KAPITEL 40

Hayley vermutete, dass ihre Freundschaft mit Isis Martin damit beendet war. Eigentlich war sie ein wenig erleichtert. Parker zufolge war zwischen ihm und Isis nichts gelaufen. Während Isis ziemlich deutlich hatte durchblicken lassen, dass ziemlich viel zwischen ihnen gelaufen war. Einer von ihnen log also, und Hayley wusste, wem sie glauben wollte. Dafür musste sie sich jedoch von Isis distanzieren, weshalb sie einen Riesenseufzer ausstieß, als Isis aus dem Farm-Pick-up sprang.

Dennoch wollte sie gerne mit jemandem über ihre gemischten Gefühle reden. Früher hätte sie sich an ihre Mom gewandt, aber Julie Cartwright hatte schon genug am Hals.

Am Tag des letzten Wochenmarkts war Bayview so voll mit Leuten wie noch nie in diesem Jahr. Die Bäume, die den Markt säumten, leuchteten im hellen Sonnenschein orange und rot, und die Luft um sie herum war frisch und klar. Die bunten Banner, welche die Besucher auf dem rechteckig angelegten Markt willkommen hießen, wehten in der leichten Brise, welche die Düfte des Herbstes überallhin trug: heißer gewürzter Apfelwein, Kürbiskuchen, Apfelkuchen, Süßkartoffelpastete. Die Gemüsefarmer boten den letzten Rest der Salaternte zusammen mit Bohnen, einer beeindruckenden Vielfalt von Kürbissen und einem übermäßigen Vorrat an Fingerkartoffeln an. Die Strick- und Weberwerkstätten hatten ihre Schals, Mützen und Handschuhe angeliefert, und jetzt, da das Wetter umschlug, lief das Geschäft gut für sie. Am Stand der Cartwrights nahm Julie Cartwright für die Wintermonate Bestellungen von frischen Eiern sowie vom Wurzelgemüse an, das auf der Farm weiter geerntet wurde, bis der Boden zu hart dafür war.

Hayley packte gerade eine Kette für eine Touristin aus Spokane ein, als sie Seth sah. Er hatte Gus an der Leine, und zur Abwechslung benahm sich der Hund einmal. Der Labrador saß geduldig neben Seth, während sich dieser mit einem Zimmermannskollegen unterhielt. Als Seth weitergehen wollte, lief er neben ihm her wie ein Hund, der seit Langem gewohnt war, seinem Herrchen auf Schritt und Tritt zu folgen. Sie gingen auf den Cartwright-Stand zu, und Seth erhaschte Hayleys Blick. Er nickte ihr auf seine typische Seth-Art zu und zog an seinem Ohr-Plug, was ihr verriet, dass er nervös war. Er kam herüber und begrüßte sie wie üblich.

»Hi«, sagte er. »Wie läuft’s?«

»Okay. Und bei dir?«

»Okay.«

Dann schwiegen sie. Sie beobachteten die Leute um sie herum, die lachten, plauderten, Waren bewunderten und gegenseitig ihre Hunde tätschelten. Ein wunderschöner Tag und eine freundliche Menschenmenge … Da wusste Hayley, dass Seth der einzige Mensch war, mit dem sie über ihre Zweifel reden konnte.

Er fragte: »Hattet ihr eine gute Saison?«

»Nicht schlecht. Aber Mom geht jetzt drei Tage die Woche putzen und ich muss mir einen vernünftigen Job suchen. Sie versteht das natürlich nicht. Sie sagt, mein Job ist die Schule …«

»Da hat sie recht«, erwiderte Seth. »Hast du angefangen, dich zu bewerben …«

»Ich mache meinen Abschluss und das war’s, Seth.«

Er sagte bedeutungsvoll: »Hayl …« Aber sie schüttelte den Kopf.

Sie verfielen wieder in Schweigen. Seth scharrte mit den Füßen. Gus seufzte laut auf und rieb den Kopf an Seths Schenkel.

Seth setzte an: »Hey, ich hätte dir nicht sagen sollen …« im gleichen Moment, in dem Hayley sagte: »Seth, ich muss dich etwas fragen …«

Sie lachten beide ein wenig verlegen. Hayley legte den Kopf schief und sah Seth liebevoll an. »Du zuerst«, forderte sie ihn auf.

»Ich hätte nichts über Parker sagen sollen«, erklärte er ihr. »Du hattest recht wegen dem, was mir der Typ von BC Django 21 erzählt hat. Ich meine, da ist dieser Typ aus Kanada, den ich nicht mal kenne, und alles, was er sagt ist: ›Pass auf den Typen auf‹. Was soll das überhaupt heißen? Vielleicht war er einfach nur sauer, weil Parker der bessere Musiker ist oder so.«

Sie dachte darüber nach, erwiderte aber nichts.

