KAPITEL 41
Dass man mal was vergisst«, sagte Becca, »zum Beispiel, wo man die Autoschlüssel hingelegt hat oder was man in einem bestimmten Zimmer wollte, finde ich völlig normal. Auch dass man vergisst, jemandem etwas auszurichten. Aber das war anders, Seth. Er konnte sich nicht mal daran erinnern, die Nachricht aufgeschrieben zu haben. Es war, als hätte er zufällig ein Stück Papier gefunden und keine Ahnung mehr gehabt, was es damit auf sich hat.«
Seth zog die Stirn kraus. Er stand auf dem Parkplatz, auf dem die Leute ihre Wagen abstellten, um die Fähre nach Port Townsend zu nehmen. Und diese Fähre kam Whidbey Island jetzt stetig näher. Während er sie beobachtete, hatte sein Handy geklingelt, und Becca war am anderen Ende. Nun dachte er darüber nach, was sie ihm gesagt hatte. »Grandpa wird eben alt«, antwortete er schließlich. »Versteh nicht, was daran so schlimm sein soll.«
»Das Schlimme ist, dass die Nachricht wichtig sein könnte.«
Seth wusste es. »Wegen deiner Mom?«
»Vielleicht ist sie gar nicht bis Nelson gekommen. Wo ist dieser Ort, La Conner? Die haben irgendwas von Skagit Valley gesagt, aber wo das ist, weiß ich auch nicht.«
»Im Norden, auf dem Festland«, klärte Seth sie auf. »Aber was soll deine Mom auf einer Tulpenfarm? Wie heißt das noch mal?«
»Broad Valley Züchter. Ich weiß auch nicht. Vielleicht musste sie nicht mehr nach Nelson. Oder … sie hatte einen Platten. Oder sie hat ihr Gedächtnis verloren.«
»Beck …«, warf Seth zweifelnd ein.
»Ich weiß, das ist Quatsch, aber meinst du nicht …«
Da sah er Prynne. Die Fähre legte an, und sie stand zusammen mit den anderen Passagieren ganz vorne, direkt hinter der Kette, mit der die Autos zurückgehalten wurden. Er winkte, doch sie bemerkte ihn nicht, denn sie war noch nie auf Whidbey Island gewesen und wusste nicht, wo sie suchen sollte. Er konnte erkennen, dass sie ihre Augenklappe nicht trug, was sie nicht unbedingt hübscher machte, doch das wirre Haar und der lange Rock verliehen ihr eine interessante Ausstrahlung. Sie hatte ihre Cowboystiefel an und trug eine verblichene Jeansjacke und einen Haufen Ketten, die im Sonnenlicht blinkten. Da fiel ihm auf, dass sie genau war wie er, anders als alle Leute um sie herum, und das gefiel ihm.
»Seth! Seth!«
Jetzt erst merkte er, dass Becca die ganze Zeit weitergesprochen hatte, und sagte zu ihr: »Ich ruf mal da an, Beck. Ich hak ein bisschen nach und seh mal, ob ich irgendwas rausfinden kann. Und dann können wir ja nach La Conner fahren. Da sehen wir uns dann um, und wenn deine Mom dort ist …«
»Nein! Es könnte ein Trick sein. Seit die Plakate überall hängen, habe ich das Gefühl, dass irgendwas passieren wird. Vielleicht hat sich ja jemand zusammengereimt, wer Laurel Armstrong ist und wer ich bin. Durch das Foto in der Zeitung. Das alte, wo ich in der fünften Klasse war.«
»Darauf erkennt man dich doch gar nicht.«
»Aber Aidan hat gesehen, dass ich mir das Foto angeschaut habe. Vielleicht hat er angerufen und die Nachricht hinterlassen. Er weiß ja, dass ich Nachforschungen über ihn angestellt habe.«
Seth sah, dass die Fähre angelegt hatte und die Passagiere jetzt ausstiegen. Er ging in die Richtung, aus der sie kommen mussten. »Wenn das so ist, dann will er dir vielleicht nur Angst einjagen«, versuchte er Becca zu beruhigen. Dann winkte er Prynne wieder zu, und diesmal sah sie ihn. Sie trug ihren Geigenkasten in der einen Hand und hob ihn zur Begrüßung. Er sagte ins Handy: »Ich muss jetzt Schluss machen, Beck. Aber wenn du willst, können wir zusammen hinfahren. Mach dir nicht zu viele Sorgen. Vielleicht war es auch eine Nachricht für Grandpa selbst oder für Parker, und Grandpa kann sich bloß nicht mehr erinnern.«
Dann legte er auf, und da stand Prynne schon vor ihm und war so … so … so typisch Prynne, dass er sie am liebsten umarmt hätte. Er merkte, dass er sich total freute, sie zu sehen.
Ihr Glasauge wirkte richtig echt. Seth war nicht darauf vorbereitet und sagte ein wenig unbeholfen: »Hey, das sieht ja aus … wie ein echtes Auge«, und kam sich dann wie ein Idiot vor.
Prynne musste lachen. »Was hast du denn gedacht, wie es aussieht? Wie ein Puppenauge? Soll ich’s mal rausnehmen?«
In einer abwehrenden Geste riss er die Arme hoch. »Nee, lass mal! Du siehst hübsch aus.«
»Stehst nicht so auf die Augenklappe, was?«, fragte sie umgänglich, während sie auf seinen VW zugingen.
»So hab ich das nicht gemeint. Die Augenklappe ist cool. Ich hab nichts gegen Augenklappen. Die sind toll. Vor allem, wenn man erfährt, dass sie echt sind, weißt du?«
Sie blieb stehen und sah ihn an. »Bist du nervös?«, fragte sie ihn geradeheraus. »Ich dachte, ich müsste nervös sein, denn ich spiele euch schließlich was vor.«
Seth zog seinen Filzhut vom Kopf, nahm ihn erst in die eine Hand und dann in die andere, und setzte ihn dann wieder auf. Dann sagte er: »Na ja. Wahrscheinlich schon. Keine Ahnung. Kommt mir vor wie das erste Date. Ich weiß auch nicht, warum. Meine Füße sind total am Kribbeln.«
»Oh. Das ist manchmal so zwischen Jungs und Mädchen. Nach dem ersten Kuss wird das besser. Du sollst nicht denken, dass ich hinter dir her bin, denn das bin ich nicht. Aber manchmal gibt’s zwischen Jungs und Mädchen so ’ne Spannung, und wenn man direkt darüber spricht und einen ordentlichen Kuss hinterher schiebt, entschärft das die Situation.«
»Puh. Ganz schön direkt.«
»Klar. Was soll man lange um den heißen Brei herumreden? Bist du bereit?«
»Ja, ich bin dabei.« Und er küsste sie sanft.
Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sorry. Ganz schön, aber das muss länger dauern und leidenschaftlicher sein, wenn du weißt, was ich meine.«
Das wusste er. Außerdem gefiel es ihm, sie zu küssen.
Dann sagte sie: »Super. Das wär erledigt. Gott sei Dank. Und wo treffe ich jetzt die restlichen Triple Threats?«
»Warum? Willst du die auch küssen?«
Da lachte sie und hakte sich bei ihm unter. »Wer weiß«, antwortete sie. »Aber ich glaub eigentlich nicht.«