetscht hat, was sie wissen will?«
Sie sagte: »Aber siehst du denn nicht, dass das gut ist? Denn wenn sie keine Ruhe gibt, bis sie herausgefunden hat, was sie wissen will, dann wird sie auch herausfinden, was mit Freude passiert ist. Und Herrgott noch mal, das willst du doch? Oder geht es hier darum, dass du vor deinen Eltern nicht schlecht dastehen willst? Ich meine, zum Teufel mit Freude, weil, Derric kann auf keinen Fall schlecht dastehen, und das wird er, wenn Mom und Dad erfahren, dass er nie irgendjemandem erzählt hat, dass er eigentlich eine kleine Schwester hatte. Geht es darum?«
Er schwieg. Becca wusste sofort, dass sie zu weit gegangen war. Sie wusste auch, dass sie viel vorsichtiger gewesen wäre, wenn sie im selben Raum gewesen wären und sie sein Gesicht hätte sehen, sein Flüstern hätte hören und – wenn sie Glück gehabt hätte – ein Erinnerungsbild von ihm hätte aufschnappen können. Aber er hatte sie so weit gebracht, redete sie sich ein. Er gab ihr die Schuld, und sie würde sich nicht die Schuld in die Schuhe schieben lassen, wenn sie doch von Anfang an nur versucht hatte, ihm …
Er fluchte, was er sonst nie tat. Er tat es leise, und seine Stimme war knallhart. Und dann sagte er: »Gut gemacht, Becca« und legte einfach auf.
Das hatte er noch nie getan. Sie fühlte sich hundeelend.