Er fuhr fort: »Parker steht auf dich, das sieht man sofort. Ich will einfach nur, dass du vorsichtig bist.«

Hayley freute sich, das alles aus Seths Mund zu hören, weil es da auch etwas gab, das sie ihm sagen wollte. Schließlich schnitt sie das Thema an: »Sie ist toll. Wirklich klasse.«

Die Tatsache, dass er sofort wusste, dass sie von der Geigerin sprach, zeigte Hayley, dass Seth tatsächlich an dem Mädchen interessiert war. Er erwiderte: »Prynne kommt rüber, um mit den Jungs zu spielen. Ich will sie unbedingt haben. Ich meine … ich will sie für die Band.«

»Heißt sie so? Prynne?«

»Ihr Rufname ist Hester. Angeblich bedeutet es etwas, aber ich hab keine Ahnung, was.«

»Hester Prynne?«, fragte Hayley. »Das ist aus einem Roman über eine Puritanerin, die Sex mit einem Typen hat und schwanger wird, und deshalb muss sie für den Rest ihres Lebens einen scharlachroten Buchstaben auf der Brust tragen.« Seth zog die Augenbrauen zusammen, was Hayley verriet, dass er ihr nicht ganz folgen konnte. »Der Buchstabe brandmarkt sie als Ehebrecherin. Sie hat es mit dem Pfarrer getrieben und muss dafür ins Gefängnis und als sie rauskommt, muss sie den Buchstaben tragen.«

»Harte Strafe«, meinte er.

»Puritaner eben.«

»Woher weißt du das überhaupt?«

»Englischleistungskurs«, erklärte sie.

»Alles klar. Jedenfalls haben ihre Eltern ihr diesen Namen gegeben, was wahrscheinlich der Grund ist, warum sie es vorzieht, dass man sie Prynne nennt.«

»Du magst sie, was?«

Er warf ihr einen Blick zu. »Ja, sehr.«

Hayley stellte fest, dass sie froh darüber war, denn schließlich war Seth ihr Freund. Er verdiente es, ein Mädchen zu finden, das ihn so liebte, wie er geliebt werden wollte und wie sie selbst ihn nie hatte lieben können. Sie hoffte, dieses Mädchen würde Prynne sein.

Er sagte: »Jetzt bist du dran«, und für einen Augenblick dachte Hayley, er meinte, jetzt wäre sie an der Reihe, auch jemanden zu finden, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich gegenseitig unterbrochen hatten.

Sie setzte an: »Also, es ist so.« Sie sah sich um und vergewisserte sich, dass ihnen niemand zuhörte, bevor sie weitersprach: »Ich glaube, ich weiß vielleicht, wer die Brände gelegt hat, Seth. Nur … Ich bin mir nicht sicher, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Er legt den Kopf schief. »Wer ist es?«

»Das möchte ich nicht sagen. Ich bin mir nicht sicher, warum ich dem Sheriff den Namen dieser Person nennen will. Verstehst du, was ich meine?«

»Äh … nein.«

»Es ist privat. Ich meine, der Grund, warum ich ihm den Namen geben will, ist privat. Zwischen uns ist mehr oder weniger etwas vorgefallen, und ich weiß da auch noch etwas, und wenn ich die beiden Sachen zusammennehme, hab ich das Gefühl, dass ich eher versuche, dieser Person Ärger zu machen, als dem Sheriff zu helfen.«

Er dachte darüber nach, während er ihr Gesicht musterte, und Hayley spürte, dass sie rot anlief, weil ihre Wangen ganz heiß wurden. Das allein schien ihm zu verraten, was sie lieber vor ihm verborgen hätte. Er sagte: »Parker.«

Sie fragte: »Was ist mit ihm?«

»Er hat mit der Sache zu tun, oder?«

»Parker hat die Feuer nicht gelegt! Wie kannst du so was sagen? Du hast dich gerade dafür entschuldigt, dass du über ihn hergezogen bist, und plötzlich ist er wieder auf deiner Verdächtigenliste, und das ist total unfair, weil du weißt, dass …« Die Art, wie er sie ansah, nahm ihr die Luft aus den Segeln.

Er erwiderte ruhig: »Hayl, ich hab nicht gesagt, dass Parker etwas mit den Feuern zu tun hat. Das hast du nur angenommen. Also denk darüber nach, okay?« Er sah sich um, schien noch etwas hinzufügen zu wollen, stieß aber stattdessen einen großen Seufzer aus.

Am späten Nachmittag saß Hayley oben in ihrem Zimmer und arbeitete an einem Aufsatz für ihren Englischleistungskurs. Sie war ganz darin vertieft und hörte das Klopfen an ihrer Tür nicht. Aber dann sagte eine Stimme: »Hayley? Deine Mom sagt, du bist hier oben, aber ich hab Angst, die Tür aufzumachen. Es tut mir so leid, dass ich so eine Zicke war. Kann ich reinkommen?«

Hayley dachte nur: »Oh nein.« Sie wollte Isis eigentlich nicht sehen.

»Hayley …? Okay. Ich gehe wieder. Ich wollte nur, dass du weißt, wie leid es mir tut.«

Hayley seufzte, stand von ihrem Schreibtisch auf und ging zur Tür. Isis stand da und sah ganz niedergeschlagen aus. Sie hielt ein kleines verpacktes Geschenk in den Händen, und zwar so vorsichtig, als wäre es ein Vogeljunges. In ihren Augen glänzten die Tränen, die angefangen hatten, ihre Wangen hinunterzulaufen, während sie sagte: »Bitte vergib mir. Ich verstehe, wenn du das nicht kannst. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich weiß, was ich für ein schlechter Mensch bin. Aber ich weiß auch, dass es in meinem Leben keinen anderen Menschen gibt wie dich. Ich lerne in fünf Minuten mehr von dir, als ich je von jemand anderem gelernt habe. Und dann lass ich mich so voll an dir aus und hau ab, und drei Minuten später weiß ich, dass ich Mist gebaut habe, und es tut mir so wahnsinnig leid. Ich kann verstehen, wenn du nicht mehr mit mir befreundet sein willst, aber ich wollte dir das hier geben.«

Hayley betrachtete das Päckchen. Das Geschenkpapier glitzerte in dem Licht, das durch ein Fenster am Ende des Flurs fiel. Sie trat von ihrer Zimmertür weg. Isis kam herein und sagte: »Ich hoffe, du nimmst es an. Als ich es gesehen habe, wusste ich, dass ich es dir kaufen muss. Machst du es auf?«

Hayley nahm das Geschenk. Isis ging zum Bett und ließ sich auf der Kante nieder. Hayley ging zu ihrem Schreibtischstuhl und setzte sich hin. Langsam öffnete sie das Geschenk. Es war ein quadratisches Kästchen, wie man es in Juwelierläden bekommt. Darin befand sich ein kleines Stück Porzellan, das wie ein Glückskeks gestaltet war. Dieser war mit Scharnieren versehen, daher öffnete sie ihn und entdeckte darin einen Zettel, der tatsächlich an einen Spruch aus einem Glückskeks erinnerte. »Jemand, der dir nahesteht, möchte sich bei dir entschuldigen« stand ordentlich in Druckbuchstaben darauf. Hayley wusste, dass es Isis’ Schrift war. Sie wandte sich zu ihr um und sah ihre zitternden Lippen und ihre aufrichtige Miene.

»Ich hab wieder mit Hundekacke um mich geworfen«, sagte Isis. »Dabei hat mir meine Mom schon eine Million Mal gesagt, dass ich verrückt bin. Und mein Dad auch. Und wenn ich sie behandele, wie ich dich behandelt habe, sehen sie es mir nach … Aber was sollen sie machen? Sie sind schließlich meine Eltern und werden mich so schnell nicht los.« Sie steckte die Hände zwischen die Knie, als wollte sie sich davon abhalten, sie nach Hayley auszustrecken und sie anzuflehen, ihr zuzuhören. »Also ich will damit sagen, dass ich weiß, dass du mir nicht verzeihen musst, aber ich hoffe, du sagst: ›Okay, ich verzeihe dir, Isis, weil ich weiß, dass du nicht wirklich meinst, was du sagst. Du verlierst nur manchmal die Kontrolle und gehst dann zu weit.‹«

Dann sagte Isis nichts mehr. Aber sie blickte so hoffnungsvoll und so reumütig und sie hatte sich entschuldigt und wusste, dass sie Mist gebaut hatte. Und sie gab Hayley auch für nichts die Schuld …

Hayley sagte: »Du musste aufhören, dich ständig an mir auszulassen. Es tut total weh und …«

Isis sprang vom Bett auf. Sie flog zu Hayley hinüber, fiel vor ihr auf die Knie und umarmte sie. »Ich versprech’s. Ich werde es nie … nie wieder tun. Oh, danke, Hayley.« Sie legte den Kopf in Hayleys Schoß, wie ein aufrichtiger Bittsteller, dem endlich klar geworden war, dass Vergebung nicht leichthin gewährt wurde und möglicherweise in der Zukunft nicht wieder gewährt werden würde.

Isis hob den Kopf, wobei ihr Gesicht vor Erleichterung und Freude strahlte, und sagte: »Hayley, ich muss dir etwas sagen. Ich werde sonst verrückt. Und wenn ich es mir von der Seele rede, kannst du mir beim nächsten Mal helfen, wenn ich wieder mit Hundekacke um mich schmeißen will. Aber, wenn ich es dir sage … Niemand außerhalb meiner Familie weiß es, nicht mal Großmutter.«

Hayley erstarrte. Sie dachte: Sie ist schwanger. Das musste es sein, und Brady war der Vater.

Aber als Isis weitersprach, stellte Hayley sehr schnell fest, dass Isis’ Geheimnis überhaupt nichts mit Brady zu tun hatte. Sie fing an: »Wir sind jedes Jahr nach Lake Shasta gefahren. Eine Woche Camping. Und ich war etwa acht Jahre alt, als es passiert ist, und Aidan war sieben und Robbie war so etwa zwei Monate alt. Er war mit uns auf dem Rücksitz und quengelte herum, weil es Zeit für sein Fläschchen war. Er saß in einem dieser umgedrehten Kindersitze, weißt du? Also, Mom wusste, dass er gefüttert werden musste, und hat die Flasche nach hinten gereicht, und Aidan sollte sie für ihn halten, aber er hat nicht aufgepasst, und es schien nicht … Ich meine, es war nur ein Babyfläschchen, und Kinder benutzen ständig Babyfläschchen. Nur …« Sie schien einen Moment lang mit sich zu kämpfen, bevor sie fortfuhr. »Also Robbie hat gewürgt oder die Milch eingeatmet anstatt sie richtig zu schlucken. Dad ist an den Straßenrand gefahren und hat versucht … und Mom hat es versucht … und dann kamen die Rettungssanitäter und haben es versucht … Aber niemand konnte ihn retten, und es war Aidans Schuld. Meine Mom hat angefangen, ihn am Straßenrand anzuschreien, und dann … Hayley, sie hat einfach so aufgehört zu schreien. Und dann hat sie nie wieder ein Wort darüber verloren. Nie wieder. Und sie haben ihn eingeäschert. Sie haben Robbie eingeäschert, und es gab nicht mal eine Beerdigung, und er ist nirgends begraben, und niemand spricht darüber, und es ist, als hätte er nie existiert.«

Hayley fühlte sich starr wie eine Statue. Es war eine so schreckliche Geschichte, dass sie den Schmerz am eigenen Leib spüren konnte, selbst Jahre, nachdem es passiert war.

Isis redete weiter: »Da hat Aidan angefangen, Brände zu legen. Sie haben ihn angeschrien, dass er nur Ärger machen würde und er aufhören müsse, aber wie konnte er, wenn sie ihn nie darüber reden ließen, wie schlecht er sich wegen dem, was mit Robbie passiert ist, gefühlt hat? Es war nur eine unbedeutende Sache, verstehst du. Gib einfach dem Baby sein Fläschchen. Aber es ist alles schief gelaufen und sie haben nie irgendwas gesagt, nicht ›Wir vergeben dir, Aidan‹ oder ›Wir hätten lieber an einer Raststätte halten sollen‹ oder so. Aber man muss über schlimme Dinge in seinem Leben reden, denn wenn man es nicht tun, frisst es einen innerlich auf, bis man etwas anstellt.«

Hayley wusste nicht, was sie sagen sollte, außer: »Oh mein Gott. Isis …«

Isis ging in die Hocke und sagte: »Deshalb ist es mit mir nicht immer leicht. Aber ich strenge mich an, weil ich auf keinen Fall unsere Freundschaft verlieren will. Ich weiß, du gehst jetzt mit Parker, und damit habe ich überhaupt kein Problem. Er und ich … Es hatte alles mit Brady zu tun. Ich wusste das, und ich wusste, dass Parker nicht der Richtige für mich war, und ich konnte ihm sowieso von Anfang an ansehen, dass er auf dich steht. Also ich will damit sagen, dass es echt toll ist, dass ihr zwei zusammen seid. Und ich meine es total ernst. Okay?«

Hayley musterte ihr Gesicht. Es war so aufrichtig. Sie sagte zu Isis: »Okay«, und dann, als Isis sie umarmen wollte, fügte sie hinzu: »Aber habt ihr zwei … Hattest du und Parker …?«

Isis winkte ab. »Hatten wir Sex? Hayley, es war keine große Sache. Lass die Jungfräulichkeit endlich hinter dir und probier’s aus.«